25. JOHN MACBETH. BOSTON.

Macbeth wusste, dass die Menschen sich gern mit Geistergeschichten Angst einjagten. Als Psychiater konnte er den Mechanismus nachvollziehen: Der Leser der Gruselgeschichte oder Fan von Horrorfilmen ergötzte sich an Simulationen von erschreckenden Umgebungen, durch die die Amygdala, die ältesten und ursprünglichsten Gehirnstrukturen des Menschen angesprochen wurden, die das für eine echte und akute Gefahr hielten. Die chemischen Signale, die daraufhin von der Amygdala an den Hypothalamus geschickt wurden, setzten Epinephrin, Norepinephrin und Kortisol im Körper frei.

Natürlich weiß jeder Mensch ganz genau, dass eine Geistergeschichte oder ein Horrorfilm nicht real ist, daher lässt sich der Adrenalinstoß aus sicherer Entfernung und ohne echten Kampf oder Flucht genießen, und die Angst wird in abgeschwächter, konstruierter Form für Unterhaltungszwecke genutzt.

Macbeth, der die Welt auf merkwürdige Weise anders sah als die meisten Menschen, bemerkte häufig, wie im Fernsehen über Katastrophen und Leid berichtet wurde: mit professioneller, synthetischer Modulation und Intonation, als wären die natürlichen Stimmen irgendwie unangemessen. Er fragte sich, ob das ebenso wie bei den Horrorfilmen eine absichtliche Neuverpackung der Angst war, um sie auf Abstand zu halten. Natürlich war es hin und wieder vorgekommen, dass die professionelle Haltung weggebrochen war, sodass die Furcht durchschimmerte und die Reporter zu echten Menschen wurden. Seltsamerweise war es ihm bei diesen wenigen Gelegenheiten so vorgekommen, als wäre die Realität umgedreht worden, da alles wie ein Katastrophenfilm aus Hollywood wirkte, wie die unwirkliche Realität, dass Flugzeuge in die Türme von New York geflogen wurden.

Mit den Berichten über die Ereignisse in Boston verhielt es sich ebenso. Die Medien von New England reagierten uneinheitlich und verwirrt auf das »Geistererdbeben«. Das Ereignis ergab keinen Sinn, aber dennoch waren Menschen gestorben und fast jeder im Osten von Massachusetts hatte es gespürt. Der professionelle Ernst führte zu einer fundamentaleren, echteren Sorge.

Insbesondere als klar wurde, dass Boston kein Einzelfall gewesen war.

Bei Phantomerdbeben in Frankreich und Indien, beide Male ebenfalls an Schauplätzen gewaltiger historischer Erdbeben, waren Menschen verletzt und getötet worden. Wie bei dem Vorfall in Boston hatte man die Effekte der seismischen Vorgänge gespürt und das Beben und Wackeln der Erde erlebt, doch auch an diesen Orten hatte es keine physikalischen Beweise für echte seismische Aktivitäten irgendeiner Art gegeben.

Es war nicht länger eine Geistergeschichte.

Man unternahm große Anstrengungen, um herauszufinden, was genau diese Effekte bewirkt hatte. Wieder tippte man auf eine vermeintliche Epidemie, darauf, dass ein Virus oder ein anderer Wirkstoff das Gleichgewichtsorgan der Opfer beeinflusst hatte. Der bemerkenswerte Zufall, dass jeder in genau demselben Moment schwankte und sich einbildete, etwas Bestimmtes zu hören, schien bei diesen Gedankengängen keine Rolle zu spielen.

Die Verschwörungstheoretiker warfen natürlich einhundert verrückte Hypothesen in den Raum, ebenso wie die religiöse Rechte und andere Derangierte. Die Illuminati würden hinter all dem stecken und das Chaos bewirken, um ihre neue Weltordnung herbeizuführen; Aliens hätten das Ganze verursacht und würden die menschliche Bevölkerung mit Geistkontrollstrahlen verwirren, um dann eine Invasion auf die Erde zu starten; Gott bestrafe die Menschheit dafür, dass sie ihm den Rücken zugewandt hat und die falschen Götter der Wissenschaft anbetet; die Regierung habe eine neue Waffe entwickelt, deren Tests schiefgelaufen waren, behauptete eine Verschwörungstheorie; eine andere vertrat die Ansicht, die Waffe sei absichtlich in Boston getestet worden. Und dann waren da noch jene, die die Situation und die Leichtgläubigen ausnutzten: Sie behaupteten, das Phänomen ließe sich nach Lust und Laune kontrollieren und herbeiführen, und man verkaufte Tickets für Livekonzerte von Elvis, Frank Sinatra und Caruso.

