17. FABIAN. FRIESLAND.

In diesem Teil der Welt gab es mehr Himmel als Landschaft. Der Himmel dominierte alles, drückte sich auf das Land und das Meer, die zu bloßen Bändern am Rand des gewaltigen Banners des Himmels degradiert wurden. Da war die flache blaue See, der flache blasse Strand mit einigen welligen Dünen, im flachen grünen Land dahinter lagen verstreut mehrere kleine Hügel, die eher durch unterschiedliche Farbgebung als ihre Höhe auffielen.

Ein schmaler Junge, der vierzehn Jahre alt war, aber oft für zwölf gehalten wurde, ging über den Strand, dessen Farbe zu seinem Haar und den vielen Sommersprossen auf seinen Wangen und der Nase passte. Er trug ein ausgeblichenes Sweatshirt und Jeans und ging barfuß, die Turnschuhe in der Hand.

Der Junge, dessen Name Fabian Bartelma lautete, lief langsam, und seine Schritte waren schwer von den Tausenden von Ängsten, die mit dem Ende der Kindheit einhergingen. Sein Blick fiel manchmal auf das Meer, dann wieder auf seine Füße und den Sand, der zwischen den nackten Zehen hervordrang. Es war Samstagmorgen. Fabian verbrachte die Samstage häufig am Strand oder radelte am Deich entlang. Er erlebte eine traditionelle Kindheit. Traditionell, aber einsam, da kein anderer in seinem Alter diese Traditionen noch pflegte. Fabian verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, zu lesen, spazieren zu gehen oder Rad zu fahren, und zeigte nicht das geringste Interesse daran, Computerspiele zu spielen, weder alleine noch mit seinen Freunden. Wenn er sich doch einmal daran versuchte, wurde Fabian übel und er bekam Kopfschmerzen – obwohl er Ähnliches in einem Auto oder Flugzeug nie erlebte. Er hatte seine Eltern nie wegen eines Handys oder MP3-Players angefleht und nie auch nur das geringste Interesse an den anderen Utensilien gezeigt, die für andere Jugendliche im 21. Jahrhundert so wichtig zu sein schienen. Und das hatte nach und nach, aber unausweichlich dazu geführt, dass Fabian und seine Altersgenossen sich immer weiter entfremdeten.

Seine Eltern hatten ihm zum zwölften Geburtstag einen Computer geschenkt, den er zwar benutzte, aber nur, um Hausaufgaben zu machen und etwas nachzuschlagen. Selbst dann griff er noch lieber zu Büchern. Er war, wie sich seine Eltern hatten eingestehen müssen, in die falsche Zeit hineingeboren worden. Ein Mensch, der mit dem Zeitalter, in dem er lebte, nicht viel anfangen konnte. Sein Zimmer zu Hause war überfüllt mit Büchern über Geschichte: Atlanten über Feldzüge, Lexika mit den Zitaten berühmter Personen, Bände über die großen Zivilisationen der Antike, das Leben der Cäsaren, die Evolution der Menschheit. Für Fabian war die Geschichte kein Studienfach, sondern ein Ort, an dem man einfach verschwinden konnte, um zu forschen und Neues zu entdecken. Ein Ort, an dem man leben konnte.

Fabian hatte das Gefühl, dass dieser Strand ihm gehörte. Er wusste, dass sich die Küste im Laufe der Zeit verändert hatte, dass das Meer am Land zog und zerrte, es erodierte und den Sand im Laufe der Jahrhunderte umgeschichtet hatte, aber es gefiel ihm hier, weil es, abgesehen vom Leuchtturm, der seit einem Jahrhundert oder länger dort stand, eine nicht markierte Gegend war, eine unberührte Landschaft. Niemand sonst schien hierher zu kommen, und er konnte stundenlang am Strand entlanggehen oder dort sitzen, um sich in eine andere Zeit zu träumen. Wäre es nicht schön, dachte er, wenn man wirklich in die Vergangenheit reisen könnte? Wenn man dort wie in den Urlaub fahren könnte, als würde man ein Flugzeug nach Spanien nehmen?

