60. JOHN MACBETH. KOPENHAGEN.

Der Diamant war eine architektonische Vorahnung. So wie einige Gebäude entworfen werden, um an die Vergangenheit zu erinnern, hatte man den Diamanten als Vorgeschmack auf die Zukunft geschaffen, in der Hoffnung, deren Form vielleicht ein wenig mitzugestalten.

Während jedes vorangegangene Jahrhundert auf Stein gebaut hatte, wurde das einundzwanzigste Jahrhundert aus Polymeren, Glas und Stahl gebildet. Macbeth war bekannt, dass ständig neue Materialien entwickelt wurden, die leichter und robuster waren und so neue architektonische Fantasien ermöglichten. In Kopenhagen mit seinen größtenteils niedrigen Gebäuden waren die Architekten nicht dem kapitalistischen Phallusdenken wie in London, New York oder Frankfurt verfallen, sondern hatten sich dem Umweltschutz, der Moderne und einer Kultur, die auf gesellschaftliche Fortschritte baute, verschrieben. Hier waren die neuesten Entwicklungen zum Einsatz gekommen: mit Palladium verstärktes Superglas, dessen zusätzliche Plastizität es so hart wie Stahl machte. Glas war nicht länger ein Medium des Lichts, sondern ein Baumaterial. Der Diamant schien rundum aus Glas zu bestehen – er war ein Gebäude, in das man hineinsehen, aus dem man herausschauen und durch das man hindurchgucken konnte.

Wie der Name vermuten ließ, hatte es die Form eines facettenreichen Edelsteins. Schräge Wände bewirkten, dass die Grundfläche des Erdgeschosses kleiner war als die des obersten Stockwerkes. Dank des mit Palladium verstärkten Glases hatten die Architekten das oberste Stockwerk des Diamanten mit nur einem Ziel im Hinterkopf entworfen: Es sollte atemberaubend sein. Auf dieser Etage befanden sich ein Restaurant, ein Nachtklub und die Cocktailbar, in der Macbeth jetzt stand. Die Fahrstühle waren in der Mitte des Gebäudes angebracht, sodass der Aufzug von so viel Glas umgeben war, wie nur irgend möglich. Der Gedanke dahinter war, dass der Besucher sich, wo immer er auch stand, fühlen sollte, als würde er am Himmel schweben, während er auf ganz Kopenhagen herabsehen konnte. Selbst die Beleuchtung und die Spiegelung der äußeren Glaswände waren so angelegt, dass die Wirkung nicht durch die Spiegelbilder der Gäste verwässert wurde.

Macbeth wäre von dem Gebäude und der Aussicht beeindruckt gewesen, hätte er sich nicht so distanziert und ermattet gefühlt wie jeder andere. Aber dieser Diamant hatte nichtsdestotrotz etwas an sich, das an den Rändern seines Erinnerungsvermögens zupfte. Er meinte, sich daran erinnern zu können, vor langer Zeit ein Buch über ein Gebäude gelesen zu haben, das wie ein Diamant geformt sein sollte. In diesem Haus erlebte jeder dieselbe Szene aus seinem Leben wieder und wieder – oder hatten die Leute in Gebäuden aus Glas in einer Kristallstadt gelebt, in der jeder jeden beobachten konnte? Er versuchte, sich daran zu erinnern, aber seine Gedanken waren einfach zu schwer, sodass er es schließlich aufgab.

Die Bar und das Restaurant, in denen man normalerweise lange im Voraus reservieren musste, waren so gut wie leer, und selbst der simulierten Bonhomie der Barkeeper mit ihren schwarzen Hemden fehlte es heute an ihrer erzwungenen Überschwänglichkeit. Nichtssagender skandinavischer Jazz plätscherte im Hintergrund, schien die Verlassenheit der Umgebung jedoch nur noch zu betonen.

