27. JOHN MACBETH. BOSTON.

Das Schilder Neuroscience Research Institute war in einem Gewirr aus Glas und Stahlträgern untergebracht, das an einer Stelle stand, an der sich wenige Jahre zuvor noch der Parkplatz für die anderen Universitätsgebäude in der Umgebung befunden hatte. Das Institut war von einem finnischen Architekten entworfen worden, dessen Name nur aus Vokalen und Umlauten zu bestehen schien, und es sah für Macbeth völlig deplatziert aus, wie ein völlig überschwänglicher Tourist aus Helsinki, der hier nur Urlaub machte.

Trotz allem, was ihm Casey über Anti-Wissenschafts-Fanatiker erzählt hatte, und nach seiner bizarren Unterhaltung mit dem FBI-Mann, der den Namen eines Serienmörders trug, war Macbeth erstaunt, welche Sicherheitsmaßnahmen er am Institut über sich ergehen lassen musste: An den Eingängen standen Metalldetektoren wie am Flughafen, und die uniformierten Wachleute trugen Schusswaffen. Er konnte keine einzige Tür passieren, ohne dass ein Angestellter das Schloss mit seiner Schlüsselkarte öffnen musste.

»Wir haben sehr viele Drohungen und sogar einige improvisierte Bomben per Post erhalten«, erklärte ihm Steve Edelman. Edelman, einer der Direktoren des Instituts und Macbeths eigentliche Kontaktperson, war ein kleiner, übergewichtiger, enthusiastischer Mann in den Fünfzigern. »Wir müssen wachsam bleiben.«

Macbeth verbrachte den Montag und den Dienstag im Institut und nahm an den Besprechungen zu Projekt Eins teil, aber als er zusammen mit den leitenden Wissenschaftlern des Instituts um den Konferenztisch saß, die seiner Präsentation lauschten, während das Summen des Projektors die Stille zwischen den einzelnen Punkten noch deutlicher hervortreten ließ, wurde ihm bewusst, dass sie das nur pro forma durchexerzierten. Das Kopenhagener Projekt Eins stand nicht länger im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Instituts. Er vermutete, dass es jetzt vor allem daran interessiert war, das Phänomen zu lösen, das seine Heimatstadt heimgesucht hatte.

Sein Verdacht wurde bestätigt, als die Besprechung zu Ende war und Edelman Macbeth auf den Gang begleitete.

»Da wäre noch eine Sache, zu der wir gern Ihre Meinung hören würden«, sagte er und gestattete es sich, sein übliches Lächeln verschwinden zu lassen.

Nachdem Edelman ihnen mit seiner Schlüsselkarte eine Doppeltür geöffnet hatte, fand sich Macbeth in einem Teil des Instituts wieder, den er zuvor noch nicht betreten hatte. Schließlich öffnete Edelman die Tür eines Besprechungsraums.

Die vier Personen am Tisch standen auf, als Macbeth hereinkam. Der erste Mann fiel in die Kategorie, die Macbeth »Firmenwissenschaftler« nannte: eher Lacoste als Laborkittel, teures, schwarzes Markenpoloshirt, Handy am Gürtel, sandfarbene Hose, wohlhabender Absolvent der Ivy League mit Seitenscheitel und einem Lächeln, das seine perfekten Zähne aufblitzen ließ. Auf Macbeth machte er den Eindruck, als wäre er direkt von seiner am Kap ankernden Jacht gekommen. Edelman stellte ihn als Dr. Brian Newcombe vor, einen Syndromüberwachungsfachmann der Weltgesundheitsorganisation.

»Das ist Professor Margaret Freeman, unsere Spezialistin für wahnhafte Störungen«, stellte Edelman eine Frau mittleren Alters vor, die einen weißen Arztkittel über einem kaftanartigen Kleid trug, dessen Saum bis zu ihren Knöcheln hinabreichte. »Und das sind Dr. Frank Gebhardt und Dr. Sonia Reynolds von der amerikanischen Gesundheitsbehörde.«

Gebhardt und Reynolds trugen beide dunkle Anzüge und sahen eher nach Regierungsfunktionären statt Ärzten aus. Macbeth vermutete, dass sie diese Show leiteten, worum es hier auch gehen mochte.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.

