28. FABIAN. FRIESLAND.
Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass ihn niemand sehen konnte, blieb Fabian in Deckung und schlich um die Siedlung herum, indem er sich weiterhin im hohen Gras versteckte. Das Déjà-vu-Gefühl war verschwunden, aber dieser Ort und diese Zeit blieben bestehen. Alles um ihn herum und seine Erfahrung der Welt war völlig verrückt geworden, aber Fabian wusste, dass er nicht den Verstand verloren hatte. Vielleicht war es aber auch genau so, wenn man verrückt war: Man glaubte, alle anderen wären verrückt, nur man selbst nicht.
Fabian konnte das Dorf und den Platz in der Mitte deutlich sehen. Die Frau war in die Siedlung zurückgekehrt, und der leere Ledereimer schwang an ihrem schlanken Arm wie eine Glocke an ihrem Seil. Einige Männer hatten sich auf dem Platz versammelt, und sie trugen Kleidung, die Fabian nicht einordnen konnte. Er tippte auf das frühe Mittelalter, aber das war keine feine Kleidung, keine Seide und kein feines Leinen, sondern robust gewebte Wollstoffe mit einfachem Muster. Die Männer trugen Hemden mit V-Ausschnitt, um die sie ein Seil als Gürtel geschlungen hatten, sowie formlose Hosen, die an den Schienbeinen enger wurden und durch gekreuzte Bänder aus Tierhaut festgehalten wurden. Diese Kleidungsstücke passten in jede Zeit vom Ende der Steinzeit bis zum Mittelalter. Sie waren praktisch und bequem, wie sie die Freibauern zu tragen pflegten. Diese Menschen waren Bauern.
Einer der Männer, der etwas jünger war als die anderen und ein senffarbenes Hemd trug, entfernte sich von der Gruppe und ging zu der Frau, die Fabian als Erstes aufgefallen war. Sie unterhielten sich einige Minuten, und Fabian beobachtete sie, wobei er sich gleichzeitig distanziert und involviert fühlte. Da die Frau ihr Haar am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden hatte, wusste Fabian, dass sie verheiratet war, und er erkannte auch, dass sie eigentlich keine Zeit für den jungen Mann hatte. Es kam Fabian so vor, als hätte er ihre ganze Geschichte vor sich und müsse sie nur noch lesen. Doch dann schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Er hatte anhand der Art, wie die Frau ihr Haar trug, gewusst, dass sie verheiratet war – aber woher wusste er das? Hatte er es irgendwo gelesen und wieder vergessen? Warum schien Fabian, ein Fremder in dieser Zeit, instinktiv so viel darüber zu wissen? Warum kam ihm dieses Erlebnis sehr viel realer vor als die vierzehn Jahre, die er in der anderen Realität verbracht hatte?
Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als ein langbärtiger, mit Speer und Schild bewaffneter Mann von Mitte dreißig ins Dorf kam. Fabian begriff, dass der ältere Mann – er war der Älteste, den er bisher gesehen hatte – aus der Richtung gekommen war, in der die Landzunge lag. Er ging auf den jungen Mann zu, der mit der Frau geplaudert hatte, und begann, ihn lautstark zurechtzuweisen. Es kam Fabian merkwürdig vor, dass er eine Sprache hörte, die er noch nie zuvor gehört hatte und die doch von vielen Worten durchsetzt war, die wie das Friesisch klangen, das er und seine Familie sprachen. Der jüngere Mann entschuldigte sich und senkte den Kopf, und der ältere hielt ihm Schild und Speer hin und deutete zur Landzunge. Der junge Mann in dem senffarbenen Hemd ging mit beschämtem Gesicht los. Einige der anderen Männer riefen ihm amüsiert etwas hinterher.
