62. JOHN MACBETH. KOPENHAGEN.
Die Vision war vorüber, aber die Welt blieb verrückt.
Gillman sagte Macbeth, er solle Mora mitnehmen.
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich bin unwichtig. Mir wird schon nichts passieren. Ich werde irgendwo untertauchen. Aber Sie müssen Projekt Eins abschalten, begreifen Sie das jetzt?«
Macbeth nickte, allerdings mehr, um Gillman zu beruhigen, als aus Überzeugung. Sie ließen den amerikanischen Wissenschaftler alleine im Diamanten zurück, umgeben vom Licht des wiederhergestellten Kopenhagen.
Das war doch alles völlig verrückt.
Macbeth und Mora gingen zu ihrem auf dem Parkplatz stehenden Wagen, während die unnatürlich hohe Schwerkraft noch immer an ihnen zerrte, vielleicht sogar noch stärker als zuvor. Bei seiner Ankunft war es ruhig in der Stadt gewesen, aber jetzt konnte er an mehreren Stellen Sirenen und die eindeutigen Geräusche hysterischer Menschen hören: Gruppen von Leuten, die in die Nacht hinaus schrien, weinten und kreischten.
»Glaubst du, das war überall?«, fragte er Mora. »Ich meine, nicht nur hier in Kopenhagen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Vielleicht war es nur hier, weil Projekt Eins hier ist. Vielleicht war es auch überall. Möglicherweise stehen wir kurz vor dem Zusammenbruch und die ganze Welt hat dasselbe wie wir erlebt. Steig ein. Ich geh ans Steuer …«
Sie fuhr einen kleinen europäischen Wagen, und Macbeth fühlte sich darin eingeengt. Er gestattete sich, einfach alles geschehen zu lassen, und beschloss, später über das nachzudenken, was passiert war. Doch er würde nichts tun, solange er nicht alles durchdacht hatte. In der Zwischenzeit wurde er durch Straßen voller panischer, halb verrückter Menschen gefahren. Entlang der Vesterbrogade standen dunkelblaue Polizeimannschaftswagen, und Macbeth konnte Dutzende von Polizisten erkennen, die versuchten, die Leute zu beruhigen und zu besänftigen. Als Mora in eine Seitenstraße einbog, sahen sie, dass es zu einem Volksaufruhr gekommen war, bei dem Autos umgeworfen und in Brand gesteckt worden waren. Mit überraschender Geschicklichkeit legte Mora den Rückwärtsgang ein und fuhr schnurgerade die Straße entlang, bis sie die Kreuzung erreicht hatten, wo sie den Wagen gekonnt herumriss.
Er hörte sie leise etwas murmeln, während sie den Blick nicht von der Straße abwandte.
In der Reventlowsgade waren weder Menschen noch Autos zu sehen, und Mora hielt neben dem Seiteneingang des Bahnhofs. Auf dieser Seite des Backsteingebäudes sah es schlicht und unverziert aus und besaß die nackte, institutionelle Funktionalität eines Gefängnisses.
»Ich zeige dir das Schließfach«, sagte sie. »Wir müssen uns beeilen. Ich glaube nicht, dass wir uns noch lange in der Innenstadt aufhalten sollten …«
Es war niemand zu sehen, als Mora Macbeth zu den Schließfächern führte. Als sie das richtige gefunden hatten, steckte Macbeth den Schlüssel ins Schloss, aber bevor er das Schließfach öffnete, lehnte er die Stirn gegen den kalten Stahl der Tür.
»Das ist verrückt, Melissa …«, sagte er.
»Melissa?«
Er drehte sich zu ihr um und glaubte einen Moment lang, ein anderes Gesicht zu sehen. »Entschuldige«, meinte er dann. »Ich habe nur …«
»Wir haben keine Zeit, John. Wir müssen los.«
Er öffnete das Schließfach und nahm einen kleinen Rucksack heraus. Er rutschte ihm aus der Hand, und er fing ihn gerade noch am Riemen auf, bevor er zu Boden fallen konnte. Macbeth sah an Moras Gesichtsausdruck, dass der Rucksack das enthielt, was er vermutete. Er öffnete ihn und sah hinein. Vier Blöcke aus etwas, das er für Plastiksprengstoff hielt, und eine Box mit Zündern. Außerdem eine Pistole.
