12. JOHN MACBETH. BOSTON.

Corbin rief Macbeth am nächsten Tag an und gab die Informationen weiter, die er von der Polizei und dem Krankenhaus erhalten hatte. Nach mehreren Operationen lag der Priester jetzt auf der Intensivstation – was nicht bedeutete, dass er durchkommen würde. Dass er bisher überlebt hatte, war allein auf Macbeths beherztes Eingreifen vor Ort zurückzuführen.

»Übrigens«, sagte Corbin, »der Selbstmörder … Er hieß wirklich Gabriel. Gabriel Rees. Offenbar war er eine Art akademischer Überflieger. Scheiße …« Corbin fluchte über seine schlechte Wortwahl. »So hab ich das nicht gemeint. Der arme Kerl.«

»Ich weiß, dass du das nicht so gemeint hast. Womit hat er sich denn beschäftigt?«

»Mit Partikelphysik. Er war Doktorand am MIT. Ist das nicht auch der Fachbereich deines Bruders Casey?«

»Ja«, antwortete Macbeth. »Vielleicht hat Casey ihn ja gekannt. Ich werde ihn nachher danach fragen, wenn wir uns sehen. Hat dir die Polizei sonst noch etwas gesagt?«

»Nur, dass es keine Vorgeschichte mit geistigen Erkrankungen oder Drogenmissbrauch gab. Zumindest nichts Aktenkundiges. Er soll außergewöhnlich klug gewesen sein. Ein sehr hoher IQ, aber das ist bei seinem Werdegang auch nicht weiter erstaunlich.«

»Das sehe ich auch so«, meinte Macbeth, der wusste, dass sein Bruder einen ebenso hohen IQ hatte wie er, aber darüber hinaus mit einem deutlich eleganteren, anmutigeren Verstand gesegnet war.

Nach einer kurzen Pause fragte Corbin vorsichtig: »Hör mal, John, das, was ich dir gestern Nacht erzählt habe … über das Haus. Hältst du mich für verrückt?«

»Nein, natürlich nicht. Was du erlebt hast, klingt nach dem, was dir auch deine Patienten erzählt haben, genau wie du gesagt hast. Vielleicht gibt es wirklich eine virale Ursache.«

Sie plauderten noch eine Weile, bevor sich Macbeth mit dem Versprechen verabschiedete, sich bald wieder zu melden. Er hängte das »Bitte nicht stören«-Schild an seine Hotelzimmertür und lag den Großteil des Nachmittags auf seinem Bett, starrte an die Decke und versuchte, nicht auf die Geräusche zu achten, die ins Zimmer drangen, und überhaupt nicht zu viel an irgendetwas zu denken, insbesondere nicht an die Ereignisse der vergangenen Nacht.

Schließlich gewann die Müdigkeit, und Macbeth schlief ein.

»Das ist ein Traum«, sagte eine Stimme, die er kannte, zu ihm, auch wenn er nicht sehen konnte, wer gesprochen hatte.

»Das weiß ich«, erwiderte er unbesorgt. »Ich weiß, dass ich träume. Ich weiß immer, wenn ich träume.«

Macbeth stand vor einem Haus und wusste, dass er sich in Beacon Hill befand. Es war eines dieser hochherrschaftlichen vierstöckigen Kolonialgebäude mit Erkern und weißem Stuck rund um die Türen und Fenster. Louisburg Square … Er stand auf der Straße am Louisburg Square. Hinter ihm befand sich der kleine, gut gepflegte Privatpark mit den Statuen von Christoph Kolumbus und Aristeides dem Gerechten, was er wusste, ohne dass er sich umdrehen musste.