Im Großen und Ganzen lebten die Menschen wieder ihr normales Leben, aber die Gesichter wirkten nervös und unruhig, wenn man sie auf der Straße ansah, so als würden sie allem misstrauen, was sie erblickten.

Derweil verlief Macbeths Zeit in Boston genau nach Plan. Zusätzlich riefen Kollegen aus Kopenhagen an und fragten, ob er das Erdbeben miterlebt hatte, was er zu seinem Bedauern bejahen musste, da man ihm daraufhin unendlich viele Fragen darüber stellte, wie es gewesen war und wodurch es seiner Meinung nach ausgelöst worden sein mochte.

Caseys Kopfverletzung war ebenso unbedeutend gewesen, wie Macbeth vermutet hatte, aber er war offenkundig besorgt: Casey war ein Mensch, der mit Logik und Intelligenz jedes Rätsel lösen konnte, doch das Erlebnis im Restaurant ließ sich rational nicht erklären. Er bestand darauf, dass Macbeth in seinem Apartment wohnte, so lange er noch in Boston zu tun hatte.

»Ich weiß, dass du eine ganz bestimmte Umgebung brauchst«, sagte Casey. »Aber das geht mir genauso … Ich denke, dass wir unsere Vorstellungen für einige Tage aneinander anpassen können. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber nach dem, was an diesem Abend passiert ist, bin ich der Ansicht, dass wir beide ein bisschen Gesellschaft gut gebrauchen könnten.«

Da ihn der Gedanke, bei Casey einzuziehen, tröstete, protestierte Macbeth eigentlich nur pro forma und behauptete, er wollte ihm keine Mühe machen, stimmte dann jedoch zu, aus dem Hotel auszuchecken.

Die Frau an der Rezeption des Hotels war jung und attraktiv, hatte sehr dunkles Haar, das sie nach hinten gebunden hatte, sodass ihr hübsches Gesicht und ihre großen blauen Augen gut zur Geltung kamen. Er hatte schon einige Male mit ihr gesprochen, und als er auscheckte, stach ihm ihr Lächeln erneut ins Auge. Sie war genau Macbeths Typ, und unter anderen Umständen hätte er sich mit ihr verabredet, aber im Moment passierten einfach zu viele Dinge und ihm ging zu vieles durch den Kopf. Er entschuldigte sich für seine verfrühte Abreise und sagte, er könne es nachvollziehen, wenn er für die gesamte Zeit, die er reserviert hatte, bezahlen musste.

»Das ist überhaupt kein Problem, Dr. Macbeth. Aber es ist schade, dass Sie Ihren Aufenthalt in Boston verkürzen müssen.«

»Oh, das muss ich eigentlich nicht. Es ist nur so, dass mich mein Bruder gebeten hat, bei ihm zu wohnen, solange ich hier bin. Die Dinge … Ich meine, die Menschen …« Macbeth fiel es nicht leicht, den Gedanken in Worte zu fassen. »Seit dem, was neulich abends passiert ist, sieht alles ein wenig anders aus.«

Sie nickte verständnisvoll. »Tja, vielleicht sehen wir Sie hier ja mal wieder …«

»Ganz bestimmt …« Er lächelte.

»Sie sind früher schon einmal bei uns abgestiegen, nicht wahr?«, fragte sie und hatte diese vertraute nachdenkliche Miene aufgesetzt, als würde sie sich das Gehirn zermartern, damit es ihr wieder einfiel.

»Nein, das war mein erster Aufenthalt in diesem Hotel.«

»Wirklich? Ich hätte schwören können, dass wir uns schon einmal begegnet sind …« Ihr Stirnrunzeln blieb.

»Nein, das haben wir nicht.« Er lächelte. »Daran würde ich mich ganz bestimmt erinnern.«

Er wollte sich gerade von der Rezeption abwenden, als er hinter ihrer Schulter das gerahmte Foto des Mannes mit den dunklen Haaren und dem dunklen Bart entdeckte, den er auf dem Flur vor dem Fahrstuhl gesehen hatte. Macbeth war erleichtert, dass er mit der hübschen jungen Frau und nicht mit dem Mann hatte reden müssen, der nicht einmal den Fahrstuhl für ihn aufgehalten hatte.

»Der Besitzer?«, fragte er die junge Frau und deutete auf das Foto.

