6. JOSH HOBERMAN. VIRGINIA.
Josh Hoberman saß auf dem Rücksitz des schwarzen Wagens, und ihm war übel.
Während sie über die lange Auffahrt zur Straße fuhren, sah er zu, wie sein Haus zwischen den Bäumen verschwand, ebenso wie das Verandalicht, das auszuschalten er vergessen hatte. Die Strecke bis zur Hauptstraße war nicht gepflastert, und Hoberman hatte sich einen SUV gekauft, um jeden Tag von seinem Haus zum Bahnhof zu fahren, von wo aus er dreimal die Woche in seine Klinik in DC fuhr. Den Rest der Woche arbeitete er alleine zu Hause. Die Stoßdämpfer des Crown Victoria schwächten die Löcher und Rillen in der Straße ein wenig ab, doch die Turbulenzen wirkten sich immer noch auf Hobermans Magen aus.
»Wohin fahren wir?«, fragte er Roesler, der neben ihm im Heck des Wagens saß, während die anderen beiden Agenten schweigend die vorderen Plätze einnahmen. Warum hatten sie drei Agenten geschickt?
»Ich vermute, dass Sie nach DC müssen, Sir, aber ich weiß es nicht mit Sicherheit«, antwortete Roesler mit derselben oberflächlichen Höflichkeit, die er die ganze Zeit an den Tag legte. Hoberman begriff, dass er für Roesler nur ein Paket war, das dieser abzuliefern hatte, mehr nicht. »Wir bringen Sie nur bis zur Culpeper-Militärbasis. Dort werden Sie von einem Hubschrauber abgeholt.«
»Um nach Washington zu fliegen? Mit dem Wagen braucht man doch gerade mal eineinhalb Stunden …«
»Ich weiß wirklich nicht, wie Ihr endgültiges Ziel lautet, Professor Hoberman. Ich schätze, dass man Sie in Culpeper genauer informieren wird.«
Inzwischen waren sie auf dem Highway, und Hoberman lehnte sich auf dem Ledersitz zurück und dachte über die Natur ererbter Erinnerungen und kultureller Gewohnheiten nach. Hoberman war ein Jude, der mitten in der Nacht von bewaffneten Regierungsbeamten abgeholt wurde, die ihm nicht sagen konnten, wohin man ihn bringen würde, und der Enkel eines seit Langem toten Juden, der mitten in der Nacht von bewaffneten Regierungsbeamten abgeholt worden war, die ihm nicht sagen konnten, wohin man ihn bringen würde.
Den Rest ihrer halbstündigen Reise schwiegen sie bis auf eine Ausnahme, als der Anzugträger auf dem Vordersitz verkündete, sie würden sich »dem Zielort nähern«. Hoberman war nicht sonderlich überrascht, dass der Regionalflughafen von Culpeper zu dieser Uhrzeit geschlossen war, aber der Sicherheitsmann salutierte und ließ den Wagen durch das Tor.
Ein großer, schwarzer Hubschrauber stand wie ein riesiger Käfer glänzend im Licht der Scheinwerfer auf der Startbahn, und seine Rotoren setzten sich bereits in Bewegung, als der Wagen näher kam. Roesler und die anderen Agenten führten Hoberman mit unwiderstehlicher Höflichkeit unter den sich drehenden Rotorblättern zu den Stufen, die zur Tür führten. Der Mann, der ihn dort erwartete, war lässig in ein schwarzes, kurzärmliges Polohemd und eine helle Cargohose gekleidet und lächelte ihn breit an.
»Professor Hoberman?« Er streckte eine Hand aus und grinste noch breiter. »Danke, dass Sie zu dieser unchristlichen Stunde gekommen sind. Ich bin Agent Bundy. Dann wollen wir es Ihnen mal bequem machen.«
»Bundy?«
»Wir sind nicht miteinander verwandt …«, erwiderte der Geheimdienstmann fast schon automatisch, während er noch immer freundlich lächelte und einen Schritt nach hinten machte, damit Hoberman den schmalen Raum zwischen der Pilotenkabine und der gegenüberliegenden Tür betreten konnte. Als Bundy die Tür öffnete, bemerkte Hoberman, dass er gebräunt und muskulös war. Die professionelle Muskulatur eines Menschen, dessen Job sowohl Muskelkraft als auch Gehirnschmalz erforderte. Außerdem fielen ihm Bundys ungewöhnliche Augen auf, die zweifarbig waren: Die Iris war außen hellblau, rings um die Pupillen jedoch haselnussbraun.
