18. JOSH HOBERMAN. MARYLAND.
»Die abrahamitische Tradition ist offenbarend«, sagte Josh Hoberman. »Alle jüdisch-christlichen Religionen, der Islam eingeschlossen, glauben an einen Gott, der parallel zur Welt der Menschen existiert, und daran, dass den Gläubigen letzten Endes irgendeine Wahrheit enthüllt wird. Die Interaktion zwischen dem Menschen und seinem Gott – jede biblische Theophanie – geschieht in Form von Visionen: brennende Büsche, Rauchsäulen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Präsidentin Yates ging neben Hoberman her. Sie hatte den Blick auf den Weg gerichtet und machte ein ernstes Gesicht, als sie über die Worte des Psychiaters nachdachte. Es machte den Anschein, als verbänden zwei Freunde eine philosophische Debatte mit einem gemächlichen Spaziergang durch den Park, nur dass sie keine Freunde waren und sich nicht in einem Park, sondern in Camp David aufhielten, wobei ihnen Bundy, der Mann vom Secret Service mit den seltsam zweifarbigen Augen, in diskreter Entfernung folgte.
»Nur, dass Sie sich selbst sehr über Ihren Glauben definieren. Es könnte sein, dass die Art Ihres Glaubens, Ihr Glaube an eine Enthüllung durch Visionen, Sie empfänglicher für diese Vorfälle macht.«
»Sie glauben, dass ich mir aufgrund der Tatsache, dass sich Gott anderen enthüllt, vormache, er würde sich auch mir zeigen?« Yates schüttelte den Kopf. »Warum sehe ich dann nichts Dramatisches oder Majestätisches? Visionen von Präsident Taft in Hemdsärmeln oder einem Mitarbeiter des Weißen Hauses aus den 70er-Jahren sind nicht gerade göttliche Enthüllungen.«
»Aber Sie haben mir gegenüber verlauten lassen, dass die Visionen möglicherweise göttlichen Ursprungs sein könnten …«
»Ich weiß, dass Sie meinen Glauben vermutlich gering schätzen, aber es ist nun mal mein Glaube. Überdies ist es auch noch die Wahrheit, und wie Sie gesagt haben, wird die Wahrheit letzten Endes enthüllt werden. Sie sind besorgt, ich könnte glauben, der Herr habe eine besondere Botschaft an mich und dass das seine Art wäre, mit mir zu kommunizieren. Aber das ist es nicht, was ich glaube. Alle Dinge, die in diesem Universum geschehen, passieren auf Gottes Befehl hin. Alles, was mit der Natur und Gottes Schöpfung zu tun hat. Diese Visionen eingeschlossen. Aber ich weiß, dass sie keine Botschaften direkt an mich sind, sondern allen gelten. Es hat weitere Berichte gegeben – Visionen, die auf der ganzen Welt gemeldet wurden. Ich werde dafür sorgen, dass Sie Zugang zu allem erhalten …« Sie warf Bundy über die Schulter hinweg einen gebieterischen Blick zu. »Einer dieser Vorfälle ist ganz besonders interessant. Darin geht es um ein Mädchen in Frankreich, und da steht einiges zwischen den Zeilen.« Sie blieb stehen und drehte sich zu dem Psychiater um. »Wissen Sie, wenn ich nicht die Einzige bin … Wenn alle diese Visionen haben, dann ist das etwas, das ich als Einmischung Gottes in unsere Angelegenheiten ansehen würde. Wenn das der Fall ist, dann weiß ich, dass uns eine Zeit des Jüngsten Gerichts bevorsteht. Wenn das der Fall ist, dann möchte ich nicht für unzulänglich erklärt werden, Professor Hoberman, das können Sie mir glauben.«
Da war wieder dieser Fokus. Und dieses ungute Gefühl in Hobermans Magengrube.
Während ihrer Unterhaltungen hatte Hoberman in den vergangenen Tagen einen Blick auf das werfen können, was hinter Yates befehlshaberischer Autorität und ihrem hausgemachten Scharfsinn lauerte. Und das, was er da gesehen hatte, jagte ihm Angst ein. Es war fast so, als wäre er versehentlich auf ein Filmset geraten und hätte hinter die Fassaden der Gebäude geblickt, um zu erkennen, dass sich dahinter nichts als Stützbalken befanden: Elizabeth Yates war eine Frau, der es völlig, absolut und erstaunlicherweise an jeglicher Persönlichkeit mangelte. Hoberman hatte in Meetings gesessen und sie in Gegenwart anderer beobachtet, wobei ihm klar geworden war, dass sich ihr Verhalten kaum merklich veränderte, je nachdem, mit wem sie gerade interagierte. Er begriff, dass sie die Projektion von Attributen, die gar nicht vorhanden waren, meisterhaft beherrschte. Sie war offenkundig keine dumme Frau, aber Hoberman hatte rasch festgestellt, dass ihre intellektuellen Fähigkeiten begrenzt waren. Irgendwie gelang es ihr, etwas zu simulieren, was gar nicht vorhanden war, und das, was sie besaß, zu verstärken, und zwar je nach Kontext und je nachdem, was sie erreichen wollte.