»Mein Vater«, antwortete sie. »Und, ja, das war sein Hotel.«

»War?«

»Dad ist gestorben, als ich noch sehr jung war. Danach hat meine Mutter das Hotel weitergeführt. Das macht sie jetzt schon seit dreiundzwanzig Jahren …«

Der Fahrer des wartenden Taxis öffnete die Kofferraumklappe und wollte gerade Macbeths Gepäck einladen, als ein Mann mit Sonnenbrille und dunklem Anzug aus der Limousine stieg, die neben dem Taxi parkte.

»Schon okay …«, meinte der Anzugträger zu dem Taxifahrer. »Ich bin hier, um Dr. Macbeth hinzubringen, wo immer er hinfahren möchte.«

Der Fahrer zuckte mit den Achseln, machte den Kofferraum wieder zu und stieg erneut in seinen Wagen.

»Kommen Sie vom Schilder Institute?«, erkundigte sich Macbeth. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass man mir einen Wagen schickt. Wir müssen leider einen Umweg machen, da ich meine Sachen noch in der Wohnung meines Bruders vorbeibringen möchte.«

»Das ist überhaupt kein Problem, Sir, und wir werden Sie danach im Institut absetzen, auch wenn es mich nicht geschickt hat.« Er griff in seine Jackentasche und zog eine Brieftasche mit einer Dienstmarke hervor. Macbeth sah die blauen Buchstaben.

»FBI

»Special Agent Bundy. Ich wollte Sie bitten, uns bei einigen Dingen zu unterstützen. Wir werden sie nicht lange aufhalten, und Sie kommen noch rechtzeitig zu Ihrem Termin im Institut.«

»Bundy?«

»Ja, Sir, wie Ted Bundy. Wir sind nicht miteinander verwandt.« Der FBI-Mann lächelte.

»Worum geht es hierbei? Was in aller Welt kann ich denn für das FBI tun?«

Agent Bundy deutete mit einem Arm auf die Limousine. »Vielleicht könnten wir das unterwegs besprechen … Ich bin mir Ihres Zeitplans sehr wohl bewusst, Doktor.«

Macbeth zuckte mit den Achseln, gestattete Bundy, sein Gepäck zu nehmen, und folgte ihm zum Wagen.

Im Heck der Limousine bekam Macbeth dieselbe Klaustrophobie, die er schon aus dem Polizeiwagen kannte. Die Fenster waren verdunkelt, sodass ihm die Stadt, durch die sie fuhren, noch fremder vorkam. Der Fahrer drehte sich nicht um und grüßte auch nicht, als er mit Bundy hinten einstieg.

»So«, meinte Macbeth, nachdem sie losgefahren waren, »wobei kann ich dem FBI denn helfen?«

»Haben Sie schon von einem Mann namens John Astor gehört?« Bundy nahm die Sonnenbrille ab, woraufhin Macbeth seine faszinierende Augenfarbe bemerkte. Fast wie bei Zielscheiben lag bei jedem Auge ein schmales orange-braunes Band um die Iris, das von einem breiteren, hellen grün-blauen Band umgeben war. Dadurch wirkte sein Blick auf beunruhigende Weise durchdringend.

»Ja, ich habe schon von ihm gehört«, bestätigte Macbeth. »Aber das ist auch schon alles. Ehrlich gesagt habe ich ihn fast schon als urbanen Mythos abgetan – ihn ebenso wie sein mysteriöses Buch. Warum fragen Sie?«

»Aber abgesehen von diesen Gerüchten wissen Sie nichts über John Astor?«

»Der Name kommt mir bekannt vor, aber aus einem anderen Zusammenhang.«

»Ach ja?« Bundy beugte sich ein wenig vor.

»Ich hatte mal einen Patienten, vor Jahren, als ich noch am McLean war. Er zeigte Symptome einer vermeintlichen dissoziativen Identitätsstörung.«

»Und sein Name war John Astor?«

Macbeth schüttelte den Kopf. »Nein, das war der Name, den er einem seiner Alter Egos gegeben hatte.«

»Seiner Alter Egos?«

»Die dissoziative Identitätsstörung wird zuweilen auch als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Ein Trauma, eine Verletzung oder eine Krankheit bewirkt, dass der Patient Zuflucht in verschiedenen Identitäten sucht. Alternativen Identitäten. Und einer davon hat er den Namen John Astor gegeben.«