»Hier entlang, Professor Hoberman«, sagte Bundy.
Die Passagierkabine des Hubschraubers überraschte Hoberman. Sie war hell und luxuriös, mit cremefarbenen Ledersesseln, wie er sie noch in keinem Flugzeug gesehen hatte, egal in welcher Klasse. In der Kabine saß bereits ein anderer Mann, den Bundy als Bob Ryerson vorstellte. Ryerson trug einen dunklen, teuer aussehenden Anzug und wirkte für diese nachtschlafende Zeit sehr gepflegt und ausgeruht. Sein Körperbau entsprach in etwa dem von Bundy.
»Ist das hier Marine One?«, fragte Hoberman. Bundy lachte.
»Nein, Sir, der Hubschrauber, der hauptsächlich als Marine One eingesetzt wird, ist weitaus größer als dieser hier. Aber eigentlich ist Marine One jeder Hubschrauber, in dem der Präsident sitzt, aber auch nur, wenn sich der Präsident an Bord befindet. Doch Sie gehen recht in der Annahme, dass dies ein HMX-1 ist: Marinehubschrauber Squadron One … exklusiver Präsidententransport. Bitte setzen Sie sich und schnallen Sie sich an, damit wir starten können, Professor Hoberman.«
»Und Sie und Bob hier«, meinte Hoberman, ohne sich hinzusetzen, »was sind Sie? CIA? NSA? FBI? DHS? Oder habe ich irgendwas aus der geheimdienstlichen Buchstabensuppe unseres Landes vergessen?«
»Alles Genannte trifft in gewisser Hinsicht zu«, erwiderte Bundy noch immer lächelnd. »Ich bin offiziell ein Special Agent des FBI, aber meine Stellenbeschreibung ist etwas … flexibler. Nach dem elften September ist alles ein wenig verschwommener geworden. Aber Bob und ich haben beide die Aufgabe, für die Sicherheit und den Schutz des Präsidenten zu sorgen, falls es das ist, was Sie gemeint haben. Bitte setzen Sie sich, Professor Hoberman, und schnallen Sie sich an, dann fliegen wir ab.«
»Wohin?« Hoberman blieb so entschlossen stehen, wie er es fertigbrachte. »Und warum? Ich habe das Recht zu erfahren, wo zum Teufel Sie mich hinbringen und aus welchem Grund Sie es tun.«
Bundy lächelte nachsichtig. »Ich glaube, Sie haben eine Nachricht erhalten …«
»Darin stand nur, Wer, aber nicht Wo und Warum.«
»Ich kann Ihre erste Frage beantworten, Doktor«, sagte Ryerson. Hoberman fiel auf, dass er nicht so gesellig wirkte wie Bundy, der eher einem Gebrauchtwagenhändler glich. »Wir fliegen nach Camp David in Maryland. Und was Ihre zweite Frage angeht, so kennt keiner von uns den Grund, aus dem Sie dorthin gebeten wurden, aber wir sollen Ihnen das hier geben.« Er holte ein Dossier aus einem schwarzen Lederaktenkoffer und reichte es Hoberman.
Das Dossier war mit dem unversehrten Siegel des Präsidenten verschlossen. Hoberman starrte es genauso an, wie er die Waffe in seiner Hand angesehen hatte. Es wirkte irgendwie fremd, fehl am Platz. Hoberman stand in der luxuriösen Umgebung eines Hubschraubers aus der Flotte des Präsidenten mit den makellosen cremefarbenen Sesseln, dem Tisch aus Kirschbaumholz und den grünen Vorhängen und kam sich selbst ebenfalls fremd und fehl am Platz vor.
»So, Professor Hoberman«, sagte Bundy und deutete auf einen der Sessel. »Wenn Sie jetzt nichts dagegen hätten …«