48. JOHN MACBETH. BOSTON.
Wenn es einen Aspekt der Kultur gab, den man wahrlich als global bezeichnen konnte, dann war das Macbeths Meinung nach ein Flughafen. Eine Flughafenlounge war eine Flughafenlounge, wo immer man auf der Welt auch hinkam: identische Sitze, identisches Licht, identische riesige Fenster, die einen identischen Blick auf lange Start- und Landebahnen freigaben. Selbst der Kaffee war überall der gleiche. Es war, als hätte man dasselbe kleine Team aus Architekten, Innenarchitekten, Ladenausstattern und Angestellten mit verdrießlichem Gesicht rund um die Welt von einem Flughafen zum nächsten gebracht, damit sich der Ort, an dem man ankam, so wenig wie nur möglich vom Ort der Abreise unterschied. Selbst das Klima spielte keine Rolle, da die hermetisch abgeriegelten Lounges in Reykjavik geheizt und in Abu Dhabi klimatisiert wurden, bis überall genau 22,22 °C herrschten, eine Temperatur, die der Körpertemperatur nahe genug war, dass man ein wenig schwitzte und sich schlapp fühlte.
Es war definitiv keine Umgebung, in der sich Macbeth entspannte. Er hasste Flughäfen mehr als Flugzeuge, und er hasste Flugzeuge wie die Pest. Dabei hatte er nicht etwa Flugangst, sondern verabscheute das stundenlange Warten, den Stress durch Verspätungen, ausgefallene Flüge und Anschlussflüge, die leeren und häufig offen feindseligen Gesichter hinter den Check-in-Schaltern oder bei den Sicherheitskontrollen, die völlige, trostlose Seelenlosigkeit, die allem innewohnte. Es kam ihm jedes Mal wieder komisch vor, dass es an einem Ort voller Menschen derart an Menschlichkeit fehlen konnte.
Er saß in der Abfluglounge und rief seinen Bruder über Handy an, um ihm zu berichten, dass Brian Newcombe ihn erneut inständig gebeten hatte, sich dem THS-Team anzuschließen, und dass der Epidemiologe Macbeths ebenso beharrliche Absage nicht gerade gut aufgefasst hatte. »Vermutlich ist es besser, wenn du in Kopenhagen bist und mit der Sache nichts zu tun hast«, meinte Casey. »Ruf mich an, wenn du gelandet bist.«
»Es könnte spät werden …«
»Das ist mir egal. Ruf mich an. Übrigens sehe ich mir gerade deinen Laptop an …«
»Und ich habe mir den angesehen, den du mir gegeben hast«, fiel Macbeth seinem Bruder ins Wort. »Der verdammte Ordner ist wieder da.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
»Casey?«
»Der Ordner ist auf dem neuen Laptop aufgetaucht?«, fragte Casey schließlich.
»Das habe ich doch gerade gesagt …«
»Wann hast du ihn zum ersten Mal gesehen?«
»Ich rief meine E-Mails ab, und auf einmal habe ich ihn auf dem Desktop entdeckt. Ich kann ihn noch immer nicht öffnen. Ich dachte …«
»Pass auf … Ich habe mit Jimmy Mrozek gesprochen, dem IT-Typen vom MIT, von dem ich dir erzählt habe. Ich wollte ihm deinen Laptop geben, damit er ihn sich ansieht, aber der Ordner ist verschwunden. Er ist einfach weg.«
»Was?« Macbeth konnte es nicht fassen. »Soll das bedeuten, er ist wie durch Magie von einem Computer auf den nächsten gesprungen?«
»Vielleicht ist genau das passiert. Es klingt ganz so, als wäre er auf deinem neuen Laptop aufgetaucht, als du damit ins Internet gegangen bist.«
»Sehr seltsam.«
»Und es wird noch seltsamer … Jimmy, der IT-Typ, hat mir erzählt, dass es schon das zweite Mal wäre, dass ihn jemand bittet, sich einen geheimnisvollen Ordner anzusehen, der sich nicht öffnen lässt. Genau wie bei dir. Aber auch da hat er nicht die Gelegenheit bekommen, sich genauer damit zu beschäftigen.«
»Ist der Ordner ebenfalls spontan verschwunden?«
»Nein, John, der Ordner ist nicht spontan verschwunden … sondern der Computer und sein Besitzer. Der Laptop gehörte Professor Steven Gillman.«
Jetzt hatte es Macbeth die Sprache verschlagen.