Er träumte, er stünde vor dem Haus auf einer Straße mit Kopfsteinpflaster und ohne Autos. Der Tag war ungewöhnlich ruhig, und die stehende Luft rings um ihn herum fühlte sich eher an, als würde er sich in einem Gebäude aufhalten und nicht im Freien. Er ging die Treppe hinauf zur Haustür, die bei der leichten Berührung seiner Fingerspitzen aufschwang, und betrat den Eingangsbereich. Das Haus war noch eine einzige große Wohnung und nicht in Wohneinheiten aufgeteilt worden, wie es bei so vielen im Laufe der Jahre geschehen war. Macbeth wusste, wo er sich aufhielt: in dem Haus, das Corbin gekauft hatte. Er wusste auch, wann er hier war: zu einer anderen Zeit, lange vor Corbins Kauf.

Vor der Treppe blieb er stehen und legte seine Hand auf den Mahagoniknauf am Geländer. Das Holz fühlte sich warm an, als würde es unter seiner Berührung lebendig werden, und rings um ihn herum brannte Licht.

Macbeth lächelte, als er sie auf dem oberen Treppenabsatz sah. Marjorie Glaiston.

Sie war zweifellos die schönste Frau, die er je gesehen hatte, genau wie Corbin gesagt hatte: schlank und elegant, und ihr hoch aufgetürmtes Haar war von goldener Farbe. Sie trug ein beigefarbenes, knöchellanges Seidenkleid und eine Pfauenaugenbrosche an der Kehle. Die smaragd- und türkisfarbenen Wirbel in der Brosche passten hervorragend zu ihren umwerfenden großen, blau-grünen, wunderschönen Augen. Sie lächelte Macbeth an, als ob sie ihn erwartet hatte, woraufhin sich Grübchen auf ihren Wangen abzeichneten. Sie kam langsam die Treppe herunter.

Ein Mann erschien hinter ihr auf dem Treppenabsatz. Er war groß, breitschultrig, hatte riesige, hässliche Hände, einen rötlichen Teint. Sein rotbraunes Haar und der gleichfarbige Bart umrahmten sein Gesicht mit dunkelrotem Feuer. Seine Gesichtszüge wirkten auf grausame, harte Weise anziehend, und in seiner Miene lauerte etwas schrecklich Dunkles und Gewalttätiges. So, wie er gewusst hatte, dass es sich bei der Frau um Marjorie Glaiston handelte, wusste Macbeth auch, dass der Mann, den er da vor sich sah, Geoffrey Morgan war.

Am liebsten hätte er laut aufgeschrien und Marjorie gewarnt, als Morgan mit langsamen, entschlossenen Schritten die Treppe herunter- und auf sie zukam, wobei er noch immer auf diese finstere Weise wütend wirkte – aber er stellte fest, dass er das nicht konnte. Anders als bei seinem Erlebnis auf der Christian Science Plaza, als er den verletzten Priester versorgt und sich dabei völlig distanziert gefühlt hatte, fühlte sich Macbeth mit dieser Realität völlig im Einklang, auch wenn er genau wusste, dass es sich dabei nicht um die wahre Realität handelte. Dennoch stand er wie erstarrt da, die Hand am Treppengeländer, und hatte die Stimme verloren, als Morgen die Distanz zwischen sich und Marjorie überbrückte, die riesigen Hände hob und nach ihr griff.

»Sie wissen, was jetzt kommt, nicht wahr?«, sagte die Stimme, die er zuvor schon gehört hatte, in Macbeths Ohr, und er drehte sich um und sah hinter sich den nackten, zertrümmerten Körper von Gabriel Rees, dem Mann, der in den Tod gesprungen war. Gabriel lächelte, und Macbeth bemerkte, dass sein eines Augenlid noch immer halb geschlossen war. »Genauso wie sie gewusst haben, was auf dem Dach geschehen würde … Sie waren außer mir der Einzige, der es wusste … So wie Sie auch jetzt wissen, was passieren wird, nicht wahr?«

Macbeth nickte und drehte sich wieder um, wo er mit ansehen musste, wie Morgan Marjorie würgte. Er schrie und brachte dennoch keinen Ton heraus, kein Geräusch drang über seine versiegelten Lippen, als sich Morgans dicke Finger um Marjories schlanken Hals legten. Es war, als hätte sie es gar nicht bemerkt. Sie sah Macbeth noch immer unverwandt an, während die subkonjunktivalen Blutungen das Weiße in ihren wunderschönen Augen blutrot färbten, und ihr Lächeln blieb auf ihren Lippen, ebenso wie die Grübchen in ihren Wangen, während die petechialen Flecken scharlachrot aufflammten, als die Kapillaren unter ihrer Haut zerplatzten.

