26. KAREN. BOSTON.
Seit dem Vorfall auf der Straße waren zwei Wochen vergangen, in denen sie einmal bei ihrem Psychiater gewesen war.
Karen führte noch immer ihre Türrituale durch und lebte weiterhin ein völlig normales Leben, wenn sie nicht gerade einen dieser abstrakten, zeremoniellen Momente erlebte. Dr. Corbin hatte sich wegen dem, was auf der Straße passiert war, nicht besorgt geäußert und ihr erklärt, dass ihre Zwangsneurose sie anfälliger für Wahnvorstellungen und Halluzinationen machte. Es konnte sein, dass sie entweder wirklich ein Mädchen gesehen hatte, das einfach zurück auf den Bürgersteig gegangen war, sodass sie es nicht mehr finden konnte, oder dass es sich um einen einfachen Fall von Pareidolie handelte, bei dem das Gehirn das, was man sah, um nicht vorhandene Elemente ergänzte. Das kann uns allen passieren, hatte er gemeint.
Dennoch war sie wegen dieses Vorfalls besorgt. Sie hatte nachts im Bett gelegen und versucht, sich an das eingebildete kleine Mädchen und den sehr realen Mann, der Karen in Sicherheit gebracht hatte, zu erinnern – hatte versucht, herauszufinden, woher sie gewusst hatte, wie seine Stimme klang, noch bevor er den Mund aufgemacht hatte.
Und sie war nicht alleine. Andere hatten ebenfalls Dinge gesehen, die gar nicht da waren. Die ganze Stadt war von einem Erdbeben erschüttert worden, das gar nicht passiert war. Wie konnte sie sich sicher sein, dass sie keine Halluzination gehabt hatte? Oder dass sie keine weitere haben würde? Aber ihre auf der Zwangsstörung beruhenden Rituale hatten oberste Priorität: Sie mussten aufhören.
Dr. Corbin hatte vorgeschlagen, dass sie sich freinahm und eine längere Phase der »Umprogrammierung« begann, wie er es nannte. Er wollte sie in eine Klinik in New York überweisen, die sich auf die Beseitigung von derartigen Ritualen spezialisiert hatte. Dort würde man sie Schritt für Schritt analysieren, während gleichzeitig Therapien gegen tief sitzende Phobien durchgeführt wurden. Karen hatte sich dagegen ausgesprochen und erklärt, das sie nicht alles stehen und liegen lassen konnte, um ihrer Verrücktheit Herr zu werden. Schließlich stand die Halverson-Präsentation kurz bevor. Vielleicht danach, nach der Halverson-Präsentation.
Karens Arbeitgeber waren tolerant, wenn auch nicht völlig auf ihrer Seite, wenn es um ihre Zwangsstörung ging. Allerdings wurde ihre Arbeit auch so gut wie gar nicht davon beeinflusst. Ihre Firma war in einem modernen Gebäude mit klaren Linien untergebracht, das kaum Verzierungen aufwies, und bestand fast nur aus Großraumbüros. Die Doppeltür zu Karens Büro stand immer offen. Das Ritual beim Betreten und Verlassen ihres Büros war daher auch simpler und nicht so auffällig wie sonst, da es sich um einen breiteren Eingang handelte: Sie beugte sich nur tief herunter, als würde sie durch einen Tunnel gehen, hielt sich so weit wie möglich von den Ecken fern und wischte beim Aufrichten mit den Händen schwungvoll vor ihrem Körper hin und her. Außerdem hatte sie sich angewöhnt, jeden Morgen möglichst als Erste ins Büro zu kommen, und sie hatte einen ausziehbaren Staubwedel in der Handtasche, mit dem sie den Türrahmen einer genauen Musterung unterzog.
Aber die Halverson-Präsentation würde nicht in den Büros ihrer Firma stattfinden.
Das Halverson Building war ein verziertes Gebäude, das Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus Portland-Stein errichtet worden war, außen voller geschichtsträchtiger Ecken und Winkel und innen voller Marmor und Eiche. Wenn Karen, ihr Boss Jack Court und ihre beiden Kollegen das Foyer betraten, mussten alle erst geduldig warten, bis Karen ihr Eintrittsritual beendet hatte, und sie beäugte die Stuckverzierungen an der Decke, die Winkel, Details und Kanten der Wandverkleidungen, die auf einem Sockel stehende Marmorstatue sowie die Ecken des Raumes.
