51. EIN JAHR SPÄTER.JOHN MACBETH. KOPENHAGEN.
Das war ein neuer Traum. Es war jetzt sein einziger Traum, und er fing immer auf dieselbe Weise an, indem er selbst ganz plötzlich da war. Im Traum entstand Macbeth aus dem Nichts, augenblicklich und total. Er besaß keinen Körper, sondern war ein Wesen aus Energie und ohne Substanz. Zuerst hatte er nur wenige Gedanken, aber sein Geist füllte sich, die Verbindungen blitzten auf, und jeder neue Gedanke und jede neue Idee waren wie eine explodierende Supernova in einem Universum, das sich schneller ausdehnte, als man messen konnte. Außer seinem Verstand gab es nichts. Da war eine Leere, die nicht einmal Dunkelheit war, denn um zur Dunkelheit zu werden, musste erst etwas existieren.
Dann war da etwas, ein Kontext, eine Umgebung. Obwohl er keine Augen besaß, mit denen er hätte sehen können, wusste er, dass er sich im Arbeitszimmer seines Vaters aufhielt. Sein Vater, Marjorie Glaiston und der augenlose Mann sahen ihn staunend an, und er hatte keine Angst vor dem augenlosen Mann.
»Wir haben einen Verstand gebaut«, sagte sein Vater zu dem kleinen Jungen, der neben ihm stand und den Macbeth als Casey erkannte. »Wir werden zu Göttern, weil wir einen Verstand geschaffen haben.«
Jeden Morgen, wenn er aus diesem neuen Traum erwachte, brauchte Macbeth ganze vierzig bis fünfzig panische Sekunden, bis seine Amnesie verging und er sich daran erinnerte, wer er war, wo er sich aufhielt und warum er dort war. Immer glaubte er zuerst, in Boston zu sein, bis ihm wieder einfiel, dass er zurück in Dänemark war, und das schon seit einem Jahr.
Seit einem Jahr.
Es war eine kostspielige Immobilie in einer teuren Stadt. Noch extremer als bei seiner Wahl der Hotels war Macbeth, wenn es um seine dauerhafte Wohnumgebung ging, die genau so zu sein hatte, wie er es brauchte. Die Adresse lag in Tolbodgade, aber das Gebäude, in dem sich Macbeths Wohnung befand, sah eigentlich auf den mit Kopfsteinpflaster gepflasterten Kai am Larsens Plads und den Hafen dahinter hinaus. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein massives Gebäude, da es früher als Hafenlager gedient hatte und so viel Ware wie nur möglich hatte aufnehmen müssen. Das umgewandelte Lagerhaus aus rotem Backstein mit den blauen Dachpfannen war eines von drei Gebäuden, die am Larsens Plads standen und die Stadt wie stämmige Wächter bewachten. Für einige mochte es starr und funktional aussehen, aber etwas an der Stabilität und robusten Geometrie des Gebäudes hatte Macbeth angesprochen. Außerdem bot seine Wohnung im vierten Stock auf der einen Seite einen schönen Blick auf Kopenhagen und auf der anderen den Ausblick auf den Hafen.
Macbeth stand am Fenster und schaute in den Regen hinaus. Dänemark war für ihn ein konstanter Ort, an dem sich so gut wie nichts zu verändern schien, und wenn, dann geschah es maßvoll und diskret. Dasselbe galt auch für das Wetter, das sich, anders als in Massachusetts mit seinen vier äußerst unterschiedlichen Jahreszeiten, in denen er aufgewachsen war, nur nach und nach zu verändern und sich im Charakter der unterschiedlichen Jahreszeiten nicht groß zu unterscheiden schien. Jetzt war der Frühling fast zu Ende, und er hoffte auf einen schönen Sommer. Er brauchte einen schönen Sommer.
Es war jetzt ein Jahr her.
Vor einem Jahr war Casey in Oxford ermordet worden. Vor einem Jahr hatte Macbeth das Kopenhagener Projekt als Projektdirektor übernommen. Vor einem Jahr hatte die Halluzinationsepidemie aufgehört.
