47. JOHN MACBETH. BOSTON.
Der Himmel war heller geworden, und Brian Newcombe, der an der Treppe des Verwaltungsgebäudes auf Macbeth wartete, schlug vor, einen Spaziergang auf dem Krankenhausgelände zu machen.
Macbeth stimmte zu, war aber noch immer bestürzt über Deborahs Wahnvorstellung. Es war ein Berufsrisiko der Psychiater, dass man die alternative Realität aus der Wahnvorstellung eines Patienten manchmal nicht ganz aus dem Kopf bekam, als wäre sie ein Buch, das man gerade zu Ende gelesen hatte.
Newcombe kam direkt zur Sache. »Man hat mich gebeten, Sie davon zu überzeugen, nicht nach Dänemark zurückzukehren.«
Macbeth lachte. »Das ist unmöglich. Ich fliege heute Abend …«
»Wir würden uns darum kümmern. Wir benötigen Sie hier dringender, als Sie vom Kopenhagener Projekt in Dänemark gebraucht werden.«
»Tja, das ist ja sehr schmeichelhaft, aber wie ich Ihnen bereits gesagt habe, sollten Sie versuchen, Josh Hoberman aufzuspüren, der weitaus …«
Newcombe fiel Macbeth ins Wort. »Josh Hoberman wurde heute Morgen mit gebrochenem Genick aus dem Potomac gefischt.«
Macbeth blieb wie erstarrt stehen. »Er wurde ermordet?«
Newcombe nickte, und sein Gesicht wurde unter seiner Seglerbräune ernst. »Höchstwahrscheinlich vom Blinden Glauben. Es hat weitere Morde gegeben. Und noch mehr Bombenanschläge, in Washington, London, Haifa. Darin sind sowohl Moslems als auch der Blinde Glaube verwickelt. Außerdem eine anti-säkulare, technologiefeindliche, ultra-orthodoxe jüdische Extremistengruppe, die die Verantwortung für den Bombenanschlag in Haifa übernommen hat. Außerdem gibt es Hinweise, dass in Israel noch etwas anderes vorgefallen ist. Ein Massaker. Ich sage Ihnen, John, die Welt verliert völlig den Verstand. Wir haben ein neues dunkles Zeitalter vor uns, in dem jeder Aberglaube mit dem anderen wetteifert, um sich im Heiligen Krieg gegenseitig zu zerfetzen.«
»Und sie nutzen diese Halluzinationsanfälle als Rechtfertigung …«, stellte Macbeth fest.
»All dieser fortschrittsfeindliche, religiös-verrückte Mist fördert das Phänomen nur weiter. Sie akzeptieren nicht, dass es sich dabei um Halluzinationen handelt, sondern glauben, es wären von Gott gegebene ›Visionen‹. Jeder Mullah, Evangelist, jeder Kultführer zwischen den beiden Extremen – sie alle deuten diese Ereignisse als Zeichen für eine nahende Entrückung, eine Wiederkunft oder was auch immer in der Eschatologie, der sie gerade anhängen, versprochen wird. Wir müssen der Sache auf den Grund gehen und sie aufhalten, bevor die ganze Welt völlig verrückt geworden ist.«
»Ich verstehe Sie, Brian, aber ich kann Poulsen nicht hängen lassen. Meiner Ansicht nach wäre es am besten, wenn ich meine Arbeit fortsetze, weil es genau das ist, was diese Verrückten verhindern wollen. Außerdem bin ich kein Epidemiologe«, sagte Macbeth, als sie an dem Hügel unter der Weide vorbeikamen.