Ein Fakt ist nichts Totes. Ein Fakt ist lebendig und kann wachsen, er besitzt große Macht. Ein Fakt, der ständig in Karens Kopf herumschwirrte, war die Tatsache, dass es auf der Welt nur so von Insekten wimmelte. Es gab mehr Insektenarten – neun oder zehn Millionen Spezies – als alle anderen zusammen. Neunzig Prozent allen Lebens, abgesehen von Bakterien und einzelligen Organismen, waren Insekten. Sie beherrschten den Planeten. Und dieses alte Gebäude mit seinen zahllose Verstecken war für sie wie eine Oase. Sie waren da, in den schattigen Ecken und nicht erkennbaren Lücken, und warteten.
»Ist alles okay?«, hörte sie Jack Court fragen. »Ich brauche Sie in Höchstform, Karen.«
Sie nickte. Dann nickte sie noch einmal etwas entschiedener. Sie würde sich davon nicht unterkriegen lassen. Niemand sollte sich über sie lustig machen oder Mitleid mit ihr haben. Und sie würde diese Präsentation nicht – auf gar keinen Fall – durch irgendetwas vermasseln.
Die Halverson-Firmengruppe war ein Unternehmen, das die ganze Welt umspannte: Dazu gehörten fünfhundert bekannte Label, Logistikorganisationen, die eintausend weitere Marken auf die Märkte rings um den Globus lieferten, und – den Gerüchten zufolge – ein halbes Dutzend Senatoren sowie, zumindest teilweise, die aktuelle Präsidentin. Es hieß nicht ohne eine gehörige Portion Sarkasmus, dass sich Drew Halverson allein aus dem Grund nicht hatte zur Präsidentenwahl aufstellen lassen, weil er dadurch Macht und Einfluss verloren hätte.
Dass Halverson dieser Besprechung selbst beiwohnte, sprach für ihre Bedeutung. Nachdem die Halverson-Gruppe ein Jahrzehnt lang rasch gewachsen und fusioniert war, bestand in der Regierung Grund zur Sorge, dass sie einen zu großen Einfluss auf das wirtschaftliche Schicksal des Landes habe. Überdies war die Öffentlichkeit besorgt, da Halverson ein vertrautes Verhältnis zu Präsidentin Yates pflegte, deren starken Glauben er teilte. Es gab sogar Gerüchte, dass sie gemeinsam im Weißen Haus beteten.
Neben den vier Mitgliedern von Karens Team waren ein Mann von der Anti-Trust-Abteilung des Justizministeriums und eine Frau von der Bundeshandelskommission anwesend. Letztere war klein, untersetzt und auf nicht gerade vorteilhafte Weise gealtert, und sie beäugte Karen mit der intensiven Feindseligkeit, mit der die Reizlosen schon immer die Attraktiven gemustert haben. Die Regierungsangestellten waren als Teil von Halversons sehr öffentlicher Verpflichtung zur totalen Transparenz zu dieser Sitzung eingeladen worden, und Karen und ihr Team hatten die Aufgabe, sie davon zu überzeugen, dass die angestrebten Expansionspläne, die dazu führen sollten, dass Halverson der größte nationale Exporteur in die schon bald vereinigte Europäische Union wurde, nicht gegen die Anti-Trust-Gesetzgebung verstieß.
Karen hatte sich sehr gründlich auf diese Präsentation vorbereitet, und als Jack Court sie vorstellte, war sie ruhig, gefasst und bereit. Was immer auch in ihrem Leben vor sich ging, Karen war durch und durch Profi und würde die Sache durchziehen.
Sie ging zum Podium und begann mit ihrer Präsentation. Ähnlich wie bei ihren zwangsneurotischen Anfällen fühlte sie sich auch bei jeder Präsentation irgendwie, als würde sie ihren Körper verlassen. Sie konnte sich selbst hören und sehen. Und sie war gut. Richtig gut. Nach fünf Minuten sah sie Jack Courts Gesichtsausdruck und wusste, dass er dasselbe dachte.