Hin und wieder traten immer noch Halluzinationen auf. Seltsamerweise schienen sich die meisten dieser Fälle in Macbeths Nähe, also in Dänemark und im Norden Deutschlands, zu ereignen, aber selbst sie waren derart isoliert und betrafen nur Individuen oder kleinere Gruppen aus zwei oder drei Personen. Trotz Caseys und Newcombes Theorie, dass noch ein anderes Element im Spiel wäre, sah es mehr und mehr danach aus, als wären die Halluzinationen eine Art psychoaktiver viraler Ausbruch gewesen, von dem nun nur noch die letzten, vereinzelten Ausläufer spürbar waren.
Dennoch war Macbeth nicht überzeugt.
Das Problem war, dass andere ebenfalls nicht überzeugt waren. Die religiöse Rechte, Moslemfundamentalisten und Anarcho-Primitivisten waren allesamt der Ansicht, die Zerstörung der Prometheus-Antwort und die gleichzeitige Auslöschung sämtlicher großer Physiker der Welt wären der Grund dafür, dass die Weltordnung wiederhergestellt worden sei: Gottes, Allahs oder Gaias Wille hatte über die falschen Götter der Wissenschaft triumphiert. Die Arroganz der Menschen war eingedämmt und bestraft worden.
Doch in Wahrheit strömten die Religiösen zwar rechtschaffene Empörung aus, aber rational wollte niemand zugeben, diesen Zufall, dass beide Ereignisse gleichzeitig stattfanden, als überzeugend anzusehen. Währenddessen brannten kleine Stammzellenforschungszentren, wurden Bombenanschläge auf Partikelphysiklabore durchgeführt und einzelne Wissenschaftler angegriffen.
Der Blinde Glaube rief die Neue Inquisition aus.
Noch größer als die Sorge ob des verstärkten Terrorismus war jedoch die Besorgnis auf der ganzen Welt, die die zunehmend bizarrer werdenden Ankündigungen von US-Präsidentin Elizabeth Yates auslösten. Schon als Senatorin Yates hatte sie mit ihrem starken Glauben und der augenscheinlichen Feindseligkeit gegen den Säkularismus und jeden anderen als ihren eigenen Glauben, das Southern-Baptist-Christentum, für Kontroversen gesorgt. Als Präsidentin Yates bewirkten ihre zweideutigen Aussagen über die Homosexualität, Mehrgläubigkeit und moralische Standards, dass Skepsis aufkam, während sie Schlüsselpositionen im Land verdächtigerweise mit Traditionalisten besetzte. Es gab sogar Gerüchte, dass es evangelische Gottesdienste im Weißen Haus geben würde.
Seit dem Ausbruch der Halluzinationen glich Yates’ Rhetorik außerdem eher der einer Priesterin als der einer Präsidentin. Die Worte »Gottes Hand« und »Gottes Wille« waren nach und nach aus ihren politischen Reden in ihre Regierungserklärungen übergegangen. Sie verdammte den Blinden Glauben, was ihr als Widerwille angekreidet wurde, und sie hatte für eine diplomatische Kluft zwischen den USA und der frisch vereinigten Europäischen Union gesorgt, indem sie erklärt hatte, »Gottes Hand« habe dafür gesorgt, dass der Anschluss der levantinischen Staaten gescheitert war, womit sie den Wortlaut der Aussagen der Soldaten während des Prozesses in Tel Aviv wiederholte, die für das Massaker verantwortlich gewesen waren.
Es war für alle eine schlimme Zeit gewesen, nicht nur für den trauernden Macbeth.
Er hatte die Welt immer wie ein Außenseiter gesehen und gewusst, dass seine emotionalen Reaktionen nicht so waren wie bei anderen Menschen, dennoch hatte er die Macht der Emotionen stets verstanden. Während seiner Zeit als praktizierender Psychiater hatte er wahre Leidenschaften erlebt; gigantische, elementare Kräfte, die am Geist seiner Patienten zerrten. Das konnte er verstehen, wenngleich er es abstrakt sah, doch die emotionale Unfähigkeit der Popkultur mit den falschen Tränen der Realitystars und Talkshowgäste ließ ihn verwirrt zurück.