»Was ist aus diesem Patienten geworden?«

»Das ist nicht Ihr Mann, falls Sie das meinen«, erwiderte Macbeth. »Er ist leider gestorben. Hat Selbstmord begangen. Ihn habe ich verloren.«

»Verstehe.« Bundy dachte kurz nach und hielt Macbeths Blick mit seinen faszinierenden Augen fest. »Haben Sie schon mal von einer Gruppe gehört, die sich die Simulisten nennt?«

Macbeth runzelte die Stirn. »Nein, das habe ich nicht. Warum fragen Sie?«

»Aber Sie wissen, was der Blinde Glaube ist?«

»Ja …« Macbeth seufzte und versuchte gar nicht erst, seine Ungeduld zu verhehlen. Er sah durch das dunkle Glas auf die Stadt hinaus. »Ich habe vom Blinden Glauben gehört.«

»Und natürlich kennen Sie Melissa Collins?«

Macbeth wandte sich wieder vom Fenster ab. »Melissa? Was hat das denn mit Melissa zu tun?«

Einen Augenblick lang sah Bundy so aus, als würde er Macbeth und seine Reaktionen einschätzen. »Wissen Sie es denn nicht?«

»Was? Worum zum Teufel geht es hier eigentlich?«

»Es tut mir leid, Dr. Macbeth, ich dachte, Sie würden es inzwischen wissen. Der Massenselbstmord auf der Golden Gate Bridge. Melissa Collins war die Anführerin der Gruppe. Sie war die Geschäftsführerin des Unternehmens, für das diese Menschen gearbeitet haben.«

Macbeth starrte Bundy an. Er hatte von den Selbstmorden gehört, hatte gewusst, dass es sich dabei um sehr junge Menschen gehandelt hatte, aber da er sich zu dieser Zeit in Kopenhagen aufgehalten hatte, kannte er keine Details oder Namen. Melissa? Melissa war eine von ihnen gewesen? Während er versuchte, zu verarbeiten, was er von Bundy erfahren hatte, stach ihm der dunkle Fleck ins Auge, der von den diagonalen Streifen auf der Krawatte des FBI-Mannes fast völlig verdeckt wurde. Melissa war tot, und alles, woran Macbeth denken konnte, war, aus welchem genetischen Grund Bundy wohl eine derart ungewöhnliche Augenfarbe hatte und wie er zu dem Fleck auf seiner Krawatte gekommen war.

»Melissa …«, hörte sich Macbeth ein weiteres Mal sagen. Dann riss er sich zusammen und schüttelte energisch den Kopf. »Das glaube ich nicht. Nicht Melissa … Ich kenne keinen anderen Menschen, der weniger selbstmordgefährdet wäre als sie. Und das meine ich sowohl als Psychiater als auch als jemand, der mit ihr zusammen gewesen ist. Was immer auch passiert ist, sie kann unmöglich von der Golden Gate gesprungen sein.«

»Es besteht leider kein Zweifel daran. Absolut kein Zweifel. Sie ist nicht nur gesprungen, sie schien die anderen auch dabei anzuführen. Ein Polizist hat alles mit angesehen, und es wurde auch von den Sicherheitskameras aufgezeichnet. Sie haben sie nie als möglicherweise selbstmordgefährdet eingeschätzt?«

»Nein, natürlich nicht. Melissa war der ausgeglichenste Mensch, den ich kenne, und der letzte Mensch, der so etwas tun würde.« Macbeth stellte fest, dass das, was er gerade gesagt hatte, fast wie ein Echo der Dinge klang, die Casey über Gabriel Rees gesagt hatte.

»Wann haben Sie Melissa zum letzten Mal gesehen?«

»Vor etwa drei Jahren. Bevor ich nach Dänemark gegangen bin. Wir … Nun ja, wir gingen getrennte Wege. Sie übernahm einen Forschungsposten in Los Angeles. Ich hatte keine Ahnung, dass sie nach San Francisco gezogen war oder dass sie ein Softwareunternehmen gegründet hat, daher konnte ich eins und eins nicht zusammenzählen, als ich von dem Vorfall auf der Golden Gate hörte.« Macbeth schüttelte den Kopf. »Ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Und war sie zu dieser Zeit, als Sie sie zuletzt gesehen haben, mit einer bestimmten Gruppe involviert?«

»Was für einer Gruppe?« Macbeth merkte, dass er Bundy die Schuld für seine Verwirrung gab. Nichts von dem, was er gerade hörte, ergab einen Sinn. Er war irritiert, dass er keine Trauer spürte, wusste jedoch, dass das noch kommen würde. Irgendwann. Die Welt drang immer erst nach und nach zu John Macbeth vor, da sie erst die hinauszögernden Relais seiner internen Schaltkreise überwinden musste.