»Wir haben es hier nicht mit einer Epidemie zu tun, und das wissen Sie. Es gibt kein Muster, keinen statistischen Fokus, keinen Patient Null.« Er seufzte und musste sich kurz sammeln. Macbeth konnte erkennen, dass der Stress an Newcombes professioneller Coolness nagte. »Wir haben es hier mit etwas völlig Unvorhergesehenem zu tun. Diese Ereignisse haben zunehmend physiologische Konsequenzen. Menschen werden verletzt – wirklich körperlich verletzt – von Dingen, die gar nicht da sind. Der Programmdirektor eines Fernsehsenders in New York hatte die Halluzination, zu verbrennen. Niemand in seiner Umgebung hatte dieselbe Halluzination, aber sie haben alle mit angesehen, wie sich seine Haut abgeschält hat und wie sein Fleisch schwarz wurde. Die Autopsie hat den Tod durch Verbrennen bestätigt, obwohl es gar kein Feuer gegeben hat. Seine Lungenflügel waren auf eine Art und Weise beschädigt worden, wie es nur beim Einatmen von Rauch geschieht, aber in seinem Lungengewebe konnte nicht ein einziges Rauchpartikel gefunden werden. Er hatte nicht nur die Halluzination, zu verbrennen, er ist tatsächlich verbrannt … Er ist den Flammentod gestorben.«
»Das ergibt doch keinen Sinn …« Macbeth schüttelte den Kopf.
»Da ist noch mehr«, sagte Newcombe. »Wir haben ausgeprägte chronobiologische Elemente des Phänomens identifiziert. Der circadiane Rhythmus der Personen war während der Dauer der Halluzinationen stark gestört. Vermutlich wird durch diese Verschiebung das starke Déjà-vu-Gefühl davor ebenso wie die Desorientierung danach ausgelöst. Ich weiß, dass das verrückt klingt, aber bisher hat noch jeder Betroffene Symptome extremer Desynchronisation aufgewiesen.«
»Jetlag?«, fragte Macbeth, allerdings nicht gerade ungläubig, da er sich nach dem Geistererdbeben von Boston ähnlich gefühlt hatte.
»Sowohl der ultradiane als auch der infradiane Rhythmus sind betroffen. Weibliche Betroffene haben auch erwähnt, dass ihr Menstruationszyklus beeinflusst worden sei.« Newcombe schüttelte den Kopf. »Es ist fast so, als würde eine mächtige Mimese dem Körper während der Halluzination vorgaukeln, er wäre in eine andere Zeit versetzt worden – vielleicht derselbe Mechanismus, der bewirkt, dass der Körper echte Verletzungen nachahmt.«
»Wollen Sie damit sagen, dass diese Ereignisse eigentlich eine Art psychischer Zeitreise sind?«
»Natürlich nicht. Aber das Gefühl einer temporären Verschiebung betrifft jeden Sinn und bewirkt körperliche Veränderungen. Wie bei den wenigen Menschen, die beim Spielen von Videospielen tatsächlich reisekrank werden.«
»Das sind gar nicht so wenige …«, meinte Macbeth. »Ich gehöre auch dazu.«
»Da ist auch noch etwas anderes … Sehen Sie sich das an, und sagen Sie mir dann, was Sie da vor sich haben.« Newcombe holte ein Smartphone aus der Tasche, gab etwas ein und reichte es dann Macbeth. Das Foto auf dem Display zeigte das Innere eines Museums und eine unfassbar riesige Kreatur mit gewaltigen Kiefern und Zähnen und einen Menschen davor, der im Vergleich zu dem Monster sehr klein wirkte.
»Das ist ein Wolf …«, antwortete er. »Offensichtlich kein echter … Er ist zu groß, und dieses ›Was-hast-du-für-große-Zähne‹-Klischee wurde auch übertrieben. Falls ich mich nicht irre und es da draußen wirklich eine Art Riesenwolf gibt.«
»Nein, Sie irren sich nicht. Aber das, was Sie da sehen, war irgendwann einmal echt und zehnmal größer als jeder Wolf, der je gelebt hat. Andrewsarchus mongoliensis, das größte räuberische Säugetier, das je auf der Erde gelebt hat. Es sah aus wie ein riesiger Wolf, war aber überhaupt nicht mit diesem verwandt, sondern zählte eher zu den Schafen oder Ziegen. Ein riesiges Hypercarnivorenschaf, das einen Menschen hätte in zwei Teile beißen können, wenn es damals schon Menschen gegeben hätte. Es ist ein perfektes Beispiel für eine konvergente Evolution, bei der eine Spezies stark einer anderen ähnelt, ohne dass die geringste Beziehung zwischen ihnen besteht.«
»Okay …«, meinte Macbeth.