Morgan stieß einen unmenschlichen Schrei aus und presste das Leben aus seiner untreuen Geliebten; ein langer, lauter, ein tierischer Schrei, in dem all seine Wut, sein Schmerz und seine Verzweiflung mitschwangen. Als er sie losließ, taumelte Marjorie wie eine leblose, schlaffe Puppe, fiel die Treppe herunter und blieb zu Macbeths Füßen liegen.

»Wie real wirkt das auf Sie?«, fragte Gabriel beiläufig. »Sie träumen, aber es kommt Ihnen realer vor, als wenn Sie wach wären, oder irre ich mich da? Komme ich Ihnen jetzt realer vor als auf dem Dach?«

Macbeth hatte noch immer keine Stimme und konnte Gabriel nicht antworten. Stattdessen richtete er seinen stummen, anklagenden Blick wieder auf Morgan, der noch an derselben Stelle stand, an der er Marjorie getötet hatte, mit schweißbedeckter Stirn und einem Lodern in den Augen, während seine riesigen, mörderischen Hände an den Seiten herabhingen. Dann, ganz langsam, griff Morgan in die Tasche seiner Tweedweste und zog eine kleine Derringer-Pistole heraus. Mit langsamen, bewussten Schritten, als wären seine Füße aus Blei, kam er die Treppe herab, hielt die kleine Waffe auf Armeslänge von sich weg, bis er direkt vor Macbeth stand und diesen überragte. Morgan drückte die kalte, harte Stahlmündung des kurzen Laufs gegen Macbeths Stirn.

Und drückte ab.

Macbeth lag erneut auf seinem Hotelbett und starrte die Decke an. Er war abrupt aufgewacht, aber nicht so plötzlich, dass ihm der Traum nicht noch einige Augenblicke vor Augen stand, als würde Morgans Bosheit noch einige Sekunden lang in einer Ecke von Macbeths realer Welt lauern. Aber er hatte keine Angst. Er schwitzte und zitterte nicht. Trotz der in seinem Traum miterlebten Schrecken verspüre er eine seltsame Ruhe.

Corbin klang überrascht, dass ihn Macbeth so bald nach ihrer letzten Unterhaltung erneut anrief.

»Das Haus in Beacon Hill, das ihr renoviert …«, begann Macbeth. »Liegt es am Louisburg Square?«

Corbin lachte. »Am Louisburg Square? Was denkst du, was die mir am Belmont bezahlen? Gut, ich habe dir erzählt, dass Joannas Familie reich ist, aber sie sind auch nicht die Rothschilds. Unser Haus ist an der Garden Street. Warum fragst du?«

»Ich wollte mich mal ein wenig mit dieser Geschichte rund um Marjorie Glaiston beschäftigen«, log Macbeth, der Corbin nichts von seinem Traum erzählen wollte.

»Verstehe«, erwiderte Corbin. »Du wirst viele Informationen über Marjorie Glaiston im Internet finden, da habe ich die Geschichte auch entdeckt.«

»Und du bist dir sicher, dass du vor dem Vorfall kein Bild von Marjorie gesehen hattest?«

»Du meinst, bevor ich sie auf der Treppe gesehen habe?«, fragte Corbin. »Nein, ich habe dir doch gesagt, dass ich erst später danach gesucht habe. Die Bilder, die ich gefunden habe, passten genau zu der Person, die ich auf der Treppe gesehen habe … die ich glaube, gesehen zu haben. Aber das, was du letzte Nacht gesagt hast, ergibt Sinn: Ich hätte niemals ein genaues Bild von ihr in einer Halluzination sehen können, bevor ich genau wusste, wie sie ausgesehen hat. Ich muss also vorher schon mal irgendwo ein Bild von ihr wahrgenommen haben, ohne dass ich mich daran erinnere.«