Fabian lief hinter ihm her zur Landzunge und versuchte gar nicht mehr, sich zu verstecken, da ihn diese Menschen ganz offensichtlich nicht sehen konnten. Der junge Mann wirkte so niedergeschlagen, dass Fabian nicht anders konnte, als ihm in die Einsamkeit zu folgen. Sie hatten das Ende der Landzunge jetzt fast erreicht und standen an der Stelle, an der sich eigentlich der Leuchtturm befinden sollte. Der junge Mann stand mit dem Speer in der Hand da und starrte auf das ruhige, flache Meer hinaus. Nun begriff Fabian, warum er Schelte bekommen hatte: Anscheinend war er nicht rechtzeitig zu der ihm zugewiesenen Wache aufgetaucht. Aber wonach hielten sie hier Ausschau?
Der junge Mann legte den Schild und die Lanze auf den Boden und setzte sich im Schneidersitz hin, um die Unterarme auf die Knie zu stützen. Die Pose wirkte entspannt, aber Fabian bemerkte, dass er weiter zum leeren Horizont hinübersah. Wie immer die Gefahr auch aussehen mochte, sie war real genug, dass der junge Drückeberger aufmerksam blieb.
Das konnte sich nicht alles in seinem Kopf abspielen. Fabian musste einfach hier sein, in dieser Welt, in dieser Zeit, und das seit fünfundvierzig Minuten. Keine Wahnvorstellung, Fantasie oder Täuschung des Geistes konnte so lange andauern. Panik stieg in seiner Brust auf, als er überlegte, ob er möglicherweise hier festsaß; wobei ihm nicht die Vorstellung, in dieser Zeit gefangen zu sein, Sorgen machte, sondern die Einsamkeit, wenn er unsichtbar und immateriell ein halbes Leben als Phantom führen musste. Abrupt stand er auf. Er musste sich beruhigen. Vielleicht träumte er ja auch nur: Vielleicht war er an den Felsen gelehnt eingeschlafen und hatte alles geträumt, was seitdem passiert war. Wenn das alles ein Traum war, dann war es jedoch einer, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte – lebendiger, überzeugender und klarer als sein Leben im Wachzustand.
Er beschloss, zu dem jungen Mann hinüberzugehen und ihn an der Schulter zu berühren, ihn zu schubsen und zu sehen, ob er reagierte. Doch bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, sprang der Mann auf und ließ Speer und Schild auf dem Gras liegen. Er schirmte seine Augen mit der flachen Hand vor der Helligkeit des gewaltigen Himmels ab und starrte über das Wasser zu einem fernen, fixen Punkt hinüber. Fabian sah in dieselbe Richtung, konnte aber nur ein undeutliches Schimmern von Wasser und Sonne erkennen, das die Linie zwischen Meer und Himmel verwischte. Erneut drehte er sich zu dem jungen Mann um, nur um zu sehen, wie sich dieser noch weiter verspannte. Was immer er vorher zu sehen geglaubt hatte, jetzt war er sich ganz sicher. Noch einmal sah auch Fabian in die Richtung, konnte jedoch nichts erkennen. Er ahmte die Haltung des anderen nach und schirmte seine Augen vor dem hellen Licht ab. Jetzt sah er sie: drei undeutliche, verschwommene Flecken am Horizont. Was immer das auch war, es hielt auf die Landzunge zu und umschiffte das Wattenmeer.
Schiffe. Aber Schiffe ohne Segel, die tief im Wasser lagen.
Der Wachdienst schiebende junge Mann drehte sich auf dem Absatz um und lief auf das Dorf zu, als sei ihm der Teufel persönlich auf den Fersen. Und er schrie. Verzweifelt schrie er immer wieder ein Wort. Es entstammte einer seit Langem toten Sprache, doch Fabian konnte dieses Wort trotzdem klar und deutlich verstehen. Ein einziges Wort aus einer vergessenen Zeit, ein Wort, das über die Generationen weitergegeben worden war, eineinhalb Jahrtausende durch die Geschichte, und noch immer vermochte es, einem Angst einzujagen.