»Wir schließen heute früher«, erklärte ihm einer der Barkeeper gelangweilt, als er Macbeth einen Whiskey eingoss, wobei er die Flasche mit beiden Händen festhalten musste, um nichts zu verschütten. »Alle Vorbestellungen für das Restaurant wurden abgesagt.«

Macbeth nickte. »Ich treffe mich hier mit jemandem. Es wird nicht lange dauern.«

»Wir schließen in einer Stunde«, informierte ihn der Barkeeper und wandte sich ab.

So langsam wünschte sich Macbeth, dass Mora nicht den Diamanten als Treffpunkt vorgeschlagen hätte. Das Gefühl, über der Stadt zu schweben, war bei der als gesteigert empfundenen Schwerkraft alles andere als angenehm.

Als einziger Gast in der Bar konnte sich Macbeth einen Tisch aussuchen, und er ließ sich auf eine Ledercouch sinken. Die einzigen Objekte in diesem Gebäude, die nicht ganz durchsichtig waren, stellten die Fußböden und die Möbelstücke dar, und rings um ihn herum glitzerte Kopenhagen, als hätte sich nichts auf der Welt verändert. Das einzige Anzeichen dafür, dass irgendetwas nicht stimmte, war die Tatsache, dass man keine Autoscheinwerfer sehen konnte, die wie Glühwürmchen in der Ferne leuchteten. Alle Menschen auf der Welt hatten offensichtlich beschlossen, zu Hause zu bleiben.

Alles war völlig durcheinander. Aber Macbeth wusste nicht, wie viel von diesem Durcheinander sich in der Welt um ihn herum und wie viel sich in seinem Kopf befand. Er wollte nur noch schlafen und sich der erhöhten Schwerkraft hingeben, die ihm die Augenlider nach unten zog. Vielleicht kommen sie ja nicht, dachte er voller Hoffnung. Dann kann ich nach Hause gehen und schlafen.

Durch drei Glasschichten sah er sie aus dem Fahrstuhl steigen. Mora winkte träge, und er konnte den Mann sehen, der sie begleitete. Als Ackerman von ihrem »Freund« gesprochen hatte, war Macbeth davon ausgegangen, dass er jünger und etwa in ihrem Alter wäre, aber der Mann an Mora Ackermans Seite war älter, etwa um die fünfzig, und trug lässige, aber teure Kleidung.

»Hallo, John«, begrüßte ihn Mora, als sie zu Macbeth in die Cocktailbar kamen. »Das ist der Freund, von dem ich Ihnen erzählt habe.«

Macbeth stemmte sich aus der Ledercouch hoch.

»Hallo«, sagte der Mann auf Englisch, als sie sich die Hand schüttelten. Er lächelte, sah aber sorgenvoll aus. Er wirkte wie jemand, der schon seit sehr langer Zeit Sorgen hatte.

»Sie sind Amerikaner?«, fragte Macbeth.

»Ja, Dr. Macbeth. Ich bin Amerikaner. Mein Name ist Steven Gillman.«

Der Name riss Macbeth aus seiner Erschöpfung. »Gillman? Sie sind Professor Gillman?«

»Ja. Ich habe mit Gabriel Rees zusammengearbeitet … und ich kannte Ihren Bruder Casey. Mein aufrichtiges Beileid.«

»Danke …«, erwiderte Macbeth mit verhärteter Stimme. »Casey ist tot, aber Sie sind es ganz offensichtlich nicht. Falls Sie wirklich derjenige sind, der Sie zu sein behaupten.«

»Das lässt sich sehr leicht überprüfen. Mein Bild steht auf der Webseite der Universität und des Modellprojekts.« Er machte eine Pause. »Tatsächlich war es sogar in allen Nachrichten. Und ja, ich lebe, obwohl so gut wie jeder glaubt, ich wäre tot. Aber es gibt einen guten Grund dafür. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setze?«

»Aber die Bombenanschläge …«, meinte Macbeth, als sie sich setzten.