Der Strand lag gebogen wie die breite Klinge einer Sense um die Bucht, und Fabian konnte sehen, wo die Landspitze nicht in das Meer hineinragte, sondern vielmehr darin verschwand, wobei die rot-weiße Spindel des Leuchtturms den einzigen deutlich erkennbaren Hinweis auf ihr Ende darstellte. Es war eine leere, aber keine verlassene Landschaft, und Fabian stellte sich oft vor, er wäre der einzige noch lebende Mensch auf dem Planeten. Dass die Welt allein ihm gehörte. Dabei war ihm allerdings nicht ganz klar, warum ihn dieser Gedanke gleichzeitig mit Melancholie und Trost erfüllte. Er trat etwas Sand in die Luft, bevor er sich plötzlich mit dem Gesicht zum Meer auf den Sand setzte und die Augen zukniff, um gegen das Sonnenlicht zu einer Schäfchenwolke hinaufzusehen, die über den klaren blauen Himmel glitt. Er streckte die Arme aus und bohrte die Finger tief in den Sand, als müsse er sich an der Welt festhalten. Dann schloss er die Augen und lauschte dem Klang der Wellen.

Ein seltsames Gefühl.

Es war wie ein Déjà-vu. Etwas Ähnliches, das aber anders und tiefer war. Ein fester Stoß in die Rippen riss ihn aus seinen Gedanken, und er blickte auf, wobei er die Augen vor der Sonne abschirmte, als er zu dem Schatten über sich hinaufblickte. Henkje Maartens, der dickhalsige Gauner, der die Schule mit seiner Bande aus Neandertalern im Griff hatte, stand vor ihm. Maartens mit seiner Tyrannenintuition für jeden, der anders war, hatte Fabian auserkoren, um ihm seine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

»Hier versteckst du dich also, was?«, schnaubte Maartens.

Fabian stand auf, wischte sich den Sand von der Jeans und sah in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Maartens war alleine. Wenigstens etwas.

»Was willst du?«, fragte Fabian und ging um Maartens herum, sodass dieser nun anstelle von Fabian in Richtung der Sonne sehen musste.

»Ich hab dich gesehen und bin dir gefolgt«, sagte Maartens. »Ich hab mir gedacht: ›Wollen wir doch mal sehen, was dieser Irre in seiner Freizeit so macht.‹ Warum bist du hergekommen? Weil es hier so schön ruhig ist, was?« Maartens drückte die Zunge seitlich gegen die Wange, schielte und machte eine Geste, als masturbiere er.

Fabian war klar, dass er im Kampf gegen den viel größeren und schwerer gebauten Maartens keine Chance hatte. Aber hier war niemand, der das Ganze mit ansehen konnte. Daher hatte er vor, ordentlich auf Maartens Gesicht einzuprügeln, bevor er selbst zu Brei geschlagen wurde. Das wäre ein klares Zeichen an andere, dass man den Preis dafür bezahlen musste, wenn man sich mit ihm anlegte.

»Ist es das, Arschgeige? Kommst du deshalb …«

Der Aufprall tat Fabians Faust weh. Maartens Zähne gaben ein grässliches, knirschendes Geräusch von sich, und der Rowdy taumelte nach hinten, schockiert und noch immer die Sonne in den Augen. Fabian schlug ihn noch einmal, dieses Mal gegen die Nase. Daran, wie Maartens nach hinten taumelte, erkannte er, dass sein zweiter Schlag nicht so heftig gewesen war wie sein erster, doch schon schlug ihn Fabian wieder und immer wieder. Maartens taumelte und fiel auf den Rücken, und Fabian kniete sich auf seine Brust und bearbeitete sein Gesicht mit den Fäusten. Ein dunkler Impuls, den er nicht kontrollieren konnte, trieb ihn an, und er fühlte sich immer ekstatischer. Ihm wurde klar, dass er es genoss. Etwas Tiefes, Dunkles und Uraltes hatte sich in ihm geregt, etwas aus einer Geschichte, von der er bis dato nicht einmal gewusst hatte, dass sie in ihm steckte.