Das Adrenalin schoss durch Fabians Adern. Jetzt wusste er, warum er hier war: Er sollte zusehen. Er lief nicht hinter dem jungen Mann zum Dorf, sondern blieb auf der Landzunge stehen und beobachtete, wie die drei Flecken näher kamen, Gestalt annahmen und besser zu erkennen waren.
Gelenkartige Masten, die bis jetzt außer Sicht gewesen waren, damit die Schiffe vom Land aus schwerer zu erkennen wären, wurden auf einmal aufgerichtet und riesige eckige Segel gehisst, eines auf jedem Schiff. Wie die Beine riesiger Meereskäfer ragten sodann Ruder aus jeder Seite und tauchten ins Wasser, während die drei Schiffe Fahrt aufnahmen und gnadenlos durch die Wellen auf die Landzunge zuhielten.
Fabian stand da und hatte das Gefühl, jede Zelle seines Körpers stünde unter Strom. Zwei Dinge fielen ihm gleichzeitig auf: der riesige schwarze Rabe, der auf die rote Scheibe des Segels über dem ersten Langschiff gemalt worden war, und die Rufe des rennenden Wachpostens, der erneut seine Warnung ausstieß, die nur aus einem Wort bestand.
Wikinger.
Er hatte keine Angst. Fabian fühlte sich nicht so distanziert von dem, was geschah, wie es ihm bei den Ereignissen in seinem Alltag immer ging. Er war aufgeregt. Außerdem hatte er keinen Grund zu der Annahme, dass die näher kommenden Wikinger ihn, anders als die Dorfbewohner hier, würden sehen können.
Fabian wusste, dass er jetzt in einer Welt und in einer Zeit stand, in der jede Sicherheit, mit der er aufgewachsen war, jede Verhaltensregel und jede Zurückhaltung kein Gewicht mehr hatten.
Die Schiffe waren wunderschön: schlank, elegant, in Klinkerbauweise aus Eiche angefertigt, jedes etwa zwanzig Meter lang, und sie schienen auf Fabian zuzugleiten, als berührten sie kaum die Wasseroberfläche. Der schwarze Rabe Odins sah von dem aufgeblähten Segel des ersten Langschiffs auf ihn herab. Es wurde von Rudern angetrieben, die wie synchrone Kolben arbeiteten, nur dass dies hier lange Zeit vor der Erfindung eines Kolbens geschah. Das Schiff glitt an der Stelle vorbei, an der er auf der Landzunge stand. Er konnte die runden Schilde sehen, die entlang der Ruderbänke aufgestellt waren, glänzende Helme mit Visieren, die von den Kriegern getragen wurden. Es waren vierzig oder fünfzig Männer.
Das zweite Langschiff glitt an ihm vorbei. Wie beim ersten stand ein Mann am Bug, hielt sich am schlanken, gebogenen, drachenköpfigen Vorschiff fest und beugte sich vor, um die Wassertiefe zu überprüfen und sein Schiff in das flache Wasser neben der Landzunge zu steuern. Fabian, der zahllose Bücher über diese nordischen Plünderer gelesen hatte, wusste, dass sie mit den an Bug und Heck identischen Schiffen bis an den Strand fuhren. So konnte man einfach wieder mit ihnen aufs Meer hinausrudern, ohne sie erst drehen zu müssen. Er lief an der Landzunge entlang und blieb auf der Höhe des letzten Schiffes, wobei er den Wikingern winkte und ihnen etwas zurief, die ihn weder sehen noch hören konnten.