»Ich hatte gerade das Labor verlassen, befand mich aber noch im Gebäude«, erklärte Gillman. »Ich war auf dem Weg zum Eingang, als die Bomben explodierten. Ich hatte mich bei den Sicherheitsleuten noch nicht abgemeldet, und alle gingen davon aus, dass ich mich noch im Labor aufhalten würde. Sobald ich die Explosionen hörte, wusste ich, was passiert war, und bin während der ganzen Aufregung nach draußen gehuscht. Ich war froh, dass der Blinde Glaube davon ausging, ich sei bei dem Anschlag ums Leben gekommen – denn die Zerstörung des Gillman-Quantenmodellprojekts wäre nutzlos, wenn sie den Gillman, der dafür verantwortlich war, nicht auch ausschalteten.«

»Woher weiß ich, dass Sie die Bomben nicht selbst gelegt haben, durch die all diese Menschen gestorben sind? Wenn das, was mir Mora erzählt hat, stimmt und Blackwell jeden der beim Prometheus-Symposium Anwesenden ermordet hat, woher weiß ich dann, dass Sie nicht dasselbe mit Ihrem eigenen Team gemacht haben? Schließlich war Ihr Modellprojekt ein wichtiger Bestandteil der Prometheus-Antwort … Und nun wollen sie beide mich davon überzeugen, das Kopenhagener Projekt zu zerstören.«

»Das ist alles wahr«, entgegnete Mora Ackerman, »aber wir versuchen hier, Leben zu retten, und nicht, welche zu nehmen. Hat die britische Polizei bestätigt, was ich Ihnen erzählt habe?«

»Nein. Doch sie hat es auch nicht abgestritten.«

»Hören Sie mir gut zu, John«, sagte Gillman. »Was immer Sie auch befürchten, so kann ich Ihnen versichern, dass ich ein Mann der Wissenschaft bin. Die Vernunft ist mir wichtiger als alles andere, und ich weiß, dass es Ihnen ebenso geht. Die religiösen Verrückten, die meine Kollegen ermordet haben und die meiner Vermutung nach Professor Blackwell mit dem Sprengstoff versorgten, den er benötigte, um Ihren Bruder und all die anderen zu töten … glauben Sie mir, sie würden sofort versuchen, mich umzubringen, wenn sie wüssten, dass ich noch am Leben bin und wo sie mich finden können.«

»Warum sind Sie nicht zu den Behörden gegangen? Man hätte Sie schützen können.«

»Sie sind nicht so naiv, Dr. Macbeth, das wirklich zu glauben. Sie wissen so gut wie ich, dass keine terroristische Organisation isoliert existiert. Alle haben politische Flügel und Kollaborateure in einflussreichen Positionen. Im Fall des Blinden Glaubens reicht die Geschichte des religiösen Fundamentalismus zurück bis in die Gründungszeit der Vereinigten Staaten. Sie haben Aktivisten, Sympathisanten, Freunde und Mitläufer auf hohen Posten. Einige behaupten, sogar auf dem höchsten Posten: unsere geliebte Präsidentin höchstpersönlich. Wenn ich mich den Behörden ausliefere, wie lange würde ich Ihrer Meinung nach überleben?«

»Aber Sie sind doch selbst auch Teil einer Randgruppe, oder nicht?«, hakte Macbeth nach. »Ich hatte gedacht, Dr. Ackerman und Sie wären beide Simulisten.«

»Nein. Zumindest nicht mehr«, erwiderte Gillman. »Aber wir teilen viele ihrer Überzeugungen. Doch bevor Sie voreilige Schlüsse ziehen, kann ich Ihnen versichern, dass die ersten Simulisten nichts Religiöses an sich hatten. Das waren alles Wissenschaftler, Technologen und Wissenschaftsphilosophen.«

»Wenn dem so ist und Sie nichts mit den Bombenanschlägen auf das MIT zu tun haben, warum ist dann ein FBI-Agent namens Bundy hinter Ihnen her, der Nachforschungen über die Simulisten anstellt?«