Sie hatte alles im Griff. Jeder mögliche Regelverstoß wurde aufgezeigt, und sie legte dar, dass weder die Regeln der Bundeshandelskommission noch die Gesetze des Justizministeriums übertreten wurden. Selbst die unscheinbare Frau nickte, als alle Punkte abgearbeitet und alle Schlupflöcher gestopft wurden. Die ganze Zeit über saß Drew Halverson am Kopfende des Konferenztisches und lächelte zufrieden.
Mitten während ihrer Präsentation spürte sie es auf einmal: dasselbe Gefühl, das sie auf der Straße gehabt hatte, kurz bevor sie das kleine Mädchen gesehen hatte. Wie ein Déjà-vu.
Konzentrier dich.
Sie setzte die Präsentation fort, aber dieses Gefühl der Unwirklichkeit, der Wiederholung, der Andersartigkeit wurde stärker. Die nächsten Sätze brachte sie nicht mehr flüssig heraus, sodass Jack die Stirn runzelte und Halversons Lächeln verschwand.
Die Luft veränderte sich. Sie wurde nicht nur anders, sondern fremdartig, wie keine Luft, die sie je zuvor um sich gehabt hatte. Schwer, dicht, feucht und reichhaltig schien sie wie ein warmes, klammes Gewand an ihrer Haut zu kleben und ihren Mund, ihre Nasenlöcher und ihre Lungenflügel ölig zu machen.
Das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereindrang, wurde schwächer. Auf einmal war alles vage und inkonsistent.
Karen hielt sich an den Seiten des Lesepults fest, da es das Einzige zu sein schien, das noch fest und real war.
Konzentrier dich. Jetzt. Du schaffst das.
Etwas fiel auf das eckige Lesepult. Eine feste schwarze Scheibe, etwa so groß wie ein Zehncentstück, schien von der Decke gefallen zu sein. Sie glänzte und wirkte irgendwie verzahnt, wie eine Spule aus einem geometrischen Muster. Karen sah zur Decke, konnte aber nicht erkennen, wo sie hergekommen war. Sie ging zum letzten Teil ihrer Präsentation über und sah nicht auf, um die Reaktionen der Zuhörer zu überprüfen. Drei weitere schwarze Scheiben fielen auf das Lesepult, wobei zwei abprallten und zu Boden fielen, während die dritte auf ihre Notizen rollte und am unteren Rand des Lesepults hängen blieb.
»Was zum Teufel …«, murmelte Karen und blickte auf. Die anderen starrten sie auf dieselbe Weise an, wie sie in den Eingängen von Geschäften angegafft wurde. Die fette Schlampe grinste hämisch. Aber es war, als würden sie sie durch eine dicke geriffelte Glasscheibe hindurch sehen oder einen dickflüssigen Wasserfall.
Augenblicklich war Karens Verwirrung verschwunden. Die Panik, die sie jetzt erfüllte, ließ keinen Platz für andere Empfindungen. Während sie die schwarze Scheibe anstarrte, zuckte diese und rollte sich auseinander. Die zackigen, haardünnen schwarzen Beine spreizten sich auf ekelerregende Weise von dem zehn Zentimeter langen, knapp einen Zentimeter breiten Tausendfüßler ab, und Karen hörte, wie eintausend kleine Füße leise über ihre Notizen huschten. Etwas Schrilles und Durchdringendes erfüllte den Raum, und Karen merkte, dass sie schrie. Der Raum, ihre Zuhörer, das Gebäude um sie herum waren jetzt nur noch Schichten aus glasigen, geriffelten Umrissen.