»Ich meine, ob sie eine besonders starke religiöse Überzeugung hatte oder zu einer Glaubensgruppe gehörte. Möglicherweise einer Randgruppe.«

»Ob sich Melissa einem Kult angeschlossen hatte? Das ist doch verrückt. Sie hatte keine Zeit für Religion, sei sie nun Mainstream oder andersartig. Soweit ich weiß, war sie Atheistin. Nein … Wenn das der Grund für das ist, was mit ihr passiert ist, dann glaube ich es nicht.«

Inzwischen waren sie auf der anderen Seite des Common, und Boston lag weiterhin flach und dunkel hinter der Rauchglasscheibe.

»Wir haben Beweise, dass sie sich mit einer Gruppe eingelassen hatte, die viele Kriterien eines Kults erfüllt«, sagte Bundy. Während er sprach, schien der FBI-Mann zu keinerlei Gesichtsausdruck oder Emotion fähig zu sein. Vielleicht war dies etwas, das einem in Quantico beigebracht wurde.

»Wie bitte? Sie glauben, Melissa hätte zum Blinden Glauben gehört?«

»Nein … nicht zum Blinden Glauben. Hat sie Ihnen gegenüber je John Astor erwähnt?«

»Astor? Nein, nicht dass ich wüsste. Ich bezweifle, dass damals schon einer von uns etwas von ihm gehört hatte. Erst in den letzten Monaten …«

»Sprach sie je von einem Samuel Tennant oder Jeff Killberg?«

Macbeth dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Wer ist das?«

»Eine der Personen, mit denen Melissa in San Francisco zusammengearbeitet hat, hieß Deborah Canning. Canning stammt ebenfalls aus Boston. Wissen Sie, ob Melissa sie bereits kannte, bevor sie nach Kalifornien gezogen ist?«

»Falls dem so war, dann hat sie sie nie erwähnt. Würden Sie mir jetzt bitte verraten, warum Sie sich derart für Melissa interessieren, wenn es nur ein simpler Selbstmord gewesen ist?«

»Wenn siebenundzwanzig junge Menschen gleichzeitig von der Golden Gate springen, kann man das wohl kaum als simplen Selbstmord bezeichnen«, entgegnete Bundy. »Die California Highway Patrol untersucht den Vorfall noch. Ich interessiere mich mehr für die Umstände, die dazu geführt haben.«

»Und wieso muss ich jetzt an den Homeland Security Act denken?«

»Es gibt im Moment eine Anzahl gefährlicher Kulte da draußen, und einige stellen eine potenzielle Gefahr für die nationale Sicherheit dar. Ich suche nur nach einer möglichen Verbindung zwischen dem, was in San Francisco passiert ist, und bestimmten Personen oder Interessengruppen. Es könnte durchaus sein, dass es gar keine Verbindung gibt, aber wir müssen dem pro forma dennoch nachgehen.«

Macbeth nickte, auch wenn Bundy auf ihn nicht wie jemand wirkte, der etwas nur pro forma machte.

»Ah, wir sind da …«, sagte Bundy mit einem Lächeln, das gar nicht erst versuchte, seine seltsamen Augen zu erreichen. Macbeth bemerkte, dass sie vor dem Haus anhielten, in dem sich Caseys Apartment befand. »Wir warten, bis Sie Ihre Sachen nach oben gebracht haben, dann bringen wir Sie zum Schilder Institute. Das ist das Mindeste, was wir tun können, wenn wir Ihre Zeit schon in Anspruch nehmen.«

»Sie haben meine Zeit nicht in Anspruch genommen, und ich habe das Taxigeld gespart. Aber ich kann mit dem Taxi zum Institut fahren. Vorher habe ich noch einiges zu erledigen.«

»Wie Sie wollen, Dr. Macbeth. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Hilfe.«

Nachdem er ausgestiegen war und ihm der schweigsame Fahrer sein Gepäck vor die Füße gestellt hatte, sah Macbeth mit an, wie die Limousine wieder auf die Straße fuhr und um die Ecke bog. Dabei dachte er über die Tatsache nach, dass er direkt vor dem Apartment seines Bruders stand, obwohl er weder Bundy noch dem Fahrer die Adresse genannt hatte.