»Bundy arbeitet nicht für das FBI«, stellte Gillman klar. »Er ist Präsidentin Yates direkt unterstellt, und er ist hier, um dafür zu sorgen, dass ich genau so ende wie Ihr Kollege Professor Josh Hoberman. Wenn Sie wirklich nach jemandem mit einer Verbindung zu einem Kult suchen, dann sollten Sie sich Ihren Freund mit den seltsamen Augen und seine Arbeitgeberin, Präsidentin Yates, mal genauer ansehen – und ihre Verbindung zum Blinden Glauben. Und nicht mich und die Simulisten.«

»Wenn die Simulisten kein Kult sind«, entgegnete Macbeth, »warum benehmen sich die Mitglieder dann so, als gehörten sie einem Kult an? Warum all diese Massenselbstmorde und esoterischen Slogans?«

»Wie Sie bald herausfinden werden, hat die Wissenschaft eine sehr spirituelle Wendung genommen … spirituell, aber nicht religiös oder abergläubisch. Ihre Freundin Melissa Collins war ebenso Simulistin wie ihre Kollegen und Gabriel Rees. Wie bei allen Überzeugungen, seien sie religiös, politisch oder wissenschaftlich, gibt es immer Menschen, die sich darin verlieren. Die das Ufer aus dem Auge verlieren, wenn Sie so wollen.«

Macbeth dachte an Melissa, und wie unvorstellbar es ihm erschienen war, dass sie sich in einem Glaubenssystem verloren haben sollte. »Und was genau glauben sie?«

»Die Simulisten sind im Grunde genommen extreme Transhumanisten«, erklärte Mora Ackerman. »Sie glauben, dass der Mensch nur zwei mögliche Zukunftsoptionen hat: eine gewaltige evolutionäre Veränderung oder die Ausrottung. Der Auslöser für beides wird die technologische Singularität sein, wenn künstliche Intelligenz und Technologie die natürliche Intelligenz und die Fähigkeiten der Menschen übertrumpfen. Wie ich es schon über die Jungpaläolithische Revolution ausgeführt habe, sind wir meiner Meinung nach auch jetzt dabei, eine Art Sprung in eine neurologische Evolution zu machen. Ich denke, dass wir im Verlauf des letzten Jahrhunderts immer klüger geworden sind und einen großen Schritt in Richtung Singularität gemacht haben. Die Transhumanisten glauben, wir müssten die nächste Stufe unserer Evolution mithilfe der Wissenschaft, der Kybernetik, der Genetik und der Neurotechnologie, in Angriff nehmen, um uns zu verbessern. Die Simulisten gehen noch einen Schritt weiter: Sie denken, dass wir uns hin zu einer anderen Realität entwickeln sollten.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen …«, sagte Macbeth.

»Wir sind auf die Physik des Universums angewiesen, in dem wir leben, was wir mit unseren Körpern und mit unserem Geist auch tun«, stellte Gillman fest. »Die Simulisten glauben, dass wir unser eigenes Universum erschaffen sollten – einen stabilen, unveränderlichen, zeitlosen Raum, den wir besetzen können, ohne Gefahr zu laufen, von den Kräften der Natur ausgelöscht zu werden.«

»Sie glauben, sie könnten sich in eine Computersimulation hochladen?« Macbeth lachte.

»Einfach ausgedrückt ja. Aber anders als alles, was wir uns im Moment vorstellen können. Buckminster Fuller hat das Konzept der Ephemerisierung erfunden, das auf der Idee beruht, dass wir immer mehr mit immer weniger tun können. Sie müssen sich nur die heutigen Computer und Handys ansehen und sie mit jenen von vor zwanzig Jahren vergleichen, um zu erkennen, dass er recht hatte. Neue superleitende Materialien wie Graphen und die neuen Femtotechnologien lassen vermuten, dass wir uns noch nicht einmal ansatzweise vorstellen können, welche Technologien in zwanzig Jahren verfügbar sein werden. Theoretisch lässt sich die Ephemerisierung daraufhin ableiten, dass wir praktisch alles mit praktisch nichts erreichen können. Für unsere jetzigen Augen würde eine derartige Technologie magisch und gottesgleich aussehen.«

»Clarkes Drittes Gesetz …«, murmelte Macbeth eher zu sich selbst als zu Gillman.