Obwohl er gerannt war, erreichte Fabian den Strand erst, als die Wikinger das erste Schiff gerade verließen. Er hatte erwartet, dass sie einen Schlachtruf ausstoßen würden, doch sie schlichen leise und flink an Land und wussten offenbar nicht, dass sie entdeckt worden waren und das Überraschungsmoment verloren hatten. Innerhalb weniger Minuten waren einhundertundfünfzig Männer gelandet. Schwertklingen, Speerspitzen und Schildknäufe glänzten scharfkantig in der Sonne. Fabian fiel auf, wie klar und deutlich alles aussah; viel besser als im normalen Leben. Es war fast so, als wäre sein Sehvermögen – wenn nicht gar all seine Sinne – geschärft worden oder als hätte jemand ein Foto der Realität verbessert, die Auflösung gesteigert, die Farben intensiviert, den Kontrast und die Schärfe erhöht. Er war überrascht, als er bemerkte, dass die Wikinger keine Wilden mit zerzausten Haaren waren, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Stattdessen wirkten sie ordentlich, hatten die Bärte gestutzt und gekämmt, und ihre Helme und Panzerhemden waren auf Hochglanz poliert.
Bis auf eine Gruppe.
Zwanzig oder fünfundzwanzig Wikinger vom ersten Schiff standen ein wenig abseits von ihren Kameraden, und Fabian spürte sofort, dass an diesen Männern etwas seltsam war. Sie wirkten anders und sehr gefährlich. Am auffälligsten war, dass sie andere Kleidung trugen. Wo die anderen Männer Panzerhemden oder gewebte Wämser anhatten, ließen diese muskulösen Männer die Arme nackt und bedeckten den Torso nur mit Westen aus dickem, braun-schwarzem Fell. Einige trugen nicht einmal Helme, sondern die konservierten Köpfe von Bären oder Wölfen auf dem Kopf und hatten sich deren Pelze um die Schultern geworfen. Alle hatten ihre Gesichter geschwärzt, vermutlich mit Asche oder Ruß, und die Masken aus dunkler Haut und den helleren Zähnen in den gebleckten Mündern, aus denen rote Zungen herausschossen, und das Weiß in ihren wild umherblickenden Augen wirkten furchterregend. Verrückt.
Fabian bemerkte, dass diese Männer auch heftiger gezeichnet waren als ihre Kameraden. Ihre nackten Arme waren mit hässlichen Narben schlecht verheilter Verletzungen bedeckt, von denen einige älter waren, andere noch immer wund und rot aussahen. Auch ihre Gesichter waren unter der dunklen Farbe von Schwertern gezeichnet und vom Kampf verformt. Einem Krieger fehlte der Großteil der linken Gesichtshälfte, durch die ein tiefer Spalt von der Augenbraue über die Wange verlief, als hätte ihn dort eine Axt getroffen, und nur ein weißes Auge blickte in Kampftrance aus der Maske aus schwarzem Ruß hervor.
Für Fabian sahen diese Männer so aus, als würden sie einer anderen Spezies angehören und nichts mit ihren Schiffskameraden gemeinsam haben. Sie wirkten unmenschlich. Sie unterschieden sich von den anderen auch darin, dass sie nicht leise waren, sondern seltsame Geräusche von sich gaben: ein Grunzen und Stöhnen, als hätten sie Schmerzen oder wären frustriert, weil sie eingesperrt waren. Sie klangen wie Tiere. Fabian bemerkte, dass die anderen Wikinger darauf achteten, Abstand zu diesen Männern zu halten und ein Stück hinter ihnen zu bleiben. Mit jeder Sekunde schienen sie aufgeregter und ruheloser zu werden, und Fabian fiel jetzt auf, dass sie alle einen Lederbeutel an Riemen um den nackten Hals hängen hatten. Hin und wieder nutzte einer von ihnen die Fingerspitzen, um etwas grün-grauen Brei aus dem Beutel zu holen und sich in den Mund zu stecken. Einer von ihnen fiel auf den Boden, trommelte mit den Fäusten darauf herum und stieß mit zusammengebissenen Zähnen einen spitzen Schrei aus. Sein Anfall schien den Schwachsinn seiner Gefährten nur noch zu steigern, die daraufhin lauter knurrten und stöhnten. Fabian sah, wie sich derjenige dieser Männer, der ihm am nächsten stand, das Messer in den Mund schob und darauf biss, sodass das Blut in seinen von Asche geschwärzten Bart rann, wobei er einen irren Blick in den aufgerissenen Augen hatte.