»Die Menschen hier an diesem Tisch sind der Führungsstab einer Task Force, die die Weltgesundheitsorganisation zusammengestellt hat. Sie konzentriert sich vor allem auf das Ereignis, das letzte Woche in Boston stattgefunden hat, bezieht aber auch ähnliche Vorfälle auf der ganzen Welt mit ein. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie das sogenannte Cape-Ann-Geistererdbeben selbst miterlebt haben?«

»Das habe ich«, bestätigte Macbeth.

»Als erfahrener Psychiater sind Sie vermutlich eher der Ansicht, dass das Ereignis als das Resultat einer Art Massenwahnvorstellung einzustufen ist?«

»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich glauben soll. Aber wenn ich mich festlegen müsste, dann würde ich es als eine Art Übertragungssyndrom oder eine psychogene Massenerkrankung einstufen, auch wenn ich Letztere stets als zu schwammige Diagnose angesehen habe.«

»Über eine psychogene Massenerkrankung haben wir auch schon nachgedacht«, entgegnete Brian Newcombe. »Und es gibt Parallelen zu vorherigen Ereignissen wie den West-Bank-Ohnmachtsanfällen von 1983.«

»Ich weiß von diesen anderen Vorfällen, aber sie stehen alle für den Ausbruch von allgemeinen körperlichen Symptomen bei einer größeren Gruppe von Menschen, wie in West Bank. Einige haben dafür gesorgt, dass die Betroffenen Halluzinationen hatten, aber ich habe noch nie von einem Ereignis gehört, bei dem alle dieselbe Halluzination hatten.«

»Der beste Vergleich, den wir finden konnten, stammt aus einer Zeit, in der es noch keine verlässlichen medizinischen Aufzeichnungen gab«, sagte Gebhardt, der Mann von der Gesundheitsbehörde. »Der kollektive Tanzwahn in Europa 1518. Die Menschen begannen, auf bizarre Weise auf den Straßen zu tanzen, oftmals Hunderte gleichzeitig, bis sie an Erschöpfung oder Herzversagen gestorben sind … Aber selbst das ist ziemlich weit hergeholt. Wir haben einfach keine historischen Analogien.«

»Doch wir haben ziemlich viele andere Vorfälle, die sich momentan ereignen«, meinte Brian Newcombe. »Es gibt Berichte über wahnhafte Störungen auf der ganzen Welt, nicht nur Erdbeben, sondern von allen möglichen Ereignissen, von denen einige harmlos und alltäglich, andere wiederum schrecklich und dramatisch sind. Dabei handelt es sich um Halluzinationen von Individuen, aber auch um solche, die von zwei Menschen, Gruppen aus vier oder fünf Personen und manchmal sogar einer ganzen Menschenmenge wie hier in Boston erlebt wurden.«

Macbeth nickte und dachte über diese Informationen nach.

»Sie wirken nicht überrascht«, stellte Sonia Reynolds fest.

»Das bin ich auch nicht. Einer meiner Kollegen, Dr. Peter Corbin, arbeitet hier in Belmont. Er hatte einige Patienten, die völlig rational denken können und keine Vorgeschichte mit psychiatrischen Störungen haben, aber genau die von Ihnen beschriebenen Halluzinationen erlebten. Dr. Corbin glaubte, es handele sich um eine auf Massachusetts begrenzte Angelegenheit, aber das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Wie genau sieht die geografische Ausbreitung aus?«

»Es ist global«, antwortete Gebhardt. »Jeder Kontinent, jede Kultur. Die meisten Berichte stammen aus Industriestaaten, aber das liegt vermutlich nur daran, dass die Infrastrukturen dort besser sind. Wir haben epidemiologische Analysen angefertigt, aber es hat sich kein Muster herauskristallisiert und es ist auch keine Quelle für diesen Ausbruch zu erkennen.«