»Genau. Und genau das glauben die Simulisten: dass sie eines Tages in der Lage sein werden, immer komplexere Simulationen mit immer weniger bauen zu können. Vielleicht sogar auf Basis reiner Energie. Sie denken, es sei unser Schicksal als Spezies, zu Göttern zu werden.«

»Verstehe …«, meinte Macbeth. »Aber das ist doch völliger Blödsinn.

»Vielleicht«, erwiderte Gillman. »Aber Henry Blackwell hat mich eines Nachts angerufen und mir erzählt, dass er einen kompletten ersten Durchlauf des Prometheus-Projekts geschafft habe und dass wir die Arbeit sofort einstellen müssten. Er war völlig aufgelöst und vermutlich auch angetrunken. Er wiederholte immer wieder, dass die Simulisten die ganze Zeit recht gehabt hätten.«

»In welcher Hinsicht?«

»Das habe ich nicht aus ihm rausbekommen. Ich war sehr besorgt, daher rief ich ihn am nächsten Tag an, doch da war er völlig ruhig und behauptete, er hätte am Vortag einfach nur zu lange gearbeitet. Ich hätte ihm beinahe geglaubt, bis er andeutete, dass es vielleicht keine schlechte Idee wäre, wenn wir die Programme für eine Weile einstellen würden, da es noch einige Fehler gäbe, die er ausbügeln müsse. Das war Unsinn, und ich habe ihn gleich durchschaut. Aber ich beschloss, eine Weile mitzuspielen. In der Zwischenzeit habe ich meine Bemühungen am Quantenmodellprogramm verdoppelt und es ans Laufen gebracht. Dann erkannte ich es ebenfalls – oder zumindest jenen letzten Teil, den Blackwell im vollen Programm gesehen haben musste.«

»Was denn?«

»Das hier …« Gillman schwenkte eine Hand durch die Luft. »All das, was mit uns passiert. In meiner Simulation hatte das Universum den Punkt erreicht, an dem wir jetzt sind, und begann damit, sich auf Quantenebene zu zersetzen. Die Zeit wurde verdreht und zusammengeführt, sie faltete sich um sich selbst. Die Vergangenheit und die Gegenwart überlagerten sich, Ereignisse nahmen zwei Stellen zur gleichen Zeit ein und besetzten doch keine davon. Das ist es, was wir jetzt sehen. Von dieser Art sind unsere Halluzinationen.«

»Aber warum?« Macbeth runzelte die Stirn.

»Wegen der Simulationen. Blackwells, meine und jetzt Ihre neuromorphische Simulation. Es ist, als wenn irgendein physikalisches Gesetz realitätsnahe Simulationen verbietet – so als würde das Universum nicht zulassen, dass innerhalb seiner andere Universen erschaffen werden. Die Ursache und der Effekt sind klar. Als das Prometheus-Programm und mein Modellprogramm zerstört wurden, hörten die Visionen auf. Wegen Ihres Kopenhagener Projekts haben sie erneut angefangen. Ich vermute, dass Ihnen in den letzten Tagen eine Art Durchbruch gelungen ist?«

Macbeth überlegte sich seine Antwort gut. »Projekt Eins ist sich seiner selbst bewusst geworden.«

»Ich wusste es!« Gillmans Ausruf überraschte Macbeth, da er tatsächlich schockiert aussah. »Ich wusste, dass es sich um etwas Bedeutendes handeln musste. Das bedeutet, dass wir weitaus weniger Zeit haben, als wir dachten.«

»Aber das ergibt keinen Sinn. Sie haben selbst gesagt, dass das Visionen sind. Wenn sich Ereignisse um sich selbst falten, dann dürfte es keine physikalischen Auswirkungen geben. Aber echte Erdbeben?«