Allerdings war es nicht Yates’ Mangel an Intellekt oder Persönlichkeit gewesen, der Hoberman Angst einjagte. Er hatte die Gespräche informell, allgemein und oberflächlich gehalten, jedoch in jede Diskussion eine anscheinend unschuldige Frage oder Beobachtung eingeflochten, die ein verborgenes Diagnosewerkzeug darstellte. Das Bild, das daraufhin vor ihm erschien, war das einer Frau mit einer einzigartigen Vision, einem unerschütterlichen Willen und einem unnachgiebigen Glauben. All dies stellten potenzielle Tugenden eines Weltpolitikers dar. Doch er hatte auch mögliche Hinweise auf etwas Dunkleres entdeckt.
Wenn es an der Präsidentin eines gab, das man als außergewöhnlich bezeichnen konnte, dann war das ihr Fokus, und dieser war fest auf die Mission gerichtet, die auf dem Treibsand eines engstirnigen Nationalismus, des Aberglaubens und einer rechtschaffenen Bigotterie basierte. Wenn sie ihre Weltansicht beschrieb, benutzte Yates wiederholt die Worte »uns« und »wir« ebenso wie »sie«. Die erste Person Plural erstreckte sich nur bis zu den Grenzen der Vereinigten Staaten, und er vermutete, das auch viele innerhalb dieser Grenzen in die Kategorie »sie« fielen – außerdem ging Hoberman davon aus, selbst auch dazu gezählt zu werden.
Sie gingen weiter. Abgesehen von einem Hubschrauberlandeplatz und einigen etwas moderneren und funktionaleren Gebäuden, die nicht zu sehen waren, stellte Camp David eine Ansammlung aus Holzhäusern und -hütten dar, die zwischen dicken Eichen und Hickorybäumen standen, umgeben und miteinander verbunden durch einander kreuzende Waldwege. Nicht zum ersten Mal fühlte sich Hoberman im Freien klaustrophobisch, als enge der dichte Wald ihn ein.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keinem Glauben anhängen?«, fragte ihn Yates, nachdem sie zwanzig Meter schweigend zurückgelegt hatte.
»Ich bin Humanist. Ich teile Ihren Glauben nicht, aber das heißt noch lange nicht, dass ich an nichts glaube.«
»Aber Sie glauben nicht an Gott?«
»Nein. Ich bin der Ansicht, das Universum ist zu wunderbar und geheimnisvoll, um sich auf derart simple Weise erklären zu lassen. Man könnte sie fast schon gedankenlos nennen, wenn Sie mir diese Worte erlauben, Frau Präsidentin.«
»Jeder ist berechtigt, eine eigene Meinung zu haben, Professor Hoberman.«
»Wirklich?«
Yates sah ihn einen Moment lang an. »Dann begründet sich Ihr Glaube also auf die Wissenschaft?«
»Ja.«
»Die Wissenschaft ist ein Werkzeug«, erwiderte Yates. »Ein von Gott gegebenes Mittel. Wissenschaft und Technologie sind Mittel zum Zweck und kein Zweck an sich, und dennoch behandeln viele Menschen die Wissenschaft, als wäre sie eine Religion. Es gibt Hohepriester, Evangelisten und Bigotterie in der Wissenschaft, ebenso wie in jeder anderen Religion.«
»Ich sehe die Wissenschaft anders. Ich glaube, dass sie der einzige Weg ist, um uns und unser Universum zu verstehen. Aber mein Glaube oder das Fehlen eines solchen stehen hier nicht zur Debatte. Es ist der Ihre, der wichtig ist, und die Frage, ob er in irgendeiner Weise mit diesen Visionen in Verbindung steht.« Hoberman hielt kurz inne. Er beobachtete einen Breitflügelbussard, der mit einem einzigen Flügelschlag die blaue Fläche zwischen den Hickoryhainen überquerte. »Was mir am meisten Sorgen macht, ist, wie Sie alle zukünftigen Halluzinationen interpretieren könnten. Dass Sie ihnen irgendeine Bedeutung zuschreiben, die gar nicht vorhanden ist.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass ich mein Amt nicht mehr ausüben kann?« Yates blieb erneut stehen und hielt ihn mit ihrem professionell geschulten Blick fest. »Es kommt mir so vor, als würden Sie von dem Glauben und der Persönlichkeit sprechen, die vor diesen Erlebnissen vorhanden waren.«
»Dieses Phänomen und Ihre Persönlichkeit sind auf komplexe Weise miteinander verbunden, daher ist es unmöglich, das eine zu bewerten, ohne das andere mit einzubeziehen. Und was Ihre Tauglichkeit, Ihr Amt weiterhin auszuüben, betrifft, kann ich nur aus klinischer Sicht meine Meinung beisteuern – alles Weitere haben andere zu entscheiden.«
»So ist es, Professor Hoberman. Das amerikanische Volk muss entscheiden, und es hat seinen Willen bereits kundgetan. Mir wurde die Aufgabe übertragen, dieses große Land zu lenken, das möglicherweise die einzige Nation darstellt, die Gottes Segen während der Prüfungen, die uns bevorstehen, auf ihrer Seite weiß.«
Erneut flackerte etwas Kaltes und Dunkles in ihren hellblauen Augen auf. Sie wandte den Blick ab, lächelte und ging weiter.
»Das Wetter scheint es gut mit uns zu meinen«, sagte sie beiläufig, als es bei ihr wieder einmal zu einer spontanen Stimmungsschwankung kam, wie es in den letzten Tagen relativ häufig der Fall gewesen war.
»Es sieht ganz danach aus«, stimmte ihr Hoberman zu und sah zum Himmel über dem Pfad hinauf, wo der Breitflügelbussard erneut ganz kurz auftauchte und einen sauberen Bogen flog, während er im Wald nach Beute suchte.