Die Anspannung in Fabians Brust wuchs weiter. Er wusste, wer diese Männer waren – falls man sie denn Männer nennen konnte – und was sie waren. Er kannte den Grund dafür, dass ihre Kameraden hinter ihnen zurückblieben: Man hielt eine tödliche Waffe am Griff und nicht an der Klinge fest. Das waren Furien, die bald losgelassen wurden. Sie waren die Schildbeißer, die Dämonenkrieger. Das grobe Fell, das sie auf der nackten Haut trugen, hatte ihnen ihren Namen gegeben, denn das Hemd aus Bärenhaut hieß in ihrer eigenen Sprache Ber Serkr.
Das waren die Berserker. Und sie würden gleich zum Angriff übergehen.
Aus irgendeinem Grund, den er nicht benennen konnte, spürte Fabian dieselbe schmerzhafte, unerträgliche Ungeduld, den großen Druck in seinem Inneren, der herausgelassen werden wollte, und er stieß einen heulenden Schrei aus, der das Knurren der Berserker noch übertönte. Als er den Berserker sah, der ihm am nächsten stand, machte er den Mund jedoch schnell wieder zu, denn der Mann, der noch immer seine Klinge zwischen den zusammengebissenen, blutigen Zähnen eingeklemmt hatte, drehte sich zu ihm um. Er sah Fabian direkt an, blickte ihm mit seinen wilden, verrückten Augen ins Gesicht.
Er konnte ihn sehen.
Fabian erstarrte. Das Gesicht des Berserkers verlor für einen Augenblick diesen unfokussierten, verrückten Ausdruck, und er neigte den Kopf zur Seite, sodass blutiger Speichel an der schrägen Klinge des Messers in seinem Mund entlanglief. Es sah aus, als würde er versuchen zu begreifen, was er da sah. Sofort war auch Fabians Euphorie verschwunden und wurde durch nackte, echte Angst ersetzt. Er befürchtete, jetzt und hier sterben zu müssen, an einem Ort und in einer Zeit, in die er nicht gehörte.
Auf einmal brüllten die anderen Berserker gleichzeitig auf. Der Wikinger wandte den Blick von Fabian ab und drehte sich in die Richtung um, in der das Dorf hinter dem Meer aus hohem Gras lag. Zweihundert Meter weiter hatten sich die Männer des Dorfes versammelt. Es waren etwa fünfzig, und sie hatten eine Reihe aus knienden Speerkämpfern gebildet, hinter denen die Bogenschützen Aufstellung bezogen hatten. Sie gaben sich die größte Mühe, entschlossen auszusehen, aber Fabian wusste, dass er fünfzig tote Männer vor sich hatte, und er ging davon aus, dass ihnen das ebenfalls klar war. Er drehte sich zur selben Zeit wieder zu dem Berserker um, als dieser auch ihn ansah. Der Krieger runzelte die Stirn und schaute zu der Stelle hinüber, an der Fabian stand, aber dieses Mal stellte er keinen Blickkontakt her. Es war offensichtlich, dass er den Jungen aus einer anderen Zeit nicht mehr sehen konnte.
Der Krieger mit dem geschwärzten Gesicht wandte sich ab und fiel wieder in seine Kampftrance, um mit seinen Kameraden zu einer wogenden, zuckenden Masse voller gewalttätiger Entschlossenheit zu verschmelzen. Sie brüllten, schrien, jaulten und zischten die Verteidiger des Dorfes an. Ihre Schreie wurden zunehmend unmenschlicher, und jede verstreichende Sekunde schien sie den Tieren ähnlicher werden zu lassen, deren Fell sie trugen. Einer der Berserker zog seine Hose zur Seite, um eine Erektion freizulegen und sie in Richtung des Feindes zu schwenken, und ein zweiter tat es ihm nach. Die anderen stampften und zuckten, und die Menge der mit Fell bekleideten Krieger krümmte sich, als fahre etwas gleichzeitig durch sie hindurch.