»Wie gesagt …« Caseys Stimme klang angespannt und nervös. »Melde dich, sobald du sicher in deiner Wohnung angekommen bist.«
Da es keinen Direktflug vom Logan International in Boston nach Kopenhagen gab, flog Macbeth mit British Airways über London Heathrow. Er hatte das ganze Elend im Kopf bereits durchgerechnet: noch weitere eineinhalb Stunden bis zum Boarding, vorausgesetzt, dass es keine Verzögerungen gab, sechs Stunden und zwanzig Minuten bis nach London, weitere drei Stunden und zehn Minuten Wartezeit auf seinen Anschlussflug, eine Stunde und fünfundvierzig Minuten bis nach Kopenhagen. Insgesamt nicht weniger als zwölf Stunden und fünfundvierzig Minuten, ohne eingerechnete Verzögerungen, EU-Zollabfertigung und die Wartezeit am Gepäckband. Er würde den Großteil dieser Zeit die Technologie nutzen, die er normalerweise mied, um sich von seiner Umgebung abzuschotten: seinen MP3-Player, den eBook-Reader und den Laptop, sodass er ein von Kopfhörern eingeschränktes Reich errichtete, in das er sein Bewusstsein zurückziehen konnte und das ihn von seiner Umgebung ablenken konnte. Außerdem würde es auch noch den Kontakt zu anderen Passagieren verhindern.
Einige Gates von ihm entfernt kam es in der Abflughalle zu einigem Aufruhr. Eine Frau rief etwas, eine andere schrie. Macbeth stand ebenso wie einige andere wartende Passagiere auf und sah sich um. Der Tumult schien aus der Nähe der Fenster zu kommen. Das war noch ein globales Phänomen an Flughäfen: Nach dem elften September war man durch jede Unruhe am Flughafen, jeden Hinweis auf eine offizielle Reaktion, sofort alarmiert. Was immer es diesmal war, Macbeth konnte es nicht erkennen, da sich eine Traube an Reisenden um diese Stelle gebildet hatte und ihm die Sicht versperrte.
Drei Offiziere der Flugsicherheit und eine breithüftige Polizistin des BPD liefen zielstrebig an seinem Gate vorbei und auf das zu, was immer da vor sich ging. Die Menschenmenge teilte sich, um sie hindurchzulassen, und schloss sich hinter ihnen wieder. Macbeth konnte leise eine erhitzte Debatte hören, vehemente Proteste und autoritäre Stimmen. Einige der anderen Passagiere blieben stehen und sahen zu, aber Macbeth setzte sich wieder. Nach einigen Minuten kamen die uniformierten Beamten mit zwei Frauen in ihrer Mitte zurück, die um die dreißig und völlig außer sich waren.
»Aber ich sage Ihnen doch, dass wir es beide gesehen haben …«, redete eine der Frauen mit flehentlicher Stimme auf die Polizistin ein, die sie jedoch ignorierte. »Wir beide.«
Als sie an ihm vorbeigingen, bemerkte Macbeth, dass die andere Frau schwieg und ihr Blick glasig und leer wirkte, als würde sie unter Schock stehen. Alle Augen folgten der kleinen Gruppe, bis sie aus der Halle verschwunden war. Nachdem sie einander achselzuckend angesehen hatten, setzten sich die Passagiere wieder.
Macbeth erkannte, dass sich die Menschen mehr und mehr an bizarres Verhalten gewöhnten.
Ein weiterer Passagier traf ein, ein Engländer mittleren Alters in einem zerknitterten Anzug, der sich den Weg durch Beine und Handgepäck zu einem freien Platz bahnte. Als er sich gesetzt hatte, holte er sein Handy heraus, drückte auf eine Taste und begann, eine dieser unangemessen lauten und persönlichen Unterhaltungen zu führen, die so viele Menschen gern in Flughäfen zu haben schienen. Das war ein Phänomen, das Macbeth als Psychiater interessierte: die Anonymität, die einige Menschen offensichtlich inmitten von vielen Fremden spürten, als wären sie von teilnahmslosen Zombies umgeben. Der Engländer hatte diesen nasalen Akzent, der immer jammernd klang, und Macbeth versuchte, seine Worte auszublenden, während sich der Mann bei seiner Frau darüber beklagte, dass er einen späteren Flug nehmen musste.