»Das ist die einzig logische Erklärung«, entgegnete Macbeth, der Corbin auch nicht anvertrauen wollte, dass er Marjorie Glaiston in seinem Traum ebenfalls klar und deutlich gesehen hatte. »Ich werde mich mal ein wenig umhören. Sag mir Bescheid, wenn du von der Polizei noch etwas über Gabriel hörst oder wenn es Neuigkeiten über den Zustand des Priesters gibt.«

Macbeth war fast schon verärgert darüber, wie erleichtert er war.

Das war nicht die Marjorie Glaiston, von der er geträumt hatte. Er sah sich das Gesicht auf dem Bildschirm seines Laptops an und wusste, dass es nicht das aus seinem Traum war. Die echte Marjorie Glaiston hatte rabenschwarzes und nicht etwa blondes Haar gehabt, und obwohl ihre überragende Schönheit der Frau aus seinem Traum ebenbürtig war, unterschied sie sich auch davon, denn sie wirkte dunkel, schelmisch, leidenschaftlich und leicht boshaft. Das Bild, das er gefunden hatte, war ein Porträt, gemalt von ihrem Mörder Geoffrey Morgan. Ein weiteres Bild, eine körnige, schlecht komponierte Schwarz-Weiß-Fotografie, bestätigte, dass Morgans auf Leinwand gebannte Darstellung seiner Liebhaberin und Muse korrekt war. Macbeth konnte erkennen, dass Marjorie Glaiston eine Frau gewesen war, die einem Mann vor lauter Lust und Leidenschaft die Sinne rauben konnte.

Was zum Teufel hatte er eigentlich erwartet, als er im Internet nach einem Bild von Marjorie Glaiston gesucht hatte? Den Beweis dafür, dass er eine Art psychischer Verbindung mit einer seit Langem Verstorbenen hergestellt hatte? Selbst wenn sie genauso ausgesehen hätte, wäre es wie bei Corbin nur ein Fall von Kryptomnesie gewesen – eine vergessene Erinnerung, an die man sich unbewusst erinnerte. Er war schließlich Psychiater und wusste, dass es nur sehr wenige Mysterien gab, die nicht beantwortet werden konnten, indem man sich die einhundert Milliarden Neuronen in dem dreipfündigen menschlichen Gehirn ansah. Jedes einzelne Gehirn stellte ein komplettes Universum unerklärlicher Komplexität dar.

Doch das Bild, das Macbeth von Geoffrey Morgan gefunden hatte, erschreckte ihn. Es war nicht genau dasselbe Gesicht wie das des Mörders, den sein schläfriges Gehirn erfunden hatte, aber es gab einige signifikante Gemeinsamkeiten: eine breite, blasse Stirn über dunklen, brütenden Augen, eingerahmt von dichten Haaren und einem buschigen Bart. Obwohl das Haar auf dem Foto schwarz aussah, erfuhr Macbeth aus der Beschreibung, dass Morgan tatsächlich dunkelrote Haare gehabt hatte. Doch Macbeth sagte sich, dass es keiner großen Geistesleistung bedürfe, sich einen gewalttätigen, brütenden irischen Maler halbwegs genau vorzustellen.

Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, schickte Macbeth Casey eine SMS, um ihre Verabredung um 19 Uhr zu bestätigen, und bekam fast augenblicklich eine Antwort.

Während seines Aufenthalts in Boston hatte er so viel Zeit wie möglich mit seinem Bruder verbracht, und Casey hatte natürlich angeboten, dass Macbeth bei ihm wohnen könnte, solange er in Boston zu tun hatte, aber ihnen war auch beiden klar gewesen, dass Macbeth Nein sagen würde: Er musste sich seine Umgebung schon selbst aussuchen.