Einer der Wikinger, ein gut aussehender blonder Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein musste und dessen Kleidung, Helm und Arme ihn als Häuptling kennzeichneten, ging schnell nach vorn, stellte sich vor die Berserker und machte eine zurückhaltende Geste mit den Armen. Fabian vermutete, dass er der einzige Krieger war, der die Raserei der Berserker – zumindest vorübergehend – kontrollieren konnte. Die Bogenschützen des Dorfes feuerten einen verzweifelten Pfeilhagel ab, der in einiger Entfernung vor ihren Zielen zu Boden fiel. Der Wikingerhäuptling sah seine Chance zum Angriff gekommen, da sie erst neue Pfeile einlegen mussten. Er brüllte einen Befehl und deutete mit dem Schwert in Richtung der Dorfbewohner.
Es war, als würde eine große Welle aus konzentrierter Feindseligkeit und Gewalt freigesetzt werden. Als sie vorstürmten, schrien die Berserker wie verrückt, und einige stolperten, weil sie derart begierig darauf waren, zu töten und zu sterben.
Fabian vergaß seine Angst und wurde erneut von der Aufregung und der tiefen, animalischen Spannung mitgerissen. Alles an diesem Teil von sich, den er zu hassen geglaubt hatte, bewirkte auf einmal, dass er sich lebendiger fühlte als jemals zuvor. Bis auf den Tag, an dem er Henkje Maartens brutal verprügelt hatte, wurde ihm auf einmal bewusst. Aber dann war da kein Platz und keine Zeit mehr für diesen schon aus seinem Kopf verschwindenden Gedanken. Die Berserker rannten laut brüllend und spitze Schreie ausstoßend los.
Ein zweiter Trupp aus etwa zwanzig Wikingern folgte den Berserkern, und diese breitschultrigen Männer hielten keine Schwerter oder Schilde in den Händen, sondern schwere, doppelköpfige Äxte. Im Vergleich zu dem brodelnden Wahnsinn der Angreifer vor ihnen wirkten diese Krieger diszipliniert und geordnet, wie sie in gleichmäßigen Reihen vorwärtsliefen und die Äxte auf den Schultern balancierten. Während die Berserker schreiend auf die Angreifer zustürmten, hielten die Axtkämpfer ein ruhiges, gleichmäßiges Tempo ein, sodass die Lücke zwischen ihnen und den Berserkern größer wurde.
Fabian lief, so schnell er konnte, den Berserkern hinterher. Er konnte sie riechen. Sie rochen eher wie Tiere als Menschen, und etwas Dunkles und Urtümliches mischte sich in diesen Geruch. Ein zweiter Pfeilhagel sauste durch die Luft und regnete auf die Angreifer herab, wobei viele Pfeile ihr Ziel trafen, die meisten jedoch danebengingen. Die verwundeten Berserker stürzten nicht zu Boden, sie wurden nicht einmal langsamer. Einige packten die Pfeile und zogen sie aus ihrem Körper, wobei sie sich durch die Widerhaken an den Pfeilspitzen ganze Fleischstücke herausrissen, andere schienen die Pfeile nicht einmal zu spüren und rannten einfach weiter.