»Das ist verrückt«, wiederholte er. »Das ist völlig verrückt.«
»Wir müssen los, John.«
Er machte den Rucksack wieder zu und warf ihn sich über die Schulter.
Als sie zum Ausgang kamen, sah Macbeth einen Mann im dunklen Anzug, der neben Moras Wagen stand und durch das Fenster auf der Fahrerseite hineinsah. Macbeth erkannte ihn sofort und verschwand rasch wieder im Gebäude, wobei er Mora mit sich zog.
»Bundy …«
»Was?«
»Der FBI-Mann, der hinter Gillman her ist. Er muss dir gefolgt sein. Vielleicht haben sie Gillman schon.«
Sie liefen zur anderen Seite. Die Tür war verschlossen, gab jedoch nach, als Macbeth dagegentrat. Auf der anderen Seite war eine Treppe, die zum Bahnsteig führte.
Sie standen einen Moment lang unentschlossen da und überlegten, wie sie weiter vorgehen sollten. Macbeth schaute sich im Bahnhof um. Er war völlig verlassen bis auf ein junges Paar, das am Rand des Bahnsteigs stand, einander umarmte, sich küsste und das Chaos um sich herum völlig ausgeblendet zu haben schien. Der Mann sah die Frau an, sagte zärtlich etwas zu ihr und strich ihr übers Haar. Macbeth fühlte sich auf seltsame Weise beruhigt durch diese kleine Andeutung von Normalität.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Mora.
»Wir fahren in meine Wohnung.« Er sah die Gleise entlang und entdeckte einen Güterzug, der sich mit voller Geschwindigkeit näherte und hier offenbar nicht halten würde. Noch ein kleines Stück Normalität.
»Ich muss über das alles nachdenken«, sagte Macbeth. »Was ist, wenn wir uns irren? Was ist, wenn Gillman einen Fehler gemacht hat?«
Er ging zurück und zog Mora sanft mit sich, als der Güterzug näher kam.
Es geschah fast schon beiläufig. Der junge Mann küsste das Mädchen auf die Stirn, und dann traten sie beide vom Bahnsteig auf die Gleise und vor den herannahenden Zug. Macbeth sah und hörte keinen Aufprall, das Paar verschwand einfach. Er hörte Mora aufkeuchen, legte die Arme um sie und drückte ihr Gesicht an seine Brust.
Der Zug blieb nicht stehen und wurde auch nicht langsamer, sondern donnerte einfach vorbei.
»Lass uns gehen«, sagte er.
Sie liefen zur Treppe, von der aus sie Moras Wagen sehen konnten. Bundy war nicht mehr da, vermutlich suchte er im Bahnhof nach ihnen. Doch dann sah Macbeth ihn kurz im Kellereingang auftauchen, um die Reventlowsgade in beide Richtungen entlangzuschauen und wieder im Schatten zu verschwinden.
»Er wartet darauf, dass wir zurück zum Wagen gehen«, erkannte Macbeth. Er griff in den Rucksack und nahm die Pistole heraus. Sie war schwer, dunkel und sah in seiner Hand hässlich und fehl am Platz aus.
»Ich habe so ein Ding noch nie in der Hand gehabt«, meinte er bedrückt. »Ich habe keine Ahnung, wie man es benutzt.«
»Wir müssen zurück zum Wagen«, drängte ihn Mora.
Macbeth nickte und ging die Treppe hinunter und an der Seite des Gebäudes entlang, wobei er sich dicht an der Wand hielt, um nicht gesehen zu werden. Als sie sich dem Eingang näherten, gab Mora Macbeth ein Zeichen. Sie trat hinaus und auf den Wagen zu. Der FBI-Mann tauchte aus seinem Versteck auf und griff Mora an, sodass Macbeth die Gelegenheit bekam, sich hinter ihn zu bewegen. Kurz überlegte er, ob er dem Mann mit dem Knauf der Waffe in den Nacken schlagen sollte, damit er das Bewusstsein verlor, wie er es so oft in Filmen gesehen hatte. Aber als Arzt und Neurowissenschaftler wusste Macbeth, wie schwer es im wirklichen Leben war, jemanden mit einem Schlag auf den Kopf oder in den Nacken auszuschalten, ohne schwere neurologische Schäden zu bewirken. Also drückte er Bundy die Mündung der Waffe gegen den Hinterkopf.
