15. KAREN. BOSTON.
Wischen. Eins. Zwei. Wischen. Eins. Zwei. Wischen. Eins. Zwei. Drei. Wischen. Eins, zwei, drei. Rechter Fuß, erster Schritt. Vorwärts. Zurück. Eins, zwei, drei. Linker Fuß vor. Zurück.
Sie wusste, dass die Leute sie beobachteten, einige lachend, andere wichen ihr auf die unsichere Weise von Menschen, die mit bizarrem Verhalten konfrontiert werden, aus, während sie ihr dabei zusahen, wie sie ihr kleines Ritual im Ladeneingang vollführte. Hinter ihr waren ungeduldige und besorgte Geräusche zu hören. Ein Mann drängelte sich an ihr vorbei, murmelte dabei etwas Beleidigendes und schob sie zur Seite. Da sie entsprechend ihres Rituals einen Fuß angehoben hatte, verlor sie das Gleichgewicht und hüpfte auf dem anderen herum, bis die Schulter ihres teuren Mantels gegen den Sandstein traf, aus dem der bogenförmige Eingang des Geschäfts bestand. Voller Panik rieb sie wie wild an dem Stoff herum.
Jetzt war alles ruiniert. Sie musste von vorn anfangen und alles noch mal machen. Also streckte sie sich und machte der Traube an Kunden Platz, die an ihr vorbei zum Eingang des Kaufhauses strömten. Mit gesenkten Augen wich Karen ihren verwirrten oder verachtungsvollen Blicken aus.
Wischen. Sie hob den rechten Arm über den Kopf und bewegte ihn in weitem Bogen durch die Luft. Eins. Sie bewegte den Arm vor sich diagonal von links nach rechts. Zwei. Sie hob den linken Arm und wiederholte spiegelverkehrt die erste Bewegung. Wischen. Sie flatterte mit den Händen vor sich herum, als wickele sie Wolle auf, wobei sie dicht am Boden begann und die Hände bis auf Augenhöhe hob. Drei. Sie vollführte mit der flachen Hand Kreise vor ihrem Gesicht, als putze sie ein unsichtbares Fenster. Vier. Sie trat mit dem rechten Fuß von der Eingangsstufe herunter und zog ihn dann wieder zurück. Fünf. Sie wiederholte das Ganze mit dem linken Fuß, stellte ihn jedoch fest auf den Gehweg, um die beiden letzten bogenförmigen Bewegungen mit den Armen zu vollführen: einen nach rechts, den anderen nach links. Sechs.
Sie ging ganz von der Türschwelle auf die Straße. Sofort war Karen Robertson wieder völlig normal und ging ebenso zielstrebig wie alle anderen Passanten an diesem Morgen durch die Stadt.
Karen Robertson war normal. Sie war geistig völlig gesund. Ihr war bewusst, dass ihr Verhalten in U-Bahn-Waggons, unter Brückenbögen und in Türrahmen bizarr war. Sie hasste die Rituale, die sie durchführen musste, und daher waren U-Bahn-Wagen und Brückenbögen Orte, die sie tunlichst zu meiden versuchte. Aber Türrahmen – Eingänge von Geschäften sowie Türen von Taxis, Bussen und Fahrstühlen – ließen sich unmöglich umgehen.
Häufig lachten ihr die Menschen direkt ins Gesicht. Merkwürdig war, dass sie selbst merkte, wie lächerlich ihre Pantomime war. Wann immer sie sie vollführte, distanzierte sie sich von ihrem Körper und diesem Erlebnis und betrachtete sich mit verächtlicher Miene von außen.
Karen Robertson hatte alles. Sie war eine sehr attraktive, erfolgreiche, fünfunddreißigjährige Anwältin aus einer der besser bekannten Kanzleien in Boston, hatte als eine der Besten ihren Abschluss in Harvard gemacht, stammte aus einer angesehenen Familie aus New England, kaufte ihre Kleidung in der Newbury Street und hatte auch genau die richtige Größe und Figur, um sie tragen zu können. Sie fuhr ein sportliches Lexus-Cabrio, konnte sich die Männer aussuchen und wohnte in einem großräumigen Back-Bay-Apartment. Sie war klug und ambitioniert und stets umgeben von dem Glanz, der selbstsichere, gut situierte Menschen immer umgibt.
Ja, Karen Robertson hatte wirklich alles. Inklusive neunundzwanzig Punkte auf der Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale, was verdammt viel war.