Macbeth freute sich darauf, seinen Bruder an diesem Abend zu treffen, denn obwohl er noch immer müde und emotional ausgelaugt war von all dem, was in den vergangenen achtzehn Stunden passiert war, schaffte es Casey immer, Macbeths Stimmung aufzuheitern. Als er aus dem Fenster schaute, konnte Macbeth erkennen, dass ein warmer, heller Tag anbrach, und er beschloss, einen Spaziergang zu machen, um seine Lethargie abzuschütteln.

Das Taxi setzte ihn am Common-Eingang an der Tremont Street ab. Macbeth wusste, dass er nicht nur hierher gekommen war, um einen Spaziergang im Park zu machen – der Louisburg Square lag auf der anderen Seite des Common und war in gerade mal drei Minuten zu Fuß zu erreichen. Erneut wurde er wütend auf seine eigene Dummheit, da er wusste, dass er letzten Endes an derselben Stelle landen würde, an der er in seinem Traum gestanden hatte, um sich davon zu überzeugen … Ja, wovon denn eigentlich?

Macbeth stieg aus dem Taxi und spürte, wie der Stress und der Schlafmangel bewirkten, dass er ein leichtes, nichtsdestotrotz beharrliches Déjà-vu-Gefühl empfand. Das hatte er in seinem Leben schon sehr häufig gespürt, und er hasste es, vor allem aus dem Grund, weil es meist einem seiner Anfälle vorausging. Er schüttelte das Gefühl ab und betrat den Park.

Ein kleines, rechteckiges, schachtelartiges Gebäude stand am Eingang des Common und sah aus wie ein Art-déco-Mausoleum. Macbeth wusste, dass es eigentlich der Ausgang des U-Bahnhofs Boylston T war und sich darin die Treppe befand, die von der U-Bahn nach oben führte. Als er daran vorbeiging, erblickte Macbeth Arbeiter in den Uniformen der Transit Authority mit Pinseln und einem Sprühkanister mit einer Reinigungsflüssigkeit, die ein Graffiti beseitigten, das an der ansonsten makellosen Seite des Gebäudes aufgesprüht worden war. Die Worte in Dunkelrot schienen sich den Chemikalien und Putzversuchen der Arbeiter zu widersetzen und waren noch immer deutlich zu erkennen.

Wir werden …

Inklusive Ellipse. Er hatte diese Worte in ganz Kopenhagen sowohl auf Englisch als auch auf Dänisch und auch hier in Boston gesehen. Vermutlich handelte es sich dabei nur um eine Zeile aus einem Popsong, aber Macbeth fand sie irritierend tief greifend und lachte innerlich, als er sich vorstellte, eine Bande von Philosophen streife in Cordhosen und mit umgekehrt aufgesetzten Baseballkappen durch die Straßen von Boston.

Macbeth nickte einem der Arbeiter zu, der ihn jedoch ignorierte, und ging weiter auf dem Hauptweg durch den Park. Den ganzen Weg über war er tief in Gedanken versunken und sich seiner Umgebung nur halb bewusst. Trotz des Sonnenscheins, des Lachens und der fröhlichen Geräusche, die aus allen Ecken des Parks zu ihm herüberdrangen, hatte Macbeth das Gefühl, von dem Dunkel aus der vergangenen Nacht heimgesucht zu werden.

Er wusste nicht, wie weit er schon gegangen war, als er in der Nähe Gebell und Lachen vernahm und dadurch aus seinen Gedanken gerissen wurde. Er bemerkte eine Gruppe von Mädchen, die sich über den Kopf eines tobenden, aufgeregten Hundes hinweg eine Frisbeescheibe zuwarfen. Die Mädchen rannten herum und bewegten sich mit all der jugendlichen Sorglosigkeit, die sie schon bald verlieren würden, wenn derart unschuldige Aktivitäten auf einmal uncool und kindisch geworden waren. Dieser Anblick rief in ihm ein melancholisches Gefühl hervor, das sein Déjà-vu noch zu intensivieren schien, und in diesem Augenblick beneidete er sie um ihre Unschuld und Sorglosigkeit. Aber Macbeth der Psychiater wusste, dass die Kindheit oft alles andere als unschuldig und sorglos war, und er ging weiter.