Das war vermutlich der Grund dafür, warum er mit der Trauer nicht umgehen konnte. Es war, als wäre die Bombe, die Casey getötet hatte, in Macbeths Körper explodiert. Doch wie alle emotionalen Reaktionen hatte es ein wenig gedauert, bis sie sich gezeigt hatte. In der Zwischenzeit war er in der Lage gewesen, die formalen Aspekte der Trauer mit einer fast schon leidenschaftslosen Objektivität durchzustehen.
In Oxford hatte er Caseys Leiche offiziell identifiziert. Es hatte keine dreißig Sekunden gedauert. Doch diese dreißig Sekunden füllten einen größeren Platz in seinem Verstand aus als jede andere Erinnerung. Das Bild des zerfetzten Körpers seines Bruders hatte sich in sein Gehirn gebrannt und jede andere schöne Erinnerung an Casey ausgelöscht. Macbeth, dessen Gedächtnis schon immer höchst fehlerhaft gewesen war, wusste, dass das Bild von Caseys Gesicht, völlig unversehrt auf einer Seite, während es auf der anderen zertrümmert war, das Auge verschwunden, für immer unlöschbar in seinem Kopf steckte und er es bis zu seinem Tod nicht mehr vergessen würde.
Als die überaus bürokratische englische Polizei Caseys Leiche endlich freigegeben hatte, war Macbeth mit ihr nach Boston geflogen. Er hatte eine humanistische Gedenkfeier arrangiert, da er wusste, dass Casey das so gewollt hätte, bevor er in Mount Hope beerdigt wurde. Caseys Grab lag am Ende des riesigen Friedhofs und in der Nähe des Weges, der außen herumführte. Hinter dem Weg wurde der Friedhof durch eine Baumreihe, einen Grasstreifen und einen gusseisernen Zaun begrenzt, und dahinter lag eine schmale, selten benutzte Straße mit den nackten Fassaden von Industriegebäuden, deren wellige Wände Graffiti zierten. Aus irgendeinem Grund ärgerte es Macbeth, dass die Überreste seines Bruders an einem derart langweiligen Ort liegen mussten. Er wusste nicht, woran das lag, denn Casey würde es egal sein.
Es gab keinen Casey mehr.
Seitdem war Macbeth nicht mehr in Boston gewesen.
Erst in den Wochen nach seiner Rückkehr nach Kopenhagen hatte ihn die unerträgliche Trauer derart hart getroffen, dass er sie körperlich spüren konnte. Er verbrachte die Tage in seiner Wohnung am Fenster und versuchte, sich auf die Außenwelt zu konzentrieren, war aber von seinen Gefühlen viel zu zerrissen. Er hatte nur wenige enge, lang andauernde Beziehungen in seinem Leben gehabt, und die Verbindung zu seinem Bruder war immer ein Fixpunkt für ihn gewesen. Jetzt trieb er jedoch herum. Er nahm sich zwei Wochen Urlaub und versank an einem dunklen, leeren Ort. Das Seltsamste war die Dualität seiner Trauer: Melissas Tod, selbst ihre längst vergangene Trennung, wurden auf einmal real und greifbar, als hätte Casey sie aus derselben verborgenen Ecke in Macbeths Bewusstsein geholt.
Aber es war mehr als nur seine Trauer, das ihn heimsuchte. Nach seiner Rückkehr zum Projekt hatte er sich bemüht, seine selbst gewählte Lebensweise wiederzufinden. Die Epidemie der Halluzinationen war vorüber, das sagte er sich immer wieder, daran erinnerte er sich jeden Tag.
Das musste er auch. Denn an jedem Tag seit Caseys Tod hatte John Macbeth Dinge gesehen, die einfach nicht da sein konnten.
Das Erste, was Macbeth jeden Tag tat, war, nachzusehen, ob es irgendwo auf der Welt Berichte über Halluzinationen vom Typ »Boston-Syndrom« gegeben hatte. Wenn er keine fand und wenn er keine Träumer auf den Straßen sah, dann war er merkwürdigerweise enttäuscht.
Die erste Vision hatte er in der S-Bahn gehabt.
