24. FABIAN. FRIESLAND.
Das Mobbing hörte auf, bevor es richtig angefangen hatte, aber dann kamen die Blicke, die Verdächtigungen, die geflüsterten Behauptungen.
Mit gebrochenem Kiefer, drei lockeren Zähnen, einer angeknacksten Rippe und einer schweren Gehirnerschütterung blieb Maartens der Schule zwei Wochen fern, von denen er die ersten drei Tage im Krankenhaus in Leeuwarden verbrachte, und als er zurückkehrte, war sein Gesicht noch immer verfärbt und angeschwollen und sein Kiefer mit einem Draht gesichert.
Anhand der aufgeschnappten Gerüchte ging Fabian davon aus, dass Maartens den Weg zurück zur Stadt gewankt war, um dann auf der Straße zusammenzubrechen. Man hatte einen Krankenwagen und die Feuerwehr gerufen. In der kleinen Küstengemeinde kam es nur selten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, und man ging anhand von Maartens’ Verletzungen davon aus, dass es sich um mehrere Angreifer handelte. Ferner vermutete man, dass der Angriff an der Stelle stattgefunden hatte, an der Henkje zusammengebrochen war, und suchte nach Antworten, aber er war erst gute vierundzwanzig Stunden später in einem Zustand, in dem er diese liefern konnte. Dann setzte ihn die Polizei unter Druck, damit er die Identität der Angreifer preisgab oder sie zumindest beschrieb.
Also gab er ihnen genau das. Henkje beschrieb drei ältere Jungen, die sechzehn oder siebzehn sein mochten und die er nicht kannte, was in einer derart kleinen Gemeinde nur bedeuten konnte, dass es sich um Außenseiter handelte. Als Henkje den Polizisten erzählte, dass ihn einer der Jungen nach Geld gefragt habe, warf er noch ein, dieser hätte mit einem fremdländischen Akzent gesprochen. Nachdem er den Fremden gesagt hatte, er habe kein Geld dabei, hätten ihn diese angegriffen, und er wäre wehrlos zu Boden geworfen und getreten worden. Er behauptete, der Angriff hätte einige Hundert Meter von der Stelle, an der man ihn gefunden hatte, stattgefunden.
Die Polizei hatte ihm die Geschichte ebenso abgekauft wie die Gemeinde, da alle nur zu gern bereit waren zu glauben, dass eine derartige Brutalität von außen gekommen sein musste. Henkjes Ausschmückung in Form des Akzents hatte alle dazu bewegt, zustimmend zu nicken: So etwas konnte in der heutigen Zeit nun einmal passieren.
So lange Henkje nicht in die Schule kam, ließ sein Gefolge aus weniger aggressiven Rowdys Fabian in Ruhe. Er war sich ziemlich sicher, dass sie nicht wussten, was wirklich passiert war: Ihnen fehlte der Fokus in Form von Henkje und sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich über die peinliche Tracht Prügel, die ihr Anführer hatte einstecken müssen, aufzuregen.
Der Anblick von Henkje, der mit aufgeblähtem, in Grün-, Lila- und Blautönen schimmerndem Gesicht zurückkehrte, den Kiefer mit einem Draht gesichert, schien ihre Aufregung nur noch weiter anzustacheln. Am zweiten Tag nach Henkjes Rückkehr begegneten Fabian und er sich in der Pause auf einem Flur in der Schule, und er war nicht in Begleitung seiner Freunde. Ihre Blicke trafen sich, und Henkje sah sofort zu Boden. In diesem Moment wusste Fabian, dass er mit Maartens und seinen Freunden keinen Ärger mehr bekommen würde. Aber er verspürte keinen Triumph, und wann immer Fabian Henkje sah, was jetzt nur noch selten passierte, da ihm der größere Junge tunlichst aus dem Weg ging, verspürte er den Drang, sich zu entschuldigen, alles wieder gutzumachen und ihm das Déjà-vu, das er am Strand gehabt hatte, zu erklären. Doch nichts von alledem machte Sinn.