Als er erkannte, dass Maartens ihn, sobald er nur wieder halbwegs bei Verstand war, einfach abschütteln und das Blatt umdrehen konnte, da Fabian deutlich weniger wog, sprang er von ihm herunter. Als sich Maartens aufrappeln wollte, trat ihm Fabian ins Gesicht. Schockiert stellte Fabian fest, dass er sich den Tritt gut überlegt und genau platziert hatte: Er richtete den größtmöglichen Schaden an, ohne dass er sich dabei den Fuß verletzte. Erneut trat er Maartens, dieses Mal gegen den Mund. Er konnte sehen, dass der größere Junge jetzt völlig benommen war und sein Gesicht blutüberströmt. Fabian packte ihn an seinem Kapuzenpulli und drehte ihn herum, sodass er mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand lag. Dann packte er eine Handvoll von Maartens Haaren und drückte seinen Kopf nach unten. Er beugte sich vor und flüsterte dem Rowdy etwas ins Ohr.

»Wenn du mir je, jemals wieder folgen solltest, du oder einer deiner Kumpel, dann bringe ich dich ins Krankenhaus. Und in der Schule will ich keine blöden Bemerkungen mehr von euch hören, oder ich warte, bis ich dich das nächste Mal alleine erwische. Hast du verstanden?«

Maartens sagte etwas mit einer flehentlichen, vom Sand halb erstickten Stimme, und Fabian stand auf und entfernte sich von ihm, wobei er bereit war, jederzeit erneut zuzuschlagen, falls der größere Junge eine falsche Bewegung machte. Doch er konnte erkennen, dass der Kampfgeist in Maartens erloschen war, falls er überhaupt je welchen besessen hatte. Wie die meisten Mobber war Maartens ein Feigling. Er weinte, und sein Gesicht war eine schmierige Masse aus Sand, Tränen und Blut.

»Hast du das verstanden?«, brüllte ihn Fabian an und machte bedrohlich einen Schritt nach vorn.

Maartens nickte schnell, bevor er den Schwanz einzog und über den Strand davonlief. Fabian sah ihm nach, wie er wegrannte, und dann blickte er auf seine Hände herab: Die Haut war gerötet und geschwollen, die Haut an einem Knöchel war aufgerissen und blutete. Er zitterte.

Wo war das denn hergekommen? Wo hatte sich dieser furchtbare Zorn nur in ihm versteckt? Er sank zurück auf den Sand und saß mit auf die Knie gestützten Ellenbogen da, während er die Hände locker hielt und seine Finger noch immer zitterten.

Ihm war ein wenig übel und schwindlig, und sein Herz klopfte schnell in seiner Brust. Auf einmal fiel ihm wieder ein, was er direkt vor Maartens Auftauchen gespürt hatte. Es war wie ein Déjà-vu gewesen, nur stärker und tiefer.

Fabian schloss die Augen, ließ sich auf den Sand sinken, sah erneut zum Himmel hinauf und bohrte die Finger tief in den Sand. Er schloss die Augen. Der Schmerz in seiner Hand verging schneller, als er geglaubt hatte, und die Übelkeit und das panische Gefühl in seiner Brust verschwanden ebenso schnell wieder.

Da wurde er durch einen Stoß gegen die Rippen aus seinen Gedanken gerissen. Er setzte sich auf und schirmte seine Augen vor der Sonne ab, als er zu dem Schatten über sich hinaufblickte.

»Hier versteckst du dich also, was?«, schnaubte Maartens. Er hatte keine Wunden, kein Blut, keine Verletzungen im Gesicht.

Fabian stand auf und wischte sich den Sand von der Jeans. Er blickte auf seine eigenen Hände hinab, die plötzlich wieder geheilt waren: keine Rötung, keine Schwellung, keine Risse. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Aber es leuchtete völlig ein. In diesem Moment wusste Fabian, dass er sich inmitten seiner eigenen Geschichte befand.

Er ballte die Hände zu Fäusten und stürzte sich mit einem unmenschlichen Schrei auf Maartens.