»Langsam umdrehen«, sagte er. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann, oder ich schieße.«
Bundy tat, was ihm gesagt worden war, aber als er sich zu Macbeth umdrehte, zeichnete sich in seinem Gesicht die aufgestaute Aggression ab. Erneut fiel Macbeth die seltsame Intensität in den zweifarbigen Augen auf.
»Aus dem Weg«, befahl Macbeth. »Das ist mein Ernst, Bundy.« Der Agent machte einen Schritt zur Seite.
Mora hatte es schon in den Wagen geschafft und den Motor angelassen.
»Haben Sie es nicht gesehen?«, fragte Bundy. »Haben Sie den Zorn des Herrn nicht mit eigenen Augen gesehen? Sie und Ihresgleichen haben das über uns gebracht. Das ist die Entrückung … Das ist das Jüngste Gericht.«
»Wie auch immer …, murmelte Macbeth und ging auf den Wagen zu. Auf einmal stürzte Bundy vor und griff nach der Waffe in Macbeths Hand.
Es war nur ein Reflex. Macbeth verspannte die Finger um die Waffe, dann knallte es und Mündungsfeuer blitzte auf. Er hatte nicht gewusst, dass die Waffe entsichert gewesen war oder wo sich der Sicherungshebel überhaupt befand. Als er Bundys Brust ansah, entdeckte er einen blutroten Fleck, dann sah er dem FBI-Mann in die Augen.
»Sie haben uns alle umgebracht«, sagte Bundy und sank auf die Knie, als das Licht in seinen seltsamen, heterochromatischen Augen erlosch.
Als sie in seiner Wohnung ankamen, goss Mora Macbeth einen Scotch ein, den er schnell herunterstürzte, um ihr das Glas gleich noch einmal zu reichen, damit sie nachschenken konnte. Er wusste, dass das nicht gut war: Er stand unter Schock und sollte keinen Alkohol trinken. Aber er hatte gerade einen Mann getötet, da war es nicht länger wichtig, das Richtige zu tun.
Sie saßen eine gute Stunde lang auf dem Sofa und schauten sich die Nachrichten im Fernsehen an. Das Ereignis, wie es genannt wurde, war auf dem ganzen Globus zu spüren gewesen, von jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind auf dem Planeten. In Echtzeit hatte es weniger als eine Sekunde gedauert, doch alle Befragten glaubten, es mehrere Minuten lang gefühlt zu haben. Die Auswirkungen des Ereignisses sorgten für noch größere Besorgnis und hatten bereits mehrere Tausend Menschen das Leben gekostet. In jeder größeren Stadt auf der Welt war es zu Aufständen gekommen. Der Mittlere Osten brannte, als Fundamentalisten, angestachelt von religiösem Wahn, zu den Waffen griffen. In den Vereinigten Staaten hatte Präsidentin Yates den Notstand ausgerufen.
»Wie konnte es nur so weit kommen?«, fragte er Mora flehendlich. »Warum sind alle verrückt geworden? Ich muss zur Polizei gehen … und mich stellen.«
»In der normalen Welt müsstest du das tun«, erwiderte Mora. »Aber es gibt keine normale Welt mehr. Du weißt, was du jetzt zu tun hast.«
»Weiß ich das?«
Sie ging zu dem kleinen Tisch vor dem Fenster, durch das man auf den Larsens Plads hinaussehen konnte, hob Macbeths Laptop auf und reichte ihm den Rechner. Wie er es schon unzählige Male in den letzten achtzehn Monaten getan hatte, klickte Macbeth den auf dem Desktop platzierten Phantomordner an, der ihn wie immer zu verspotten schien.
Er ging auf.