Das war nicht nur das Brutalste, das Fabian je gesehen hatte, das war noch eintausend Mal brutaler als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Die Berserker rannten direkt zwischen die Reihen der Verteidiger, rammten sie und bewirkten, dass einige vor Angst schreiend wegliefen. Jene, die zurückblieben, hatten dem unmenschlichen Gemetzel nichts entgegenzusetzen. Alle Berserker wirkten wie besessen, fast schon dämonisch. Schwerterklingen blitzten kurz auf, bevor sie mit Blut befleckt waren, und jeder Berserker stach in seiner blutrünstigen Raserei schnell und wiederholt auf seinen Gegner ein, rammte Schwert oder Messer in den Körper vor ihm, selbst nachdem längst offensichtlich war, dass sein Opfer nicht mehr lebte. Viele der Berserker waren selbst schwer verwundet, hatten tiefe Fleischwunden oder blutige Hälse davongetragen, aber selbst auf der Schwelle des Todes stehend mähten sie ihre Gegner noch nieder, schlugen auf sie ein, zerfetzten sie mit bloßen Händen, bissen in ihre Hälse und Gesichter und rissen ihren Opfern das Fleisch mit den Zähnen heraus. Die Luft stank metallisch nach Blut, und Fabian stand fasziniert darüber da. Wie schrecklich und bestialisch die Berserker waren – und wie großartig.
Sobald sie genug getötet hatten, um durch die Reihen der Dorfbewohner durchbrechen zu können, griffen die Berserker das Dorf an. Die Verteidiger waren bereits auf die Hälfte dezimiert und versuchten, sich neu zu gruppieren, aber jetzt hatten die Axtkämpfer sie erreicht. Fabian sah sich den Kampf an und war fast schon hypnotisiert vom Rhythmus der Äxte. Im Vergleich zu den Berserkern hatten die Attacken der Axtkämpfer etwas nahezu Mechanisches an sich. Wieder lief es ganz und gar nicht so ab, wie sich Fabian den Angriff der Wikinger vorgestellt hatte: Die gleichmäßig verteilten Axtkämpfer hatten ihre Äxte von den Schultern genommen und schwangen sie schon lange, bevor sie ihre Gegner erreichten, mit einer ruhigen, gleichmäßigen, achtförmigen Bewegung seitwärts. Dabei blieb keine Lücke zwischen den geschwungenen Äxten, und als sie die letzten Verteidiger erreichten, mähten sie sie nieder wie bei der Kornernte. Auch jetzt hatten diese so gut wie keine Chance, sich zu verteidigen: Die schweren, zweischneidigen Äxte schnitten durch die Luft und durchtrennten Fleisch und Knochen gleichermaßen problemlos und leicht.
Die den Axtkämpfern folgenden Wikinger liefen mit Schwert und Schild in der Hand einfach weiter, überholten ihre Kameraden und folgten den Berserkern ins Dorf. Fabian lief ebenfalls weiter, und etwas Dunkles brannte in seinem Blut. Er erreichte die ersten Leichen: Die zweite Verteidigungslinie der Dorfbewohner hatte dasselbe Schicksal erlitten wie die erste. Ein Haufen auseinandergerissener Leichen und mehrerer einzelner Gliedmaßen markierte die Stelle, an der sie rasch überwältigt worden waren. Fabian sah eine Leiche, deren Gesicht durch einen Speer oder ein Schwert so verletzt worden war, dass man es nicht mehr erkennen konnte, aber er identifizierte den jungen Mann, der auf der Landzunge Wache gehalten hatte, an seinem blutigen senffarbenen Hemd.
In der Nähe des Dorfes lagen weitere Leichen, darunter auch Frauen und Kinder, von denen einige offensichtlich versucht hatten, sich in Sicherheit zu bringen, aber niedergemäht worden waren. Ihre Rücken waren aufgeschlitzt und ihre Hinterköpfe zertrümmert.
Die junge Frau, die er kurz nach seiner Ankunft am Dorf gesehen hatte, lag in der Nähe der Hütte, aus der sie zuvor herausgekommen war. Sie lag auf dem Rücken, und ihre glasigen blauen Augen starrten zum wolkenlosen blauen Himmel hinauf. Man hatte ihr den Rock bis über die Taille hochgezogen, sodass ihre weißen Oberschenkel entblößt waren, und ihre blassen Brüste schimmerten unter der aufgerissenen Tunika mit dem sorgfältig bestickten Brokatkragen. Eine überraschend blutarme Schwertwunde direkt unter ihrem Brustbein kennzeichnete die Stelle, wo ein Berserker ihr das Leben genommen hatte. Fabian blickte auf die grausame und armselige Stätte ihres Todes herab und war erstaunt, dass ihr Leid ihm nicht näher ging.