»Aber Sie behandeln es als eine Art viralen Ausbruch?«

»Das ist alles, was wir im Moment tun können«, erwiderte Edelman. »Die üblichen Diagnosekriterien sind nicht anwendbar, und diese Vorfälle manifestieren sich in allen vier verschiedenen wahnhaften Ausprägungen: stimmungsgleich, stimmungsneutral, bizarr und nicht-bizarr. Der Persönlichkeitstyp, die Schizotypie, Alter, Geschlecht, Herkunft und kultureller Hintergrund der Personen sind völlig unterschiedlich. Doch allein die Ausbreitung dieser Ereignisse lässt vermuten, dass es sich entweder um einen Virus oder um einen Umwelteinfluss handelt.«

»Dann glauben Sie also auch nicht an diesen Blödsinn, dass das Gleichgewichtsorgan gestört worden sei?«

»Was immer es auch ist, es betrifft alle Sinne«, erwiderte Gerhardt, »entweder einzeln oder in Kombination, also lautet die Antwort Nein. Wir glauben nicht an einen Wirkstoff, der das Gleichgewicht stört. Hören Sie, Dr. Macbeth, wir stellen ein Team aus Experten zusammen, um diese Zwischenfälle zu überwachen und zu analysieren, und wir würden uns sehr freuen, wenn Sie sich diesem Team anschließen könnten.«

»Ich habe schon meine Arbeit am Projekt …«

»Wir werden die Lage mit Ihrer Universität in Kopenhagen klären. Wir brauchen jemanden, der in der Lage ist, die Systeme und Muster zu durchschauen – über die bloßen Fakten hinaus zu sehen. Und Sie haben den Ruf, genau so jemand zu sein.«

»Es gibt bessere Kandidaten, das muss ich Ihnen ganz offen sagen. Beispielsweise Josh Hoberman.«

»Wir haben versucht, Professor Hoberman zu erreichen, das ist uns jedoch nicht gelungen. Aber selbst wenn er dem Team angehören würde, hätten wir Sie dennoch gern mit an Bord.« Gebhardt schob einen roten Aktenordner über den Tisch hinweg zu Macbeth. »Die wichtigsten Informationen stehen hier drin. Sie werden feststellen, dass es mehrere Zwischenfälle gegeben hat, die teilweise einige Monate zurückreichen und die ursprünglich nicht diesem Phänomen zugeschrieben wurden.«

Macbeth hob den Ordner auf und blätterte ihn durch. Er entdeckte eine Weltkarte mit Markierungen. »Wofür steht MWS

»Massenwahnstörung. IWS steht für Individuelle Wahnstörung.«

»Verdammt … das sind ja Tausende.«

»Und die Frequenz steigt exponentiell«, fügte Brian Newcombe hinzu. »Die Halluzinationen treten häufiger auf, sind spektakulärer, umfassen mehr Personen – sie dauern länger an. Und sie sind polymodal geworden – sie umfassen alle Sinne. Die Betroffenen beschreiben die Halluzinationen als lebensecht.«

Macbeth sah den Ordner durch. Sie hatten ein gemeinsames Muster gefunden: Der normale Tagesablauf der Person wurde plötzlich durch ein Gefühl der Unwirklichkeit sowie ein besonders starkes und unangenehmes Déjà-vu unterbrochen. Anfangs war ihnen bewusst, dass etwas nicht stimmte, dass sie eine Art neurologischen oder psychologischen Anfall erlitten, aber dann begannen sie, derart lebhaft zu halluzinieren, dass sie jegliche objektive Erkenntnis verloren. Die Halluzination wurde zu einer Wahnvorstellung, sobald sie begannen, an ihre Echtheit zu glauben.