»Der Andrewsarchus ist seit über dreißig Millionen Jahren ausgestorben. Er hat hauptsächlich in einem Gebiet gelebt, in dem sich heute die Mongolei und der Westen Chinas befinden. Wir haben einen Bericht von unserem Team in Fernost erhalten, in dem ein Mädchen genau dieses Tier beschrieben hat …« Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Touchscreen seines Smartphones. »… bis ins kleinste Detail. Sie wusste sogar, dass er keine richtigen Pfoten, sondern hufartige Klauen besessen hat. Und hier in Boston konnte eine Frau äußerst präzise riesige prähistorische Insekten beschreiben, die nur ein sehr gut eingearbeiteter Paläoentomologe hätte identifizieren können. Außerdem hat sie noch von der ›reichhaltigen‹ Luft aus ihrer Halluzination gesprochen und dass sie längere Strecken laufen konnte, ohne aus der Puste zu geraten. All das passt zu der Zeit – die immerhin dreihundert Millionen Jahre in der Vergangenheit liegt –, in der das Sauerstoffniveau deutlich höher war als heute, fünfunddreißig anstelle von zwanzig Prozent, sodass Insekten gigantisch werden konnten. Wie das chinesische Mädchen mit seiner perfekten Beschreibung des Andrewsarchus hat diese Frau einen riesigen aquatischen Skorpion ebenfalls völlig zutreffend beschrieben, den Jaekelopterus, und zwar derart genau, dass Dinge bestätigt wurden, die bis heute reine Theorie gewesen sind.« Newcombe gab Macbeth Zeit, diese Informationen erst einmal zu verdauen.
»Dabei könnte es sich um Kryptomnesie handeln …«, überlegte Macbeth. »Sie haben Bilder oder einen Dokumentarfilm gesehen, das jedoch wieder vergessen, und die Informationen haben sich in ihren Halluzinationen wieder vergegenwärtigt …«
Newcombe schüttelte den Kopf. »Das ist alles viel zu detailliert, viel zu korrekt. Bei jedem einzelnen Zwischenfall war die Halluzination konsistent mit einem Ereignis, von dem wir wissen, dass es irgendwann in der Vergangenheit stattgefunden hat, oder das zumindest einigermaßen glaubhaft belegt ist. Haben Sie von dem Passagierflugzeug gehört, das kurz vor Harrisonburg in Virginia abgestürzt ist? Die Daten des Flugschreibers zeigen, dass es zum Absturz kam, weil der Pilot kurz nach dem Start plötzlich heftige Ausweichmanöver geflogen ist, um eine Aschewolke und einen riesigen Krater zu umfliegen, obwohl sie sich tatsächlich über einem gerade mal knapp sechshundert Meter hohen Hügel befunden haben. Doch es hat sich herausgestellt, dass diese unbedeutende Erhebung in Virginia, die man den Mole Hill nennt, der erodierte Krater eines einstmals riesigen Vulkans ist, der vor etwa fünfzig Millionen Jahren fast einen Kilometer hoch gewesen sein muss. Und Sie wissen, dass das Ereignis, das wir hier in Boston alle miterlebt haben, genau zu dem Cape-Ann-Erdbeben von 1775 passt.«
»Brian, ich weiß wirklich nicht, worauf Sie mit all dem hinauswollen, aber es ist nicht gerade sehr wissenschaftlich …«
»Vielleicht nicht medizinisch wissenschaftlich. Möglicherweise sind diese Ereignisse aber gar keine klinischen Manifestationen. Vielleicht hat das alles eher etwas mit … keine Ahnung … mit Physik zu tun. Oder mit der Zeit.«
Erneut verharrte Macbeth. Er stand auf dem Weg und sah zum Himmel hinauf, der zwar heller war, aber noch immer eine natriumgraue Farbe zeigte.
»Sie sind nicht der Erste, der mir das heute erzählt, Brian …«