»Die Realität existiert nur im Kopf. Sie ist etwas, auf das sich die kognitive Wissenschaft und die Quantenmechanik geeinigt haben. Die Realität ist das, was wir durch unsere Sinne empfangen, und das Universum nimmt nur eine bestimmte Form an, wenn wir es ansehen. Das, was wir jetzt spüren, diese erhöhte Schwerkraft, das ist real. Kein Instrument auf der Welt konnte diese Erhöhung messen, und dennoch spüren wir sie. Sie ist real, weil wir sie spüren. Aber außerdem ist sie auch noch real, weil das etwas ist, das in der Geschichte der Erde schon einmal passiert ist.«

»Was ist mit den Halluzinationen über die Teilung des Roten Meers? Hat Moses wirklich seinen Zauberstab geschwenkt und die Wellen geteilt? Wollen Sie mir das damit sagen?«

Es war Mora Ackerman, die darauf antwortete. »2010 hat das US National Center für Atmosphärenforschung eine Computersimulation erstellt, um den Effekt eines Phänomens zu messen, das die Meteorologen einen absenkenden Wind nennen. Und wissen Sie was? Es bildete sich eine Landbrücke mitten durch das Rote Meer – an genau derselben Stelle, an der das Massaker letztes Jahr stattgefunden hat. Sie ist geologisch instabil, da sich dort die arabische und die afrikanische Platte treffen. Den Berichten der Soldaten zufolge hat es auch eine Art seismisches Ereignis gegeben, das die Sache noch dramatisiert hat. Das ist Ihr biblisches Element, Ihre Hand Gottes: Plattentektonik und schlechtes Wetter.«

»Im Grunde genommen faltet sich die Zeit um sich selbst«, sagte Gillman. »Das sind keine Halluzinationen … Wir erleben den Quantenzusammenbruch, die Abschaltung unseres Universums. Sie sind der einzige Mensch, der das noch aufhalten kann.« Er griff in seine Tasche, holte etwas heraus und legte es vor Macbeth auf den Tisch: einen Schlüssel, auf dessen Anhänger eine Zahl stand.

»Was ist das?«

»Das Mittel, um Projekt Eins zu zerstören. Der Schlüssel passt zu einem Schließfach am Reventlowsgade-Eingang des Kopenhagener Hauptbahnhofs. Alles, was Sie brauchen, finden Sie darin.«

Macbeth sah den Schlüssel an, nahm ihn jedoch nicht in die Hand. »Sie glauben wirklich, Sie hätten mich überzeugt und ich würde jetzt auch eine Art Neo-Ludditen-Terrorist werden?«

»Sie wissen, dass dieser neueste Vorfall erst angefangen hat, als Ihr künstliches Gehirn ein Bewusstsein entwickelt hat. Sie wissen instinktiv, dass ich die Wahrheit sage. Und außerdem hat John Astor Ihnen ebenso wie mir eine Kopie von Phantome, die wir selbst geschaffen haben gegeben. Die vollständige Antwort finden Sie darin.«

Macbeth starrte Gillman verwirrt an. »Nein, das hat er nicht. Ich habe keine Kopie seines Buches. Alle reden davon, aber ich habe noch mit keinem einzigen Menschen gesprochen, der es tatsächlich gelesen hat.« Macbeth hielt inne und musste an Deborah Canning denken, die in ihrem Zimmer im McLean-Krankenhaus saß und davon überzeugt war, dass sie nur existierte, wenn andere in ihrer Nähe waren, während sie durch ihr Fenster in eine formlose Leere hinaussah. »Tja, vielleicht einen … Warum glauben Sie, dass ich eine Kopie hätte?«

»Aus zwei Gründen. Weil Sie eine zentrale Rolle bei allem spielen, was gerade vor sich geht.«

»Ich?« Macbeth schnitt eine ungläubige Grimasse. »Was hat das denn mit mir zu tun?«