Henkjes Kiefer blieb noch einen Monat lang verdrahtet. Aber selbst als die Schwellung und Verfärbung aus seinem Gesicht verschwunden waren, wirkte er wie ein anderer Junge. Etwa zu der Zeit, als Henkjes Kiefer vom Draht befreit wurde, bemerkte Fabian, dass sich die anderen veränderten. Zuerst Henkjes Freunde, doch schon bald begannen auch andere in der Schule, Fabian zu meiden. Sie wandten den Blick ab. Sogar Robin Hoekstra, der am ehesten das war, was man als Freund ansehen konnte, und der in Geschichte neben ihm saß, schien ihm auszuweichen. Fabian überlegte, ob er Henkje zur Rede stellen sollte, aber er ließ es auf sich beruhen. In vielerlei Hinsicht passte es ihm ganz gut, dass seine Altersgenossen auf Abstand blieben, da er schon immer das Gefühl gehabt hatte, nicht zu ihnen zu gehören, sondern in der Zeit, der Geografie und der Gesellschaft bloß herumzutreiben.
Drei Monate nach dem Angriff zog die Maartens-Familie aus der Gegend fort und weiter ins Inland nach Bakkefean, was jedoch nichts mit dem Zwischenfall zu tun hatte. Fabian musste sich in der Schule nun nicht länger seinen Schuldgefühlen stellen. Nur noch den anderen. Die blieben weiterhin distanziert und wirkten beinahe so, als ob sie Angst vor ihm hätten. Er erwischte sogar einen der Lehrer dabei, wie er ihm einen seltsamen Blick zuwarf.
Das Leben ging weiter. Fabian kehrte noch immer jede Woche an den Strand zurück und suchte an seinem Lieblingsplatz Trost, aber der Ort war jetzt auf irgendeine Weise nicht mehr so besonders, als wäre der Sand, auf dem er saß, noch immer mit Henkjes Blut getränkt.
Erneut saß er auf dem Strand neben dem Felsen, und der gewaltige Himmel schien Land und Meer platt zu drücken. Alles war genau so wie an dem Tag, an dem er Henkje getroffen hatte, und doch war alles anders. Der Himmel war immer noch so groß, aber heute glitten riesige grau-weiße Wolken wie die Segel von Geisterschiffen darüber hinweg, und es war einige Grad kühler.
Fabian dachte an die Wut, die er an diesem Tag verspürt hatte. Er war zu einem Tier geworden, einem Wesen, das nur aus urtümlichen Instinkten und geistloser Gewalt bestand. Am meisten besorgte ihn, dass er es genossen und sich gefühlt hatte, als sei irgendetwas in ihm geweckt worden. In seinen vierzehn Jahren hatte er sich nie kräftiger und lebendiger gefühlt. Nie war ihm die Welt realer vorgekommen.
Er saß mit dem Rücken an den Felsen gelehnt da, stocherte mit einem von Sonne und Salz ausgebleichten Stock im Sand herum und ließ seine Gedanken treiben.
Auf einmal überkam ihn dieses Gefühl ein weiteres Mal mit einer alles umfassenden Macht. Wie ein Déjà-vu, das doch keines war. Es war intensiver. Er setzte sich aufrecht hin und sah sich um. Alles war dasselbe, der Himmel, die Temperatur, das Licht. Nichts hatte sich verändert, und dennoch klopfte das Herz schneller in seiner Brust und er hörte das Blut in seinen Adern rauschen. Er bekam Angst, dass dies das Vorspiel eines weiteren Akts unkontrollierbarer Gewalt werden konnte oder eines weiteren Vorfalls, bei dem sich die Zeit wiederholte.
Er blickte zum Horizont jenseits des Meeres und ließ den Blick dann über die Landzunge, die Dünen und den Deich dahinter schweifen. Alles war so wie vorher, nichts hatte sich verändert. Doch etwas war anders. Er konnte es nur nicht sehen. Noch nicht. Noch einmal blickte er zum Horizont und sah sich langsam, sich einmal um die eigene Achse drehend, um; konzentriert, mit verengten Augen, jedes Detail in sich aufnehmend.
