52. PROJEKT EINS. KOPENHAGEN.

Da war ein Ausschlag.

Turov sah ihn nicht in Echtzeit – es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und war damit zu schnell, als dass Turovs menschliches Gehirn es registrieren konnte. Aber der Beobachtungscomputer, der den Hauptrechner von Projekt Eins überwachte, ohne selbst damit verbunden zu sein, machte ihn darauf aufmerksam, dass es diesen Ausschlag gegeben hatte. Er ging das Datenlogbuch des Computers noch einmal durch. Nach dem Ausschlag hatte sich nichts verändert. Es gab keine weitere Neuralaktivität. Es war, als ob nichts passiert wäre. Die synthetische Architektur von Projekt Eins blieb genau das: eine leere Architektur. Unbesetzt, ungenutzt, inaktiv. Aber Turov wusste, dass etwas passiert war.

Er starrte einige Sekunden lang mit leerem Blick auf den Bildschirm und war geistig ganz woanders, während er darüber nachdachte, welche Bedeutung das haben mochte, dessen Zeuge er geworden war. Es war niemand sonst anwesend, und er saß in der Stille und in dem gedämpften Licht des schalldichten, fensterlosen Raumes. Projekt Eins war auf bemerkenswert wenig Platz untergebracht: Das Kopenhagener Projektteam besetzte gerade mal den ganzen dritten Stock des Niels Bohr Institute der Universität am Blegdamsvej, aber Projekt Eins befand sich in drei zusammenhängenden Räumen, die man nur nach Eingabe eines Sicherheitscodes betreten konnte. In einem Raum, der so gut wie immer verschlossen war, stand der virtuelle, maschinenbasierte Hauptcomputer. Im Nebenraum wurde ein zweites, unabhängiges Backup aufbewahrt, das alle Daten als Sicherheitskopie in einen gesicherten, externen Speicher hochlud, damit es bei einem Feuer oder einem terroristischen Anschlag nicht zu Datenverlust kam. Nur Lars Dalgaard und John Macbeth wussten, wo sich dieser externe Speicher befand. Im dritten Raum, dem Kontrollzentrum von Projekt Eins, hielt sich Turov gerade auf. Und im Moment kam es dem kleinen Russen mit dem zurückweichenden Haaransatz wie der einsamste, zugleich aber auch aufregendste Ort der Welt vor.

Er ließ den Rechner das Ereignis noch einmal abspielen, verlangsamte und analysierte es. Es bestätigte seine Vermutung. Das neurale Netzwerk von Projekt Eins hatte sich mit etwas getestet, das für Turov wie eine ephaptische Kupplung, gefolgt von einem fünf Sekunden währenden Aktionspotenzial aussah – etwas, das man in einem menschlichen Gehirn zu sehen bekam, wenn ein Muskel angespannt wurde. Nur dass die Amplitude in diesem Fall enorm gewesen war, ebenso wie das Ausmaß des Ereignisses: Jeder Schaltkreis hatte pulsiert, jedes Interneuron war aktiviert worden. Ephaptische Kupplungen traten nur bei physikalisch miteinander verbundenen Neuronen auf, und Turov konnte erkennen, dass dem Ereignis sofort eine ähnliche globale Aktivierung der Synapsen gefolgt war. Milliarden von simulierten elektrischen und chemischen Nachrichten rasten durch das Netzwerk.

Dann geschah nichts mehr.

Die Daten des Überwachungscomputers bestätigten Turov, dass das Ereignis weniger als eine Hundertstelsekunde gedauert hatte.

Der Russe war derart aufgeregt, dass es fast schon an Panik grenzte. Niemand hatte den Ausschlag initiiert – weder Turov noch eine andere Person hatten ihn einprogrammiert oder eine Taste gedrückt. Zumindest niemand aus dem Team. Es war eine spontane, unabhängige Aktion gewesen.

Projekt Eins hatte es selbst getan.

Er griff nach dem Telefon und rief zuerst Macbeth und danach Dalgaard an.