Es war schön und warm, und die Sonnenstrahlen tanzten durch die Bäume hindurch und sprenkelten den Pfad, aber er konnte sich noch immer nicht diesem Moment hingeben, und das vage Gefühl des Déjà-vu folgte ihm durch den ganzen Park. Erneut wanderten seine Gedanken auf das dunkle Dach der Christian-Science-Kirche zurück. Was ihm am meisten Angst eingejagt hatte, war die Ruhe – die Sicherheit – in Gabriels Gesichtsausdruck gewesen, als er sich und Vater Mullachy über den Rand der Brustwehr geschleudert hatte.

Als Macbeth zusammen mit den anderen zum Rand des Daches gelaufen war, hatte er fast schon damit gerechnet, dass Gabriel und der Priester verschwunden wären, da es für ihn ebenso viel Sinn ergeben hätte, wenn sie sich in Luft aufgelöst hätten, als wenn sie auf dem Boden unter ihnen zerschmettert wären. Wie Schrödingers Katze war Gabriel möglicherweise erst definitiv und endgültig tot, wenn Macbeth seine Leiche mit eigenen Augen gesehen hatte.

Macbeth wusste nicht, wie weit er gegangen war. Er war wie immer tief in Gedanken versunken und sich seiner Umgebung nur halb bewusst, während er auf dem Pfad durch den Park lief. Dann vernahm er in der Nähe Gebell und Lachen und wurde dadurch aus seinen Gedanken gerissen. Er bemerkte eine Gruppe von Mädchen, die sich über den Kopf eines tobenden, aufgeregten Hundes hinweg eine Frisbeescheibe zuwarfen. Dieser Anblick rief in ihm ein melancholisches Gefühl hervor, das sein Déjà-vu noch zu intensivieren schien, und in diesem Augenblick beneidete er sie um ihre Unschuld und Sorglosigkeit. Die Mädchen rannten herum und bewegten sich mit all der jugendlichen Sorglosigkeit, die sie schon bald verlieren würden, wenn derart unschuldige Aktivitäten auf einmal uncool und …

Macbeth blieb wie angewurzelt stehen.

All das war gerade erst passiert. Er hatte all das gesehen und genau dieselben Gedanken nur wenige Minuten zuvor gehabt.

Er starrte die spielenden Mädchen, den Park, die Bäume und die durch die Blätter fallende Sonne ebenso wie den aufgedrehten Hund an. Macbeth hatte gelernt, mit seinem bizarren Gedächtnis zu leben, mit seinem dissonanten Zeitgefühl und seiner Gewohnheit, sich völlig von dem Moment zu distanzieren und sich irgendwo außerhalb von Zeit und Raum zu verlieren. Er hatte zahllose Verabredungen verpasst, hatte zahllose Ziele erreicht, ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war.

Aber das hier war etwas anderes.

Er war nur Minuten zuvor hier gewesen, an genau derselben Stelle des Parks. Er war weitergegangen, aber jetzt irgendwie doch wieder hier. Das war absurd, aber es war mehr als eine Absurdität des Raumes: Er war nicht nur an derselben Stelle, sondern auch in demselben Augenblick wieder hier. Hatte dieselben Gedanken. Verspürte denselben dumpfen Neid auf die unschuldige, sorglose Jugend der Mädchen, unterlag demselben Déjà-vu.

Als ihn die Mädchen dort stehen sahen, hörten sie auf zu spielen und starrten ihn misstrauisch an. Sie konnten ihn also sehen, was bedeutete, dass dies hier keine Wahnvorstellung war. Er hatte kein vergangenes Ereignis vor Augen, und er konnte vor einigen Minuten auch kein zukünftiges Ereignis gesehen haben. Was zum Teufel war hier gerade passiert?