Über ihr ertönte ein Geräusch. Karen sah nach oben und bemerkte kaum, dass das Dach des Gebäudes verschwunden war und das Tageslicht durch unfassbar riesige Farnblätter auf sie herabfiel, da ihre Aufmerksamkeit von der körnigen Wolke gefesselt war, die auf sie zuraste. Hunderte, Tausende aufgerollter Tausendfüßler fielen auf sie herab, in ihr Haar, in ihre Kleidung, in ihren zum Schrei aufgerissenen Mund. Das Podium, der Boden, alles um sie herum wurde schwarz, als sich die Wesen entfalteten und über alle Oberflächen und die Körper ihrer Artgenossen hinwegsausten. Über Karen. Sie spuckte sie aus, zerrte sie aus ihren Haaren, stampfte wie wild auf ihnen herum. Hilfe suchend sah sie sich zu den anderen um, aber sie waren verschwunden. Das Halverson-Gebäude mit seinen Holzpaneelen, den Marmorböden und den Wänden aus Portland-Stein war nicht mehr da. Nicht einmal als glasiger Umriss.
Ich bin verrückt, dachte sie trotz ihrer Panik. Ich habe den Verstand verloren.
Sie hatte sich in einem Raum aufgehalten. Rund um diesen Raum befand sich ein Gebäude, und dieses Gebäude stand in einer Stadt. Aber der Konferenzraum war verschwunden, ebenso wie das Halverson-Gebäude und Boston.
Sie stand mitten in einem Wald.
Die Tausendfüßler fielen nicht mehr auf sie herab, aber sie riss noch verzweifelt an ihren Haaren, ihrem Gesicht und ihrem Körper herum. Ihre Haut juckte überall. O Gott, o Gott, o Gott … Sie merkte, dass die Tiere in ihrer Bluse waren. Sie krabbelten ihre Beine hinauf. Sie war von ihnen bedeckt. Sie huschten über ihren Körper, und ihre winzigen Füße berührten ihre Haut. Wie wild schlug sie nach ihnen, kratzte und wischte sie herunter. Stampfte mit den Füßen auf dem schwarzen Teppich herum, den sie bildeten.
Karen lief los, taumelte über Wurzeln und Knollen, stand auf und rannte weiter … Sie wollte nur noch weg von der zuckenden, sich windenden Masse aus Tausendfüßlern, die sie im Laufen noch immer von ihrem Körper strich. Der Boden war mulchig und feucht, und ihre Schuhe mit den hohen Absätzen wurden ihr schon nach wenigen Schritten von den Füßen gerissen. Sie lief und lief, aber der Wald schien kein Ende zu nehmen.
Das ergab doch keinen Sinn. Was war mit ihr passiert? Was geschah mit der Welt? Denk nach, Karen, sagte sie sich. Nutz dein Gehirn. Bring einen Sinn in die Sache.
Sie blieb stehen und überprüfte, ob sie alle Krabbeltierchen von ihrem Körper entfernt hatte. Erschaudernd fegte sie sich das letzte von der Haut.
Etwas anderes ergab ebenfalls keinen Sinn: Karen hatte zwar außer ihrer Panik kaum etwas mitbekommen und wusste nicht, wie lange sie gelaufen war, aber es hatte einige Zeit gedauert und sie war über schwieriges Gelände gerannt. Warum war sie dann nicht außer Atem? Sie atmete schneller, aber nicht angestrengt, als wäre sie nur etwas schneller eine Treppe hinaufgegangen und nicht etwa durch einen überwucherten subtropischen Wald um ihr Leben gerannt.
Der Wald. Der unerklärliche Wald.
Er war dicht und dunkel, aber anders als jeder andere Wald, den sie je gesehen hatte. Alles um sie herum war unfassbar groß, aber es waren so gut wie keine Bäume. Erstaunlich riesige Farne – gigantische, astlose Stämme mit Farnwedeln – erhoben sich rings um sie herum hoch in die Luft und waren ineinander verschlungen, sodass sie eine grüne Kathedrale mit zahlreichen gewölbten Decken bildeten. Unter ihren Füßen war nicht etwa Gras, sondern ein dichter, feuchter Teppich aus Moos und Flechten. Und sogar diese wirkten irgendwie dicker und größer. Selbst die Luft war anders; übersättigt, reichhaltig und dick.
Karen stand da und versuchte verzweifelt zu begreifen, was gerade mit ihr geschah. Dieser Wald war kein Wald, diese Luft war keine Luft, diese Welt war nicht ihre Welt.