Es war nur eine Kleinigkeit gewesen, die man durchaus hätte übersehen können. Wäre es seine einzige Halluzination gewesen, dann hätte er es schlicht als falsche Erinnerung abgetan. Die Frau ihm gegenüber hatte sich in eine Biografie von Jackie Kennedy Onassis vertieft und erst aufgesehen, als sie merkte, dass sich der Zug ihrem Ziel näherte. Macbeth erinnerte sich noch daran, dass sie ihm beinahe leidgetan hätte. Sie musste etwa dreißig Jahre alt gewesen sein, hatte schlichte Gesichtszüge und war stillos gekleidet. Irgendwie fand er es traurig, dass jemand, der so schlicht wirkte, indirekt das Leben der Reichen und Schönen lebte. Nachdem sie ein hellgelbes Lesezeichen in ihr Buch gelegt hatte, klappte sie es zu, steckte es in ihre Schultertasche, stand auf und ließ Macbeth in der von ihm bevorzugten Einsamkeit zurück.
Während die S-Bahn ihre Fahrt fortsetzte, sah Macbeth durch das Glas Kopenhagen an sich vorbeiziehen. Er arbeitete oder las nie, wenn er unterwegs war, da die Zeit zwischen Orten und Ereignissen für ihn immer die Zeit zum Nachdenken war. Das Problem war nur, dass diese kostbaren Momente von Erinnerungen an Casey geprägt waren. Aus irgendeinem Grund hatte Macbeth an ihre Kinderspiele am Strand draußen am Cape denken müssen, als ihn ein hellrot aufblitzendes Licht und eine S-Bahn, die aus der entgegengesetzten Richtung vorbeirumpelte, abrupt aus seinen Gedanken riss. Er stellte fest, dass sie sich der Haltestelle »Østerport« näherten, was ihn überraschte, da er geglaubt hatte, sie hätten dort längst gehalten. Als er sich umdrehte, sah er die unscheinbare Frau auf dem Sitz gegenüber, die erneut in das Leben eines anderen Menschen, das unendlich glamouröser war als ihr eigenes, vertieft war und jetzt aufblickte. Erneut legte sie das hellgelbe Lesezeichen zwischen die Seiten, dieses Mal jedoch etwas weiter hinten, bevor sie das Buch vorsichtig in ihre Schultertasche steckte, aufstand und an der Haltestelle aussteigen wollte.
Macbeth hatte eher Verwirrung als Panik gespürt. Er war sich sicher, dass er zuvor schon einmal gesehen hatte, wie die Frau ausgestiegen war, ebenso war er überzeugt davon, dass die S-Bahn bereits in Østerport gehalten hatte. Genau dasselbe Ereignis hatte sich wiederholt. Nur dass es nicht exakt dasselbe gewesen war: Sie hatte das Lesezeichen an eine andere Stelle gesteckt und hatte auch nicht ganz dieselbe Kleidung getragen. Sein erster Impuls war, sie anzusprechen, aber dann wurde ihm bewusst, dass es verrückt geklungen hätte, daher schaute er ihr nur ein zweites Mal dabei zu, wie sie aus dem Waggon ausstieg. Als er danach darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass es eine Halluzination gewesen sein musste, aber er konnte beim besten Willen nicht herausfinden, welches der beiden Ereignisse das echte gewesen war.
Nach diesem ersten Vorfall wurde jeder Tag durch eine kleine Absurdität unterbrochen. Manchmal war es dieselbe, sich wiederholende Zeitschleife, dann wieder hatte Macbeth das Gefühl, als würde die Welt um ihn herum von einer anderen verschleierten, beinahe durchsichtigen Realität überlagert. Es dauerte immer nur einen Moment, dann waren die verschwommenen Umrisse der Menschen, Gebäude oder Geländeformen, manchmal sogar der über ihm vorbeiziehenden Wolken, wieder verschwunden. Nach einem Augenblick war stets wieder alles so wie vorher.
Macbeth erkannte, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise hätte er als Psychiater entschieden, dass eine Behandlung mit Antipsychotika angebracht wäre. Aber in den letzten zweieinhalb Jahren war nichts normal gewesen, und Halluzinationen waren von einem ungewöhnlichen zu einem gewöhnlichen Ereignis geworden. Doch er beschloss, dass er einen praktizierenden Kollegen aufsuchen würde, wenn es schlimmer wurde, um sich Clozapin aufschreiben zu lassen – oder Trifluoperazin, falls die Halluzinationen bedrohlicher wurden.