Ein Déjà-vu. Das war alles, sagte er sich. Es war aufgrund der stressigen Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden einfach nur besonders präzise. Das musste es sein. Oder ein anderer Kurzschluss zwischen seinem präfrontalen Cortex und dem medialen Temporallappen erzeugte die Illusion, dass er sich an etwas erinnerte. Wieder dachte er zurück an das Dach der Christian-Science-Kirche und an Gabriel, der seine eigene Erinnerung daran, sich fünfzehn Minuten zuvor auf diesem Dach aufgehalten zu haben, infrage stellte.

Macbeth wich den neugierigen Blicken der Mädchen aus, die sich jetzt eng aneinanderdrängelten, und ging weiter. Er versank wieder in seinen Gedanken, versuchte dabei jedoch, nicht mehr an das zu denken, was gerade passiert war.

Wie er erwartet hatte, fand sich Macbeth an der Ecke der Mount Vernon und Louisburg wieder. Er ging über den Platz zu der Stelle, an der in seinem Traum das Haus gestanden hatte. Inzwischen waren seine Schritte langsamer geworden, und der Schweiß in seinem Nacken sagte ihm, dass er den Weg vom Park hierher schnellen Schrittes gegangen war, wie er es üblicherweise tat, wenn sein Geist, wie eigentlich immer, beschäftigt war.

Anders als in seinem Traum war das Gebäude in luxuriöse Wohnungen aufgeteilt. Aber es gab noch weitere Unterschiede: bedeutsame, bauliche Differenzen zu dem Haus aus seinem Traum. Als er davorstand, versuchte er herauszufinden, warum er von diesem besonderen Haus geträumt hatte, und warum er den Drang verspürte, seinen Traum auf irgendeine Weise zu bestätigen. Schließlich handelte es sich nicht um das Haus, das Corbin gekauft hatte, jenes Haus, in dem Marjorie Glaiston tatsächlich ermordet worden war. Vielleicht lag es einfach daran, dass Louisburg Square den Stereotyp historischer Gebäude in Beacon Hill repräsentierte. Trotzdem kam ihm dieses Haus sehr vertraut vor. Möglicherweise hatte er es schon einmal gesehen – eventuell in seiner Kindheit –, hatte die Erinnerung idealisiert und dann verloren, nur damit sie Jahre später durch Corbins Beschreibung seines neuen Hauses wieder zum Leben erweckt werden konnte.

Macbeths Traum und Corbins Halluzination waren beides Fiktionen – Simulationen, die vom Gehirn aus einem auf der Realität beruhenden Samen erzeugt wurden. Aber sie waren völlig unterschiedliche Prozesse und aus unterschiedlichen Gründen hervorgerufen worden. Er konnte nicht wirklich verstehen, warum er auf die andere Seite der Stadt gefahren war, um eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen. Trotz seiner Erleichterung beim Anblick der »echten« Marjorie Glaiston ärgerte er sich auch jetzt wieder darüber, Zeit damit verschwendet zu haben, etwas zu beweisen, was er rational die ganze Zeit gewusst hatte.

Macbeth ging den Weg durch den Park zurück. Jetzt hatte er kein Déjà-vu, keine unerklärliche Wiederholung. Am Tremont-Ausgang wollte Macbeth gerade die Straße überqueren, als ihn etwas zurück in den Park zog. Er war sich vage bewusst, dass er neugierige Blicke der Passanten auf sich zog, als er sich ganz nah an das Gebäude der Boylston T-U-Bahn-Station stellte und die glatte Wand in Augenschein nahm.

Kein Graffiti. Keine in Rot geschriebenen Worte Wir werden … Keine Hinweise auf Sprühfarbe oder die Chemikalien, die zur Reinigung der Wand verwendet worden waren, die sich jetzt kühl und trocken anfasste.

Vielleicht war es der Putzkolonne der Transit Authority in den etwa vierzig Minuten, die vergangen waren, seitdem er den Park betreten hatte, gelungen, die Sprühfarbe zu beseitigen, ohne dass auch nur die geringste Spur davon zurückgeblieben war, und danach war die Wand mit einer Art Föhn getrocknet worden, überlegte er.

Doch das hielt er für höchst unwahrscheinlich. Er vermutete eher, dass das Graffiti nie da gewesen war.