Doch obwohl er es gar nicht wollte, merkte Macbeth, wie er den letzten Teil der Unterhaltung des Engländers belauschte.
»Ich glaube, ich habe gerade einen dieser seltsamen Zwischenfälle gesehen, von denen wir gelesen haben … Ja, so eine Halluzination. Genau, hier am Flughafen, vor wenigen Minuten … Diese beiden Frauen … tja, die sind völlig durchgedreht. Es fing damit an, dass sich eine von ihnen beim Bodenpersonal beschwerte, weil niemand den Passagieren mitgeteilt hatte, dass ihr Flug aufgrund des Nebels erst später starten konnte. ›Welcher Nebel?‹, hat die Frau von der Fluggesellschaft gefragt. ›Was soll das heißen, welcher Nebel?‹, hat die andere gebrüllt. ›Sehen Sie doch aus dem Fenster‹, meinten dann beide Frauen. ›Dieser Nebel!‹ Aber ich kann dir versichern, dass es hier hell und sonnig ist, kein Wölkchen am Himmel. Doch diese beiden Verrückten riefen immer wieder was von Bodennebel, der sich wie ein Teppich über die Startbahnen gelegt hätte, und sie haben behauptet, dass man nicht einmal zwei Meter weit sehen konnte, wenn man auf dem Boden steht … Was? … Ja, ich weiß … Nein, das waren Amerikanerinnen. Jedenfalls war die Sache damit noch nicht zu Ende. Eine von ihnen fing dann an, wie verrückt zu schreien. Danach auch die andere. Völlig hysterisch. Sie sagten, sie hätten beide gerade einen Flugzeugabsturz gesehen, und natürlich regen sich sofort auch alle anderen Passagiere auf … Was? Natürlich gab es keinen … Sie reden immer wieder von diesem Flugzeug, das gerade beim Landeanflug abgestürzt wäre. Niemand sonst kann dieses Flugzeug sehen Aber die werden immer lauter und schreien, dass das Flugzeug im Nebel abgestürzt wäre … Sie sagten, sie hätten es über dem Nebel gesehen, und dann wäre es hineingeflogen und über der Landebahn in Richtung Meer explodiert. Völlig verrückt. Bis dahin waren auch alle anderen in heller Aufregung und haben versucht, zu entdecken, wovon die beiden reden, aber da gibt es nichts zu sehen – keinen Nebel, keinen Flugzeugabsturz, gar nichts. Niemand kann irgendetwas erkennen … Nein, ich denke mir das nicht aus … Das war wirklich sehr seltsam. Jedenfalls waren die beiden Frauen so aufgebracht und haben so laut geschrien, dass man sie schließlich verhaftete … Ja, ich weiß …«
Das Gespräch wandte sich persönlichen Angelegenheiten zu, ging aber trotzdem noch so laut weiter, dass es jeder in Hörweite verstehen konnte, und Macbeth blendete es aus. Er dachte an das, was die beiden verstörten Frauen angeblich gesehen hatte, und eine Erinnerung stieg in ihm auf. Eine Erinnerung aus seiner frühesten Kindheit. Es war Ende Juli 1973. Er hatte im Haus seiner Großeltern vor dem Fernseher gesessen, als die Nachrichten anfingen: schwummrige Bilder von Trümmern, die jenseits der Landebahn im Meer schwammen, während eine Nebelbank noch immer unheilvoll küstennah im Hafen von Boston zu sehen war.
Ein echtes Ereignis aus der Vergangenheit. Wiederholt in einer Halluzination, ganz wie Brian Newcombe gesagt hatte.
Er blickte auf die Uhr, dann in die Richtung, in die die beiden Frauen mit ihren offiziellen Begleitern verschwunden waren, und schließlich auf die Anzeigetafel über dem Gate.
Seufzend holte er sein Handy heraus und rief Newcombe an.