Verrückt.
Vielleicht war das die Erklärung: Sie war verrückt geworden. Dr. Corbin hatte ihr vieles gesagt, um sie zu beruhigen, aber Karen wusste, dass sie psychologische Probleme hatte. War der sie umgebende Wahnsinn im Eigentlichen nur die Verrücktheit in ihrem Inneren? War all das nichts als eine komplizierte Wahnvorstellung oder Halluzination?
Trotz der stickigen Luft zitterte Karen, sie litt an fast schon krampfartigen Zuckungen. Wenn dies eine Halluzination war, dann war sie überzeugend genug, um sie in einen Schockzustand zu versetzen. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie beugte sich vor und erbrach sich auf einige Farnblätter. Das Zucken ging weiter, bis sie ihren ganzen Mageninhalt ausgespuckt hatte und nur noch trocken würgte, während ihre Muskeln schmerzten.
Dann streckte sie sich, wischte sich den Mund mit dem zitternden Handrücken ab und sah an sich herunter. Ihre Jacke, ihre Bluse und ihre Schuhe waren fort, und ihre Strumpfhose war zerrissen und hing in Fetzen an ihr herunter. Sie trug nur noch ihren Rock und Unterwäsche. Karen, die Anwältin aus der Stadt, stand halb nackt und halb verrückt in einem fremden Dschungel. Wenn das eine Wahnvorstellung war, dann bezog sie sämtliche Sinne mit ein. Wie unwahrscheinlich es auch sein mochte, so sah diese Welt nicht nur real aus, sondern roch, schmeckte und klang auch so und fühlte sich echt an.
Karen musste Hilfe suchen, aber durch die dichten Blätter sah es in alle Richtungen gleich aus. Schließlich beschloss sie, in die Richtung weiterzugehen, in die sie in ihrer Panik instinktiv losgerannt war, und taumelte eine weitere Stunde mit trockenem Mund und schmerzendem Kopf durch das Unterholz. Da sie sich übergeben hatte und es hier so heiß war, wusste sie, dass sie akut von Dehydrierung bedroht war. Angetrieben von dem Wunsch, Wasser zu finden, lief Karen weiter, teilte Vorhänge aus Farnblättern und stolperte über mit Algen und Moos bedeckte Steine hinweg.
Sie erstarrte. Etwas hatte sich bewegt. Rechts von ihr und vor ihren Blicken verborgen. In diesem Moment wurde Karen klar, dass an diesem Wald noch etwas anderes merkwürdig war: Es gab keine Geräusche. Keine singenden oder trällernden Vögel. Keine rufenden Affen. Überhaupt keine Tiergeräusche. Keine Hinweise darauf, dass sich irgendetwas bewegte.
Bis jetzt.
Sie stand still und versuchte, etwas zu hören, obwohl ihr das Blut in den Ohren rauschte. Da war wieder ein Geräusch. Noch ein umherhuschendes Insekt, dieses Mal jedoch etwas Größeres. Karen schluchzte und begann wieder zu rennen, hastete durch das Unterholz, achtete nicht auf irgendwelche Gefahren, und konzentrierte sich nur darauf, von dem wegzukommen, was durch die Blätter auf sie zugelaufen kam.
Sie war schon unter der Oberfläche und hatte Wasser in Mund und Nase, bevor ihr Gehirn den Fluss überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Der Wald war bis zum Rand des Wassers so dicht und undurchdringlich gewesen und hatte sich dann derart plötzlich gelichtet, dass sie den breiten Fluss gar nicht gesehen hatte und kopfüber hineingestürzt war. Tretend bahnte sie sich den Weg zurück an die Oberfläche und stützte sich mit der Hand auf einem flachen, glatten Stein ab, an dessen Kante sie sich festhalten konnte, während sie hustete, würgte und das Wasser ausstieß, um gleichzeitig nach Luft zu schnappen.
Erneut schluchzte sie laut auf: Nahmen ihre Qualen denn nie ein Ende?