Als er das Dorf erreichte, sah er, dass die Berserker sogar noch wilder geworden waren. Jetzt töteten sie alles und jeden, den sie fanden. Kinder lagen erschlagen neben dem Vieh, und einige Berserker fielen über Frauen her und vergewaltigten sie auf der nackten Erde des Dorfplatzes, wobei sie wie Tiere brüllten. Als die anderen Wikinger mit dem Häuptling an ihrer Spitze das Dorf erreichten, versuchten sie, den Berserkern so gut es ihnen möglich war, Einhalt zu gebieten, und scheuchten die restlichen Frauen und Kinder in eine Ecke des Platzes. Kurzzeitig hatte Fabian geglaubt, sie würden das aus Mitgefühl tun, doch er merkte schnell, dass er sich da geirrt hatte, als ein etwa elfjähriger Junge einen Ausbruchsversuch machte. Einer der Wikinger erwischte ihn und zog ihm das Schwert über die Kehle. Tief schnitt die Klinge in den Hals des Jungen, sodass er leblos zu Boden fiel und als Warnung für andere diente, die ebenfalls Fluchtgedanken hegten. Auf Fabian wirkte der kalte, ruhige Mord weitaus beunruhigender als die verrückte Raserei der Berserker, und ihm wurde klar, dass die Wikinger diese Frauen und Kinder nicht etwa aus Menschlichkeit retteten, sondern weil sie von Wert waren: Sie stellten ihre Beute dar und waren Sklaven, die verkauft oder behalten wurden.
Es war vorbei.
Die Berserker versammelten sich auf dem Dorfplatz. Alle hatten weiterhin weit aufgerissene, wilde Augen, keuchten und waren ruhelos, selbst wenn sie schwer verwundet waren, aber sie wirkten so distanziert von ihren Körpern, als würden sie gar nicht wahrnehmen, dass sie starben.
Fabian hatte seine Antwort. Jetzt wusste er, warum er hierher gebracht worden war und das mit ansehen konnte. Er begriff jetzt, woher die Gewalt gekommen war, mit der er sich auf Henkje Maartens gestürzt hatte. Was immer im Blut dieser Männer floss, es war auch in seinem vorhanden.
Wieder überkam ihn dieses seltsame Gefühl. Die Welt schien sich zu verändern, und der Himmel wechselte ebenso die Farbe wie die Luft ihre Zusammensetzung. Fabian war desorientiert, ihm wurde schwindlig, er war verloren in Zeit und Raum.
Alles war fort. Das Dorf, die Wikinger, die Leichen, der metallische Geruch von Blut in der Luft. Fabian musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass der Deich hinter ihm ebenso wieder da war wie der Leuchtturm, der an der Stelle stand, an der ein seit eintausend Jahren toter junger Mann in einem senffarbenen Hemd einmal Ausschau nach Langschiffen gehalten hatte.
Als er sich umdrehte, sah er, dass der Mann, der an der Küste mit seinem Hund Gassi gegangen war, die Stelle erreichte, an der Fabian mit dem Rücken an den Felsen gelehnt saß.
Er war ein alter Mann in einer Zeit, in der alt zu sein bedeutete, über sechzig und nicht Ende dreißig zu sein. Sein weißes Haar wurde von der Meeresbrise zerzaust. In den Augen, mit denen er Fabian anstarrte, spiegelte sich seine Panik wider.
»Hast du es gesehen?«, fragte er Fabian mit zitternder, erschrockener Stimme; der Stimme eines verängstigten Kindes, obwohl er ein alter Mann war. »Hast du es auch gesehen?«