»Unser Problem ist, dass wir glauben, dass die milderen Formen dieser Vorfälle ständig auftreten: Halluzinationen, die in die reale Welt integriert werden«, ergänzte Sonia Reynolds. »Die Übertragung eines distalen Objekts in die Wahrnehmung wird perfekt imitiert, sodass das Reale und das Irreale nicht länger voneinander zu unterscheiden sind.«

»Es gibt da noch eine andere Entwicklung, über die Sie Bescheid wissen sollten«, meinte Edelman mit ernster Miene.

»Und die wäre?«

»Eine Halluzination ist natürlich nur eine Halluzination. Etwas nicht Reales, das keine physikalischen Effekte haben dürfte. Die Todesfälle und Verletzungen bei dem sogenannten Geistererdbeben hier in Boston wurden alle darauf zurückgeführt, dass die Opfer das Gleichgewicht verloren hätten. Aber es gibt einen Fall, der uns große Sorge bereitet: eine Frau mit einem gebrochenen Arm. Der Bruch wurde durch herabfallende Steine von einem Gebäude während des Erdbebens bewirkt, nur dass es kein Erdbeben und somit auch keine Gebäudeschäden gegeben hat. Keine herunterfallenden Mauersteine. Sie hat eine echte Verletzung durch ein nicht reales Objekt erlitten.«

Macbeth starrte einen Moment lang auf die Tischplatte. »Wir wissen alle, dass Wahnvorstellungen und Halluzinationen zu psychosomatischen Verletzungen führen können. Wahnhafte religiöse Spinner entwickeln häufig Stigmata an den Händen und Füßen, also den Stellen, an denen Jesus angeblich ans Kreuz genagelt worden ist. Oftmals sind das sogar offene, blutende Wunden. Ein Kribbelgefühl ist typisch bei Menschen auf Drogenentzug und jenen mit Entomophobie, und in einigen Fällen haben Menschen, die glaubten, von Insekten, die während ihrer Halluzination über ihre Haut gekrochen sind, gebissen zu werden, bissartige Läsionen auf der Haut entwickelt.«

»Aber ein gebrochener Arm?«

»Wir haben es offenkundig mit extremen Formen der Halluzination zu tun«, sagte Macbeth. »Es könnte durchaus sein, dass eine ungewöhnlich heftige Bewegung oder ein Muskelzucken für den Bruch eines ohnehin schon geschwächten Knochens verantwortlich war. Haben Sie überprüft, ob die Frau medizinische Probleme hatte? Osteoporose, Pagets Krankheit, Osteosarkome?«

»Natürlich haben wir das«, entgegnete Newcombe. »Die Patientin ist ansonsten bei bester Gesundheit, und die Art des Bruchs lässt auf eine von außen kommende Gewalteinwirkung schließen. Außerdem hat sie Abschürfungen und eine Fleischwunde auf der Haut davongetragen, die zu der Annahme passen, dass sie von einem großen, ungleichmäßig geformten Objekt getroffen wurde.«

Macbeth schüttelte den Kopf. »Das ist alles schwer zu glauben.«

»Da sind wir ganz Ihrer Meinung, aber es geschieht nun mal«, sagte Gebhardt. »Dr. Macbeth, schließen Sie sich unserem Team an?«

»Zuerst muss ich Ihnen etwas sagen«, entgegnete Macbeth. »Ich habe nicht nur wie jeder andere das Erdbeben gespürt, ich bin mir darüber hinaus auch ziemlich sicher, dass ich wenigstens zwei, wenn nicht sogar drei kleinere Halluzinationen gehabt habe, bei denen ich Personen oder Dinge gesehen habe, die gar nicht da waren. Wenn das ein Virus ist, dann bin ich ebenfalls infiziert.«

»Letzte Nacht hat mir mein Mann eine Tasse Kaffee ins Arbeitszimmer gebracht«, sagte Margaret Freeman, die bis dahin geschwiegen hatte. »Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben, Dr. Macbeth. Jeder in diesem Raum hat innerhalb der letzten Woche eine seltsame Wahrnehmung gehabt. Wenn das wirklich ein Virus ist, dann sind wir alle infiziert.«