Sie brauchte einen Moment, bis sie sich wieder gefasst hatte, und drückte die Wange gegen die glatte, kühle Oberfläche des Steins. Auch jetzt stellte sie erstaunt fest, dass sie bald wieder ruhiger atmete, als wäre die Luft in dieser grünen Hölle irgendwie reichhaltiger.
Der Stein an ihrer Wange bewegte sich.
Karen sprang auf. Erneut bewegte sich der glatte, schwarze Stein, und ein größerer Teil davon tauchte aus dem Schlamm auf. Dieses Mal schrie Karen nicht, sie stand einfach nur schweigend da und sah mit an, wie sich der »Stein« langsam zuckend und bebend aus der Erde befreite, in die er sich gegraben hatte. Der unterteilte Rücken wurde durchgedrückt, und schwarze, hummerartige Beine kamen darunter hervor. Noch immer stand Karen wie erstarrt da und beobachtete den riesigen Tausendfüßler, der zweieinhalb Meter lang und sechzig Zentimeter breit war und sich langsam aus der Erde erhob. Zwei lange Fühler, die ebenso unterteilt waren wie die Beine, erwachten zuckend zum Leben und bewegten sich unabhängig voneinander. Sie kreisten durch die Luft, als würden sie sie testen. Wie eine Reihe von Legionären, die unter ihren Schilden verborgen waren, kräuselten sich die Beine des Wesens, als es sich in Bewegung setzte. Karen stand weiterhin wie erstarrt da, selbst dann noch, als sie spürte, wie die Beine der Kreatur über ihren nackten Fuß glitten. Der monströse Gliederfüßler schien nicht zu bemerken, was ihn geweckt hatte, und bahnte sich den Weg zurück in das Unterholz des Waldes.
Sie stand noch über eine Stunde lang zitternd am Flussufer, bis der Himmel langsam dunkler wurde. Bei Sonnenuntergang erwachte der Fluss zum Leben, und sie sah, wie sich Nebel über dem Wasser bildete und einige Vögel aufstiegen und darüber kreisten. Nur dass es eigentlich keine Vögel, sondern Libellen waren; mit sechzig Zentimeter langen Körpern und eineinhalb Metern Flügelspanne. Auch der Nebel bestand eigentlich aus Millionen von Eintagsfliegen. Eine der Libellen flog zu Karen herüber und flatterte mit ihren hauchfeinen Flügeln etwa einen Meter von ihrem Gesicht entfernt in der Luft. Karen war wie hypnotisiert von den beiden riesigen Facettenaugen, die in dem farbenfrohen Gesicht wie eine Maske wirkten. Jedes davon war ein Mosaik aus winzigen Hexagonen, deren fast schon synthetische Geometrie so präzise war, dass es wirkte, als wären sie am Computer entworfen und von einem meisterhaften Glaser angefertigt worden. Trotz ihrer Angst stellte sie fest, dass die Libelle wunderschön war.
Jetzt wusste Karen auch, warum hier keine Tierschreie zu hören waren. Keine singenden Vögel. Das war ein Reich der Insekten. Ihre eigene private und ganz persönliche Hölle.
Daher war sie auch nicht wirklich überrascht, als sie sich umdrehte und feststellte, dass ein Skorpion mit angriffsbereitem Stachel und zuckenden Scheren auf sie zumarschierte.
Ein Skorpion, der so groß war wie ein Mensch.
In diesem Augenblick geschah etwas mit Karen. Etwas veränderte sich. Wie zuvor, als die riesige Libelle vor ihr geschwebt hatte, war sie auf einmal in der Lage, ihre Angst auszublenden. Das war nicht real. Nichts von all dem geschah wirklich, und das war nicht etwa ein flehendes, verschrecktes Leugnen, sondern eine rationale, logische Schlussfolgerung. Es hatte nichts mit ihren Phobien oder Zwängen zu tun, hier ging es um die Epidemie der Halluzinationen.