»Alles. Sie haben Einblick in das, was geschieht, und ich weiß, dass Sie versucht haben, das vor sich selbst zu leugnen. Sie hatten Ihr ganzes Leben lang Erlebnisse, die dem gleichen, was alle anderen in den letzten achtzehn Monaten erlebt haben. Sie wissen … Sie wissen instinktiv, dass etwas an dieser Realität nicht richtig ist. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die letzten Schauplätze, an denen es zu Halluzinationen gekommen ist, in Dänemark und dem Norden Deutschlands waren? Es ist fast so, als würde Ihnen der Rest dieses sogenannten Ausbruchs folgen.«

Macbeth lachte. »Das glauben Sie doch nicht wirklich?«

»Ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, das Ereignis in Boston fand aufgrund des letzten Elements des Prometheus-Projekts – meines Modellprogramms – statt, weil es nun mal dort lief. Und ich glaube, dass sich die letzten Vorfälle in der Nähe von Kopenhagen ereignet haben, weil Sie hier an Projekt Eins arbeiten.«

»Und warum denken Sie, ich besäße eine Kopie von Astors Buch?«

»Aus diesen Gründen und weil Ihr Bruder Ihren Computer zu Jimmy Mrozek im MIT gebracht hat, weil er wissen wollte, ob er einen Phantomordner auf Ihrem Desktop öffnen konnte.«

»Sie hatten denselben Ordner …« Macbeth erinnerte sich daran, dass Casey ihm erzählt hatte, Gillman hätte Mrozek gebeten, seinen Computer derselben Untersuchung zu unterziehen. Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist alles? Der Ordner enthält Astors Buch?«

Gillman nickte.

»Aber wie …? Wie konnten Sie ihn öffnen?«

»Man öffnet ihn nicht … Er öffnet sich von selbst, wenn er bereit ist. Oder wenn Sie bereit sind. Ich weiß es nicht genau. Es passiert einfach.«

»Wie ist er auf meinen Computer gekommen? Und wie konnte er von einem Laptop auf den anderen wechseln, als ich sie gegeneinander ausgetauscht habe?«

»Astor hat ihn dort angelegt.«

»Astor lebt?«

»Das weiß ich nicht. Er scheint schon immer da gewesen zu sein. Ob John Astor ein Mann oder viele ist – oder auch nur die Summe der aufgezeichneten Gedanken eines Mannes –, das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Es könnte durchaus sein, dass er nicht mehr als ein festgeschriebener Gedanke ist, etwas, das in das menschliche Erlebnis einprogrammiert wurde. Aber ich bin mir sicher, dass Sie den Ordner jetzt öffnen und das Buch lesen können. Die Zeit ist gekommen.«

Dann saßen die drei schweigend da, und der Schlüssel lag unangetastet auf dem Tisch. Gillman und Ackerman warteten begierig auf ein Zeichen von Macbeth, dass er mitspielen würde. Doch es gab kein Zeichen, denn er wollte es nicht tun. Er wusste, dass ihm beide die Wahrheit gesagt hatten, aber unter normalen Umständen hätte sein psychiatrisches Urteil gelautet, dass sie die paranoiden Wahnvorstellungen des jeweils anderen anheizten. Doch dies waren keine normalen Umstände, und er war sich nicht einmal sicher, wie seine eigene psychiatrische Beurteilung in diesem Moment aussähe.

Jedenfalls hatte ihm Gillman keine echte Erklärung geliefert und keinen verständlichen Mechanismus zwischen Projekt Eins und dem Zusammenbruch der Zeit aufgezeigt.

Doch zufälligerweise war es auch gar nicht Gillmans Argument, das ihn letzten Endes überzeugte.

»O Gott …«, sagte Mora.

»O Gott …«, murmelte Macbeth überwältigt, als ihn ein heftiges Déjà-vu-Gefühl übermannte.

In einem Sekundenbruchteil hatte sich etwas auf der Welt verändert.

Plötzlich und völlig unerwartet war es draußen taghell geworden.