44. ARI. ISRAEL.
Ari Livnat hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl, als würde jemand am äußersten Rand seines Hörvermögens mit den Fingernägeln über eine Kreidetafel schaben.
Ihm war heiß, er war müde und langweilte sich, was bei dieser Art Einsatz normal war. Doch trotz alledem spürte er tief im Inneren eine nervenzerreißende Unruhe. Selbst so nah am Meer war die Luft noch Wüstenluft: rau, heiß und trocken, sodass einem die Lippen aufrissen. Aber Ari hatte das Gefühl, dass etwas Seltsames, etwas anderes in der Luft hing.
Ari stand neben Benny Kagan und den anderen seiner Einheit, ließ die in Tarnfarbe gekleideten Schultern hängen, bohrte den Stiefel in den Sand, hielt das Gewehr mit dem Lauf nach unten in der Hand und beobachtete die Demonstranten. Er hatte den Eindruck, dass diese jungen Männer, die alle ungefähr in seinem Alter waren, mit demselben Mangel an Enthusiasmus auf die Straße gegangen waren wie er. Vielleicht hatte man einige von ihnen ebenfalls dazu gezwungen. Sie in den zwangsläufigen Protest miteinbezogen. Oder es lag nur daran, dass es aufgrund der Geschichte von ihnen verlangt wurde.
Die Geschichte war etwas, das Ari verabscheute, größtenteils, weil er an diesem Ort und zu dieser Zeit geboren worden war und er sie damit von Geburt an als Ballast mit sich herumschleppen musste. Die Geschichte war die Musik, zu der er aufgewachsen war und die er nicht mehr hören konnte. Die Geschichte definierte ihn weitaus mehr, als wenn er als Italiener, Finne, Grieche oder Amerikaner geboren worden wäre. Und in diesem Moment hätte Ari alles dafür gegeben, mit einer dieser historisch unbelasteten Nationalitäten geboren worden zu sein. So lange er denken konnte, hatte er sich gezwungen gesehen, seine wahrgenommene Geschichte – Masada, Blutanklagen, antisemitische Falschmeldungen, Pogrome, den Holocaust, den Unabhängigkeits- und den Zermürbungskrieg – wie einen gelben Stern mit sich herumzutragen. Und er wollte kein Teil davon sein.
Er war nicht freiwillig Soldat geworden, er war Wehrpflichtiger. Am liebsten hätte er den Wehrdienst verweigert, aber er hatte keine religiöse oder politische Rechtfertigung und war auch kein Bademodenmodel oder eine andere Persönlichkeit, die sich vielleicht einen rechtlichen Kniff hätte zunutze machen können; außerdem musste er an seinen Vater denken. Es gab vieles im Leben, das Ari zynisch sah, aber sein Vater gehörte nicht dazu. Aris Vater hatte sowohl im Sechstagekrieg als auch im Jom-Kippur-Krieg gekämpft, war im Letzteren gefangen genommen und in die Hölle eines al-Mazzeh-Gefängnisses geworfen worden. Joe Livnat war ein sanfter, ruhiger Mann, dem sein Sohn sehr zugetan war. Sein Vater hatte nie darüber gesprochen, wie ihn die Syrer behandelt hatten, aber Ari hatte aus anderen Quellen von dem Schmutz und den Krankheiten, der Folter und den Schlägen erfahren, unter denen fast alle Gefangenen aus der israelischen Verteidigungsarmee hatten leiden müssen. Was Ari am meisten aufregte, war die Art, wie sich sein Vater immer in seine Schweigsamkeit zurückzog, wenn sie über diese Zeit sprachen, und er vermutete, dass das etwas mit der Schande der Unterlegenen zu tun hatte.
Das war auch das, was Ari an der Geschichte am meisten hasste: Wie sehr man sich auch anstrengte, sie war einfach unentrinnbar. Er wusste, dass sein Vater ihn verstanden und vielleicht sogar unterstützt hätte, wenn er beschlossen hätte, den Wehrdienst zu verweigern. Aber Ari hatte das Bedürfnis verspürt, es seinem Vater zuliebe durchzuziehen. Er fand, als könne er durch seinen Einsatz in der Armee eine auf der Familie liegenden Schande beseitigen und die leise Scham seines Vaters lindern.
Also stand Ari nun in seiner olivfarbenen Kleidung unter der Wüstensonne. Und jetzt, da der schlimmste Teil des Konflikts zwischen Juden und Arabern hinter ihnen zu liegen schien, konnte er nur hoffen, dass das Einzige, was er für den Staat Israel noch totschlagen sollte, die Zeit war.
Er trank einen Schluck aus seiner Feldflasche. Zumindest war dies keine staubige Wüstenkreuzung oder ein Straßenkontrollpunkt mitten in der Negev-Wüste. Allerdings hätte er sich viel lieber mit einem kühlen Bier am Strand entspannt. Im Moment war der Strand leer, die Sonnenschirme waren eingeklappt und die Liegen unbesetzt. Als Ari auf das azurblaue Wasser hinausblickte, konnte er die Patrouillenboote der Shayetet 13 sehen, die sich bogenförmig postiert hatten, um die Küste gleichermaßen vor Terroristen wie Touristen zu schützen, und den schwachen, kaum erkennbaren Fleck des SeaCobra-Hubschraubers in der Ferne, der am dunstigen Horizont zwischen Himmel und Meer patrouillierte. Hier in Eilat wurde am heutigen Tag erneut Geschichte geschrieben, und zwar hinter ihm in dem klimatisierten 5-Sterne-Luxushotel, das er und die anderen bewachten. Noch mehr Geschichte, die Ari völlig egal war, mit Ausnahme der Tatsache, dass er als Resultat der Konferenz, die gerade dort stattfand, demnächst einen EU-Ausweis würde beantragen können.