In der Zwischenzeit erzählte er niemandem von seinen Anfällen.
Macbeth hatte auch gute Gründe dafür, seine mentalen Ausfälle für sich zu behalten. Seine Beförderung zum Direktor des Kopenhagener Projekts war trotz der tragischen Umstände das gewesen, was ihm durch die Dysthymie der letzten zwölf Monate geholfen hatte, und er war entschlossen, diesen Posten gerade wegen seiner depressiven Stimmung zu behalten, die von der neuen Aufgabe in Schach gehalten wurde. Er hatte sich ganz dieser Tätigkeit verschrieben und konnte in der kurzen Zeit mehr Erfolge aufweisen, als es dem besessenen und ehrgeizigen Poulsen während seiner ganzen Zeit als Projektleiter möglich gewesen war.
Allen war sehr schnell klar geworden, warum Poulsen derart ehrgeizig gewesen war: Er hatte das Problem mit dem Gehirn-Computer-Interface sowohl als beruflichen Kreuzzug als auch als persönliches Rennen angesehen. Das Rennen hatte er jedoch verloren.
Nur wenige Mitglieder des Teams, die bereits früher mit Poulsen zusammengearbeitet hatten, wussten, dass seine Frau bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt worden war, aber niemandem war bekannt, dass Margarethe Poulsen ständig an lebenserhaltende Systeme angeschlossen sein musste und dass sie am Locked-In-Syndrom litt.
An dem Tag, an dem die Bombe in Oxford explodierte, kam Poulsen nicht zur Arbeit. Als man auch am nächsten Tag nichts von ihm hörte, rief Dalgaard, Poulsens Stellvertreter, der sich aufgrund der Anschläge auf Wissenschaftler Sorgen machte, die Polizei.
Sie fanden ihn in seinem Haus.
In den folgenden Tagen kam heraus, dass es Poulsen nach einem Anruf des Krankenhauses gerade noch rechtzeitig an das Bett seiner Frau geschafft hatte, bevor sie gestorben war. Man hatte ihm mitgeteilt, dass ihr Herz einfach aufgegeben hatte. Dr. Larssen und die anderen Krankenhausmitarbeiter beschrieben Poulsen als gefasst. Er hatte die Nachricht akzeptiert und sogar genickt, als man ihm sagte, dass es für seine Frau vermutlich das Beste wäre, dass sie endlich aus dem Gefängnis befreit worden war, das ihr Körper für sie dargestellt hatte.
Anhand der Todeszeit, die der Gerichtsmediziner feststellte, musste sich Poulsen kurze Zeit nachdem er nach Hause gekommen war, das Leben genommen haben. Er hatte nur noch ausführliche Anweisungen über die Zukunft des Projekts aufgeschrieben und einen Vorschlag gemacht, wer ihm als Projektdirektor nachfolgen sollte. Die Polizei fand ihn im Wohnzimmer. Er hatte sich mit einem Gürtel an einer Lampe erhängt, mit Blick auf die Fenster, durch die man über den Fjord hinaussehen konnte. Poulsen hatte seine Taschen mit Büchern beschwert, offenbar, um seinen Tod zu beschleunigen.
Macbeth war bereits in Oxford gewesen, als man Poulsens Selbstmord entdeckte. Die britische Polizei, die den Bombenanschlag untersuchte, bei dem sein Bruder ums Leben gekommen war, schien keine Hinweise darauf zu haben, wie der Blinde Glaube, der ganz oben auf der Liste der Verdächtigen stand, ein derart großes explosives Gerät in den Hörsaal hatte schaffen können. Der die Untersuchung leitende Detective namens Owens – ein langweiliger, robust gebauter Mann mit rasiertem Schädel und den langsamen Augen eines Bürokraten – hatte in Macbeth nicht die Hoffnung wecken können, dass man die Täter bald finden würde. Der Detective hatte seine Fragen höflich, umfassend, professionell und völlig emotionslos beantwortet. Macbeth vermutete, Owens Mitgefühlserschöpfungssyndrom könnte möglicherweise daher kommen, dass er Mitgliedern der einhundertundsiebzig trauernden Familien aus der ganzen Welt immer wieder dieselben Antworten geben musste.