Sie holte tief Luft und stand reglos da. Die Augen des Skorpions waren wie richtungslose Kugeln auf der Schädelplatte der Kreatur, und Karen hatte nicht die leiseste Ahnung, was das Wesen ansah oder was es überhaupt zu sehen vermochte. Sie wusste genug über Naturkunde, um sich daran zu erinnern, dass es verschiedene Arten des Sehens gab: Einige Tiere nahmen Wärme oder Bewegungen anstelle von oder zusätzlich zum Licht wahr. Nach allem, was sie wusste, konnte das Monster, das da auf sie zukam, auch im Infrarotbereich sehen und blickte soeben bis in ihr Innerstes, sodass es ihr Herz klopfen sah.
Aber das war nicht real. Der Skorpion konnte sie nicht sehen, weil er nicht da war. Oder weil sie in seiner Welt nicht anwesend war. Wo und in welcher Zeit sich dieser Ort auch befinden mochte, so war doch offensichtlich, dass alle Lebewesen deutlich größer waren und dass es nur Insekten zu geben schien. Insekten. Und Karen saß mit ihrer Entomophobie in einer Welt voller Rieseninsekten fest, beobachtete diese, zog Schlussfolgerungen und nutzte ihr logisches Denkvermögen.
Sie blieb still stehen, als der Skorpion sie erreichte und so dicht an ihr vorbeiging, dass die harten, borstigen Haare auf seinem Bein über die Haut ihres Oberschenkels unter dem zerrissenen Rock streiften. Während sie den Atem anhielt, beobachtete sie das Monster, das an ihr vorbeimarschierte. Ihr wurde bewusst, dass dies zwar definitiv ein Skorpion war, er sich aber nicht nur durch seine unglaubliche Größe von jenen unterschied, die Karen kannte. Er hatte riesige Scheren, aber alles an ihm war riesig, und diese Scheren waren im Vergleich zu seinem Körper kleiner als bei Skorpionen normaler Größe. Auf den Scheren wuchsen Reihen voller kleinerer Dornen, als wolle er seine Opfer in sein Maul schieben, anstatt sie einfach damit zu fassen zu kriegen. Eine weitere Anomalie waren seine flachen Hinterbeine, die wie die Ruder eines Ruderbootes aussahen.
Er lebt im Wasser, begriff sie. Das ist ein riesiger, aquatischer Skorpion, und wir leben nicht im gleichen Zeitalter. Er kann mich nicht sehen, und er wird an mir vorbei ins Wasser gehen.
Nicht bewegen, sagte sie sich. Nicht atmen. Nicht schreien. Das ist alles nicht echt.
Karen kniff die Augen zusammen und schloss diese unmögliche Umgebung aus. Das liegt alles nur an deiner Phobie, zwang sie sich zu denken. Du hast diesen Virus aufgeschnappt, der die Leute dazu bringt, irgendwelche Dinge zu sehen, und du siehst Insekten, weil dein Verstand mit dem arbeitet, wovor du dich am meisten fürchtest. Das alles ist nicht realer als ein Traum.
Aber selbst mit geschlossenen Augen wusste Karen, dass die Halluzination nicht vorüber war. Die Geräusche, die der Skorpion erzeugte, hallten weiterhin durch die Dunkelheit in ihrem Kopf, und sie spürte, wie ihr durch die Berührung seines Beins die Haut auf dem Oberschenkel aufgescheuert wurde.
Sie fühlte sich seltsam. Ihr wurde schwindlig. Ihre Beine gaben nach, und sie fiel auf den moosigen grünen Boden. Wieder hatte sie dieses Déjà-vu-Gefühl.
Die Luft wurde dünner. Das Licht veränderte sich. Der Wald wurde glasig, durchsichtig, schien sich zu kräuseln. Sie schloss die Augen. Auf einmal fühlte sich der Boden unter ihr hart und unnachgiebig an.
Als sie die Augen aufschlug, beugten sich Jack Court und die anderen mit besorgten Gesichtern über sie. Und über ihren Köpfen sah sie die Decke des Halverson-Gebäudes, das jetzt wieder da war. Sie hörte ihre nervösen, angespannten Stimmen. Am liebsten hätte sie ihnen gesagt, dass es ihr gut ging, aber einige Sekunden lang lag sie einfach nur ruhig da und versuchte zu begreifen, dass sie die wirkliche Welt sah, die absolut nichts mit dem zu tun hatte, was ihr gerade widerfahren war.