Die Landzunge. Etwas an dem Finger aus Gras und Sand, der sich in die Nordsee hinausschob, stimmte nicht. Seine unbestimmte Panik wurde plötzlich präziser und konzentrierter. Der Leuchtturm. Der Leuchtturm war verschwunden. Fabian taumelte einige Schritte nach hinten. Wie konnte der Leuchtturm, der seit einhundertundfünfzig Jahren auf der Landzunge Wache hielt, auf einmal verschwinden? Er schloss die Augen, aber als er sie erneut öffnete, war der Leuchtturm nicht wieder erschienen.
Wie ein Übelkeitsanfall wurde das seltsame Gefühl rasch intensiver und schien bis tief in ihn hinein zu reichen. Das war weitaus mehr als ein Déjà-vu oder ein Gefühl unerklärlicher Resonanzen: Das war eine seismische Bewegung seiner Auffassung von Zeit und Raum, während sich das Universum um ihn herum und mit ihm zusammen neu formierte. Er begann zu zittern. Noch eine Welle, die sogar noch heftiger war.
Die Schiffsegelwolken waren verschwunden, der Himmel jetzt klar. Auch die Kühle in der Nachmittagssonne war nicht mehr zu spüren. Fabian wusste, dass er an keinem anderen Ort war – dies war noch immer genau dieselbe Stelle, an der er vor einer Sekunde gestanden hatte –, sondern zu einer anderen Zeit.
Stimmen. In der Ferne. Hinter ihm.
Er wirbelte herum und schaute in Richtung Land. Wie der Leuchtturm auf der Landzunge war auch die sanfte grüne Erhebung des Deichs verschwunden. Jetzt gab es keine klare Grenze mehr zwischen Strand und Land. Stattdessen ging der Sand in ein schlammbraunes Band über, das sich wiederum in ein hässliches Gewirr aus Löffelkraut, Schilfgras und Wegerich verwandelte. Woher wusste er auf einmal, was das für Grasarten waren? Warum kam ihm diese fremdartige Landschaft nicht fremd vor? Fabian wurde vom Klang der Stimmen aus seinen Gedanken gerissen. Vieler Stimmen. Er konnte nicht sehen, wer da sprach, aber er vermutete, dass sich diese Personen hinter den Gräsern aufhalten mussten. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass er keine Angst mehr hatte – überhaupt keine Angst mehr –, aber er wusste instinktiv, dass er sich den Stimmen unauffällig zu nähern hatte. Er ging vorwärts in Richtung Inland und auf die hoch aufragenden Gräser zu, um dann zu spüren, wie er auf die Knie sank. Als er nach unten blickte, erkannte er, dass der weiche, helle Sand durch grauen Schlamm ersetzt worden war. Watt. Er pflügte sich durch den Schlamm, watete langsam und angestrengt weiter, wobei er seine Turnschuhe verlor und ihm die Sportsocken von den Füßen gesaugt wurden. Erneut war er überrascht, dass er nicht überrascht war: Nichts ergab einen Sinn, und dennoch war alles irgendwie genau so, wie er es erwartet hatte.
Fabian brauchte zehn Minuten, in denen er sich schwitzend und keuchend durch das Wattenmeer arbeitete, bis er den trockneren Sand und den Saum aus hohem Gras erreicht hatte. Sobald er der Umklammerung des Watts entronnen war, schaute er auf seine nackten Füße und seine Jeans hinab, die jetzt durchweicht und schlammbedeckt war. Was immer gerade mit ihm passierte, was immer das war, es sah, klang und roch real und fühlte sich auch so an. Wenn er verrückt wurde, dann verlor er anscheinend in jeglicher Hinsicht den Verstand. Er bahnte sich einen Weg durch das Gras und verbarg sich darin, als er zum Rand kam. Vorsichtig schob er die Halme wie einen Vorhang auseinander und spähte hindurch.
Ein Dorf. Oder ein Lager. Oder irgendetwas dazwischen.