Als sich Macbeth schließlich wieder in der Lage fühlte, zur Arbeit zurückzukehren, war er nicht mehr unter Druck, sich Newcombes Team anzuschließen. Der Halluzinationsausbruch stellte noch immer ein epidemiologisches Mysterium dar und das WHO-Team versuchte weiterhin, seine Etiologie zu ergründen und einen Virus, eine Ansteckung oder einen physikalischen Anreiz zu finden, womit sich die Visionen erklären ließen. Aber diese Aufgabe war aufgrund der abnehmenden Fälle bei Weitem nicht mehr so dringend, sodass Newcombe widerstrebend akzeptieren musste, dass Macbeth dringendere Sorgen hatte.
Bei seiner Rückkehr nach Kopenhagen war Macbeth ebenso überrascht gewesen wie jeder andere, dass Georg Poulsen ihn als Direktor vorgeschlagen hatte, da die automatische Wahl auf Dalgaard, Poulsens Stellvertreter, gefallen wäre. Die Entscheidung eines Menschen, der derart geistig gestört war, dass er Selbstmord begangen hatte, war natürlich infrage gestellt worden, aber nach mehreren langen Vorstandsbesprechungen und dank Dalgaards deutlicher Unterstützung wurde beschlossen, dass Macbeth so, wie Poulsen es gewollt hatte, die Leitung übernahm.
Nach und nach hatte sich Macbeth an seine alltägliche Routine gewöhnt, die er wie einen Panzer gegen die Trauer nutzte, wenn ihn diese in ruhigen Augenblicken überkam. Etwa jetzt, wo er aus seinem Fenster zum Himmel und in den Nieselregen des dänischen Frühlings hinausblickte.
Das Klingeln des Telefons war daher schon fast eine erfreuliche Abwechslung.
»Dr. Macbeth? Mein Name ist Mora Ackerman …« Die Stimme einer Frau, die Englisch mit dänischem Akzent sprach. »Ich habe versucht, Sie in Ihrem Büro zu erreichen, aber ich scheine Sie immer zu verpassen. Und meine E-Mails … Haben Sie meine E-Mails überhaupt erhalten?«
Sie hatte Macbeth auf dem falschen Fuß erwischt. Er erinnerte sich daran, ihren Namen in seinem häufig vernachlässigten Posteingang gesehen zu haben.
»Ah, ja … Dr. Ackerman …« Er riss sich zusammen. »Leider war ich in letzter Zeit sehr beschäftigt.« Macbeth hielt inne und runzelte die Stirn, als ihm ein Gedanke kam. »Woher haben Sie diese Nummer?«
»Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Sie zu Hause stören muss.« Sie ignorierte seine Frage einfach. »Aber ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist sehr wichtig, dass wir uns unterhalten.«
»Worüber?«
»Darüber möchte ich lieber nicht am Telefon sprechen. Können wir uns treffen?«
Macbeth lachte. »Diese Geheimnistuerei müssen Sie leider lassen, Dr. Ackerman. Worum geht es bei dieser Sache?«
Schweigen.
»Es geht um Ihren Bruder.«
Macbeth spürte einen Stich in der Brust, als sie Casey erwähnte. »Was ist mit ihm?«
»Kennen Sie den Ørstedsparken? In der Nähe der Universität?«
»Hören Sie …«
»In der Nähe des Teichs gibt es ein Café. Dort treffen wir uns morgen um 14.30 Uhr.«
»Das ist doch lächerlich.« Macbeth lachte. »Wenn Sie an der Universität arbeiten, dann sollten Sie nicht länger so tun, als würden wir in einem schlechten Agentenfilm mitspielen, sondern einen vernünftigen Treffpunkt vorschlagen.«
»Das, was Ihrem Bruder zugestoßen ist … Die Visionen letztes Jahr … All das wird wieder geschehen, nur noch schlimmer. Wir müssen es aufhalten, bevor es zu spät ist. Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn Sie morgen kommen könnten«, sagte sie und legte auf.