Ihr Psychiater Dr. Corbin hatte versucht, den genauen Ursprung ihrer Angst vor Insekten zu ergründen. Während Karens Teenagerzeit hatte es ein bestimmtes Ereignis gegeben: Sie war auf eine der ältesten privaten Mädchenschulen in Massachusetts gegangen, eines dieser unfassbar traditionsreichen Bildungsinstitute, in denen die Schülerinnen blau bluteten, wenn sie sich das Knie aufschlugen. In ihrem Stundenplan hatten die Klassiker, Latein und Geschichte eine große Rolle gespielt, damit die Patriarchenklasse von heute möglichst viel über die Patriarchenklasse von einst lernte. Karen hatte es dort gehasst. Schon damals hatte sie gewusst, dass sie eine Karriere als Geschäftsfrau anstreben wollte, und war es schnell leid gewesen, dass sich die Schule nur auf eine ferne Welt konzentrierte, anstatt sich mit der Realität zu beschäftigen, in der sie lebten.
Doch an diesem speziellen Tag ging es um die Nachwirkungen irgendeines Krieges. Ein junger persischer Soldat namens Mithridates brüstete sich damit, einen Prinzen aus der gegnerischen Armee getötet zu haben, während sein eigener König Artaxerxes dasselbe behauptete und den prahlerischen jungen Soldaten zum »Tod durch Boote« verurteilte. Der Lehrer erklärte, dass der Historiker Plutarch diese Form der Exekution, den Scaphismus, detailliert erklärt habe. Mithridates wurde zwischen zwei Booten derselben Größe eingesperrt, die man aufeinanderlegte und versiegelte. Sein Kopf, die Hände und Füße ragten heraus, während sich der Rest seines Körpers zwischen den Booten befand. Sodann wurde er mit Milch und Honig zwangsernährt, bis sein Bauch zum Platzen gefüllt war. Danach rieb man sein Gesicht, seine Hände und Füße dick mit Honig ein und drehte sein Gesicht in Richtung Sonne. Bis zum Mittag wimmelte es auf seiner frei liegenden Haut von Spinnen, Fliegen, Wespen und Bienen, die ihn bissen und stachen. Als sich seine Wunden infizierten, fraßen sich andere Insekten tiefer in seinen zwischen den Booten steckenden Körper hinein. Einige ernährten sich nur von seinem lebendigen Fleisch, während sich andere hineinbohrten, um ihre Eier abzulegen. Laut Plutarch dauerte es siebzehn Tage, bis Mithridates starb, und als sie die Boote voneinander trennten, fanden sie dazwischen einen schwarzen Schwarm aus Tausenden von Insekten …
Karens Schrei hatte den vergnügten Vortrag ihres Lehrers beendet, und so fingen auch ihre Panikattacken an, indem sie sich die Lunge aus dem Leib schrie, während sich das Universum mit den eingebildeten Schatten von Wesen füllte, die um sie herumhuschten. Irgendwann war Karen mitten zwischen all ihren sie umringenden Klassenkameraden ohnmächtig geworden und in eine umherflitzende und umhersurrende Dunkelheit gesunken.
Danach hatte Karen nicht einmal an ein Insekt denken, eine Beschreibung hören oder ein Bild eines solchen sehen können, ohne einen krampfhaften, erstickenden Anfall zu bekommen.
Da Dr. Corbin die Ursache für ihre Entomophobie nicht ergründen konnte, hatte er versucht, ihre Ängste mithilfe von Rationalisierung und Konfrontationstherapie einzudämmen, damit sie nur noch so reagierte, dass man es als ansatzweise normal ansehen konnte. Doch in ihren Albträumen wurde sie weiterhin von monströsen Ameisen mit riesigen seitlichen Kieferknochen, Spinnen mit langen Beinen und herumhuschenden, glänzenden schwarzen Käfern heimgesucht.
Ein Aspekt ihrer Phobie hatte sich zu einem obsessiven Zwang entwickelt: Ihre Angst, in ein Spinnennetz zu laufen.
Diese Besessenheit war schließlich in das präventive Ritual ausgeartet, das sie nun jedes Mal durchführte, wenn sie durch einen Durchgang ging oder in eine andere Situation geriet, in der ein Spinnentier eine Falle für sie gewebt haben konnte. In jedem Türrahmen führte sie mechanisch dieselbe Reihe von bizarren Wischbewegungen aus, um sicherzustellen, dass sich dort keine unsichtbaren Stränge aus Spinnenseide befanden, in die sie hineinlaufen konnte. Sie konzentrierte sich dabei vor allem auf ihr Gesicht: Jeder andere Körperteil hätte zwar eine Panik hervorgerufen, aber die Vorstellung, ein Spinnennetz im Gesicht zu haben, reichte schon aus, dass ihr speiübel wurde.