Auf einmal wurde der Himmel für einen Augenblick hell, trübte aber sofort wieder ein.
Ari hatte in der Nacht zuvor zu viel getrunken, daher fiel es ihm umso schwerer, nun in der Wüstensonne herumzustehen. Ihm war leicht schwindlig, und er bekam ein beunruhigendes, unangenehmes Déjà-vu-Gefühl. Sein Kopf schmerzte, die Nebenhöhlen pochten, und er konnte den Druck in der heißen Luft spüren. Ein Sturm zog auf. Die kaum merkliche Brise, die den ganzen Morgen geweht hatte, frischte auf einmal zu einem steifen Wind auf, der den Sand zu seinen Füßen aufwirbelte.
Er sah zu der schwerfälligen Gestalt von Gershon Shalev hinüber. Shalev war jemand, der die Geschichte nicht als Last sah, sondern sie wie ein Abzeichen vor sich hertrug. Der große, breitschultrige Haredi war aus Gründen, über die Ari und der Rest des Netzah Yehuda Bataillons nur Vermutungen anstellen konnten, zu ihnen versetzt worden. Es hatte natürlich Gerüchte gegeben, jemand kannte jemanden, der gesagt habe, Shalev hätte einen gewissen Ruf und wäre während der Zeit der illegalen West-Bank-Besiedlung in einer »Price Tag Gang« gewesen. Wie immer seine Geschichte auch aussehen mochte, Ari hasste Shalev und alles, wofür er stand. Er hasste alle Über-Juden, die ihm sagen wollten, wer und was er war und wozu er gehörte. Zwischen den beiden Soldaten hatte es so gut wie keinen Kontakt gegeben, und Shalev hatte nur wenig oder gar nichts mit Ari zu tun, den er vermutlich längst als Abtrünnigen oder Min identifiziert hatte. Tatsächlich hatte Shalev jedoch weder etwas Bestimmtes gesagt noch getan, womit er sich Aris Zorn zugezogen hätte. Aber es war schon Provokation genug, dass er einfach nur da war, diese Schläfenlocken trug, seine religiösen Bräuche befolgte und ein disziplinierter Soldat war.
Jetzt, wo Ari hier stand, sich seltsam fühlte und sich die Luft um ihn herum veränderte, wo seine Nerven angespannt waren aus einem Grund, den er selbst nicht benennen konnte, starrte er Shalev an und spürte, wie sein Hass immer weiter anschwoll.
»Sieh ihn dir an …« Ari drehte sich zu Benny Kagan um, dem kleinen, drahtigen, gut aussehenden Corporal, der neben ihm stand, und deutete mit dem Kinn auf Shalev. »Der Wächter von Israel … Als würde er nur auf ein Zeichen von Gott warten, um diese Palis mit Kugeln zu durchbohren.« Ari deutete auf die lustlosen Demonstranten, die mit Bussen in die Küstenstadt gekommen waren, um gegen die Unterzeichnung des Vertrags aufzumarschieren. Es mochten fünfzig oder sechzig Menschen sein. Andere waren fortgeschickt worden, doch dieser Ansatz eines Protests war um der Schau willen zugelassen worden.
»Das weißt du nicht, Ari.« Benny zuckte mit knochigen Schultern, die irgendwo unter dem viel zu großen Uniformhemd verborgen waren. »Gershon ist schon in Ordnung. Du bist zu hart zu ihm.«
»Sieh ihn dir an.« Ari stieß Benny an. »Ich wette, er ist sauer auf alles, was hier passiert. Das Quartett-Friedensangebot hat ihm die Chance versaut, der kriegerische Beschützer von Eretz Yisrael zu werden. Er gehört zu den Leuten, die glauben, politische Grundsätze sollten durch brennende Büsche entstehen und nicht, indem Menschen eigene Entscheidungen treffen. Was wissen wir denn schon über ihn? Er muss ziemlich großen Mist gebaut haben, dass er in dieser Einheit gelandet ist. Scheiße!« Ari fluchte, als der Wind um ihn herum stärker wurde und ihm den Sand der Negev ins Gesicht blies. »Scheiße!«, fluchte er erneut, nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich mit dem rechten Handrücken das Auge. Es dauerte einen Moment, bis er die Sandkörnchen herausbekommen hatte, wobei er sich umdrehen musste, um den Wind im Rücken zu haben. Er ersetzte die Sonnenbrille durch seinen von der Armee ausgegebenen Augenschutz und bemerkte, dass Benny und die anderen dasselbe getan hatten.
»Wo zum Henker kommt denn der Wind her?«, sagte er. »In der Wettervorhersage hieß es doch …« Er sah zu den Demonstranten hinüber, denen der plötzliche Wetterumschwung nichts auszumachen schien.
Der Tag war trübe und gelb-grau geworden, als ein Nebel aus umherwirbelndem Sand die Luft beschwerte. Ari drückte sich sein Taschentuch auf Mund und Nase.
»Na, super«, brüllte Benny, »das hat uns noch gefehlt. Ein Sandsturm. Er muss aus der Negev kommen …«
Ari sah zum Himmel hinauf und bemerkte, dass die Luft nun sichtbar und körnig geworden war. »Nein … Er kommt aus der falschen …«
Das Geräusch ließ ihn innehalten.
Ein Geräusch, das die Erde unter seinen Füßen beben ließ und das in seinen Knochen widerzuhallen schien.