Etwa ein Dutzend Holzhäuser, die nicht dieselbe Größe zu haben schienen, standen auf einem Rechteck aus nackter Erde. Jedes Haus stand etwa dreißig Zentimeter über dem Boden auf Holzpfählen. Diese waren grob behauen worden, die Wände bestanden aus Flechtwerk und Lehm und die Dächer aus dicht geflochtenem Stroh. Anders als die tadellose, scharfkantige Geometrie der Ziegelsteinhäuser, die Fabian so gut kannte und die die Unabhängigkeit des Menschen von der Natur proklamierte, wirkten diese Hütten organisch und waren aus Materialien errichtet worden, die aus der unmittelbaren Umgebung stammten: Schlamm, Stroh aus Seegras und raue Holzstämme. Sie wirkten wie ein Teil der Landschaft und verschmolzen mit ihr.
Von einem Feuer auf dem mittleren Platz stieg Rauch auf. Einige Kinder liefen herum, spielten Fangen und lachten und kreischten, als sie einander auswichen oder sich einfangen ließen. Sie sahen aus wie alle anderen Kinder, wenn man ihre merkwürdige Kleidung außer Acht ließ. Eine Frau kam aus einer der Hütten, kletterte die Holzstufen nach unten und balancierte eine Art Eimer aus Holz und Haut auf ihrer Hüfte. Sie wirkte schon von Weitem reif und erschöpft und sah aus wie eine Frau und nicht wie ein Mädchen; doch Fabian schätzte, dass sie gerade mal ein oder zwei Jahre älter war als er. Ihr rotblondes Haar war zu einem Knoten auf dem Hinterkopf hochgesteckt. Sie war hübsch und hatte gleichmäßige, gut definierte Gesichtszüge, aber Fabian konnte auch aus dieser Entfernung erkennen, dass ihre Haut rau und an der Nase und den Wangen gerötet war, als wäre sie wettergegerbt. Als sie sich mit ausdruckslosem Gesicht in seine Richtung wandte, duckt er sich. Anscheinend hatte die junge Frau nicht gesehen, dass sich Fabian im Gras versteckte, aber sie kam direkt auf ihn zu. Er ließ sich so weit zurückfallen, wie er es wagte, ohne dass ihn die Bewegung der langen Grashalme verriet. Inzwischen konnte er sie deutlich sehen: Sie trug eine gelbe Tunika, einen langen, senffarbenen Rock mit einem etwas längeren Unterrock darunter. Fabian wusste sofort, dass er Kleidungsstücke vor sich hatte, die nicht in diese Zeit gehörten. Kurz dachte er darüber nach, wie verrückt diese ganze Situation doch war, und fragte sich, ob er eine Art Reenactment vor sich hatte – vielleicht hatte man hier ja eine Art lebendiges Museum aufgebaut, eine Art Themenpark rund um das finstere Mittelalter. Doch das ergab keinen Sinn, und es erklärte auch nicht, wieso der Leuchtturm und der Deich verschwunden waren oder wieso sich das Watt jetzt an einer anderen Stelle befand.
Vielleicht gibt es ja doch Geister, dachte er. Möglicherweise war dies ein Dorf der Toten.
Inzwischen stand die Frau direkt vor ihm. Sie kippte den Ledereimer um und goss den Inhalt ins Gras, wobei sie Fabian beinahe getroffen hätte. Das Wasser, das sie ausschüttete, roch faulig, und der Geruch kratzte in Fabians Kehle, sodass er husten musste. Er wusste, dass er sich damit verraten hatte, von daher konnte er sich auch gleich ganz zeigen. Während seine Gedanken rasten, weil er nach den richtigen Worten suchte, Sätze bildete und das Unerklärliche zu erklären versuchte, stand er auf.
Sie standen sich unmittelbar gegenüber, nur einen Meter voneinander entfernt. Er konnte die Verzierungen auf dem Brokatband erkennen, mit dem sie ihr Haar nach hinten gebunden hatte, und die am Saum ihrer Tunika. Er sah die trockene, gerötete Haut auf ihrer Nase und den Wangen, roch ihren Duft, ihren Körpergeruch, der weder unsauber noch unangenehm war.
»Tut mir leid …«, stieß er endlich hervor. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich …«
Sie starrte direkt durch ihn hindurch, als ob er gar nicht da wäre, und sah das Gras an, bevor sie sich umdrehte und den Weg zurückging, den sie gekommen war. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er war nicht da gewesen.
Das war kein Phantomdorf. Fabian begriff, dass die Frau auch kein Geist war. Er war hier der Geist.