Ihre Rituale waren lächerlich, peinlich und irrational. Wie die meisten obsessiven Zwänge wusste Karen all das und gab es auch offen zu. Dr. Corbin hatte ihr gesagt, dass eine zwanghafte Störung keine Psychose sei: Es gab keine Wahnvorstellungen, der Patient hielt sein Verhalten nicht für normal, während der Rest der Welt verrückt geworden war. Menschen mit obsessiven Zwängen wussten, dass ihr Verhalten seltsam war.
Karens Zwänge waren in rationalen Ängsten verwurzelt, hatte ihr Dr. Corbin erklärt, um dann zu irrationalen Proportionen aufgebläht zu werden. Ängste wurden hinausgeschoben, nicht damit verbundene Sorgen oder Stress aufgrund der Arbeit oder einer familiären Krise konnten der Auslöser für Panikattacken und obsessives Verhalten sein.
Vielleicht hatte Corbin ja recht gehabt. Der Halverson-Bericht nahm einen Großteil ihrer Zeit und ihrer Gedanken ein, und zum ersten Mal in ihrer beruflichen Karriere fühlte sich Karen wegen eines Projekts gestresst. Dazu gesellte sich noch die Angst, vor dem Klienten wie eine völlige Idiotin dazustehen.
Und da war noch diese andere Sache.
Es war vor einer Woche passiert, an einem Morgen, an dem sie aufgrund ihrer Türrituale zu spät zu einem Treffen mit Jack Court aufgebrochen war, um über das Halverson-Projekt zu sprechen, während sie über den Bürgersteig marschierte.
Karen erlebte ein höchst seltsames Déjà-vu. Oder etwas wie ein Déjà-vu, das sich jedoch leicht davon unterschied. Die Stadt um sie herum wirkte verändert, als wäre plötzlich eine andere Tageszeit angebrochen. Das Gefühl intensivierte sich, und sie wurde sich bewusst, dass der Bürgersteig und die Straße leerer wirkten. Auf der anderen Straßenseite sah sie vor einem Park ein kleines Mädchen in einem Kleid, wie Karen es mit zehn oder elf getragen hatte. Das Mädchen hatte sie direkt angesehen.
Und war auf die Fahrbahn gelaufen.
Karen zuckte vor Schreck zusammen und hatte Angst, das Kind könnte vor einen Wagen laufen. Da sich vor ihr eine Lücke im Verkehr auftat, trat sie vom Gehweg herunter.
Ihr war der Mann zuvor gar nicht aufgefallen, der einen schnellen Schritt zur Seite machen musste, um sie nicht anzurempeln, bis sie auf einmal seine Finger spürte, die sich tief in ihren Arm bohrten, als er sie nach hinten riss. Etwas dröhnte laut in ihren Ohren, und ein großer Lkw raste an ihr vorbei.
Plötzlich war der Verkehr wieder normal. Das Licht sah wieder so aus, wie es an einem Frühlingsmorgen in Boston aussehen musste. Sie hielt auf der anderen Straßenseite Ausschau nach dem Mädchen und sah den Gehweg in beide Richtungen entlang. Es war verschwunden.
Karen drehte sich zu dem Mann um, der sie davor gerettet hatte, überfahren zu werden, und sah ihn benommen und mit leerem Blick an. Er war ein attraktiver, kultivierter Mann in ihrem Alter mit dunklem Haar, einem blassen Teint und grünen Augen.
»Ich dachte …« Karen deutete vage in die Richtung, in der sie das kleine Mädchen gesehen hatte, wo es jedoch nie gewesen war, und beendete den Satz nicht.
»Geht es Ihnen gut?«
Karen nickte wie betäubt.
»Sie sollten im Verkehr besser aufpassen«, sagte er.
Karen nickte erneut, und der Mann drehte sich um, ging weiter die Straße entlang und verschwand hinter der nächsten Biegung. Sie stand einen Augenblick lang da und sammelte sich, versuchte, die beiden Fragen zu beantworten, die ihr durch den Kopf schossen: Wie hatte sie das nur sehen können, was sie geglaubt hatte, gesehen zu haben? Und der Mann, der sie zurückgezogen hatte …
Sie war sich sicher, dass sie ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte.