46. ARI. ISRAEL.

Es hatte aufgehört. Das Geräusch, das Beben der Erde unter ihren Füßen, das Umherwirbeln des vom Wind aufgewehten Staubs, all das war so plötzlich vorbei, wie es angefangen hatte. Dann herrschte einen Moment lang erstaunte Stille.

»Was zum Henker war das?«, rief Benny, der wie die anderen mit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen da stand, als müsse er auf festem Boden balancieren.

»Ein Erdbeben …« Ari stand genauso breitbeinig und reglos, als rechne er damit, dass es gleich weiterginge.

Sie schauten einander an und blickten sich dann um, überprüften, ob die Welt noch immer da war. Ari bemerkte, dass die Demonstranten sie beobachteten und wirkten, als wären sie verwirrter aufgrund der Aktionen der Soldaten als durch das Beben, das den felsigen Boden unter ihren Füßen erschüttert hatte.

»Vielleicht ist es nicht real …«, schlug Benny vor. »Du weißt schon, wie diese Sache in Boston.«

Ari schüttelte den Kopf. »Das war real. Hier gibt es Erdbeben. In Eilat hat es 1995 ein Erdbeben gegeben. Das hat was damit zu tun, dass hier zwei Erdplatten aneinanderstoßen, oder so ähnlich. Beruhige dich … Es ist vorbei.«

Schließlich wich die Anspannung aus den Körpern der Soldaten. Ari schüttelte den Kopf und lachte.

Dann bebte die Erde wieder.

Dieses Mal noch heftiger.

Der Boden schwankte und wackelte. Erneut frischte der Wind aus dem Nichts auf, und die Luft wurde körnig und schwer vom Wüstensand. Die Bewegung des Bodens bewirkte, dass Benny auf die Knie fiel, und auch Ari hatte Schwierigkeiten damit, auf den Beinen zu bleiben. Er sah Shalev in die Augen, der sich mit einer Hand an dem Panzerwagen abstützte.

Wieder war das ohrenbetäubende Geräusch zu hören. Aber dieses Mal klang es anders als bei den letzten beiden Malen, anders als alles, was Ari je gehört hatte. Ein gewaltiges Zittern ließ den Boden unter ihren Füßen beben, als sei irgendwo tief in der Erde etwas aufgerissen. Während der Boden schwankte, schien der Wind noch weiter zuzunehmen. Ari konnte die verzierte Fassade des Hotels nicht mehr sehen. Alles ging in umherwirbelndem Sand und Staub unter, aber er war sich sicher, dass er das Hotel eigentlich noch im Blick haben müsste. Dann schlug er sich diesen Gedanken aus dem Kopf und ging los, um Benny wieder aufzuhelfen, doch ein plötzlicher Windstoß riss den kleinen Corporal in die Luft und den Wirbel aus Sand und Palmenstücke hinein.

»Benny!«, schrie Ari und rannte auf seinen Freund zu. Der Wind traf ihn wie eine Flutwelle, drückte ihm die Luft aus der Lunge und schien jetzt stärker als die Schwerkraft zu sein, da er ihm den Boden unter den Füßen wegzog. Eine urtümliche Panik stieg in ihm auf, als ihm bewusst wurde, dass er den Naturgewalten nichts entgegenzusetzen hatte. Ari spürte, wie jemand an seinem Arm zerrte, und als er sich umdrehte, sah er Shalev, der ihn auf die Seite des Panzerwagens ziehen wollte.

»Wir müssen in Deckung gehen!«, schrie der Haredi in Aris Ohr.

»Benny! Was ist mit Benny?«

»Ich werde ihn holen gehen. Ich bin schwerer als du.« Shalev drückte seine breite Hand flach auf Aris Brust und schob ihn gegen die Seite des Wagens und dann nach unten, bis er auf dem Boden saß und den Rücken dagegenlehnte. »Bleib hier!«

Ari sah mit an, wie Shalev wieder in den Sturm hinausmarschierte und sein Umriss verschwand.

Der Sturm legte sich.

Es geschah innerhalb weniger Sekunden. Der Wind war nicht mehr da. Der Sand und der Staub hingen noch eine gefühlte Ewigkeit in der Luft, um sich dann langsam zu senken. Die mit Sand bedeckten Umrisse der anderen Soldaten waren wieder zu erkennen. Die meisten lagen am Boden und rappelten sich langsam auf, wobei sie wie Tonfiguren aussahen, die sich aus dem Boden erhoben. Er sah, wie Shalev Benny wieder auf die Beine stellte. Sie blickten einander durch den dünner gewordenen Vorhang aus schwebendem Wüstensand an.

Ari entfernte sich von dem Panzerwagen und ging auf die Soldaten zu. Er konnte die Hotels hinter sich noch immer nicht erkennen, aber die Sonne bohrte sich bereits wieder mit spitzen Fingern durch den Staub. Um sie herum sah es aus wie beim Weltuntergang.

Ari wandte ihm den Rücken zu.

Er begriff im Bruchteil einer Sekunde, dass er ihm den Rücken zuwandte. Was immer es war, es befand sich jetzt direkt hinter ihm. Das erkannte er an den Gesichtern der anderen, die an ihm vorbei in Richtung Meer starrten, an dem Schreck, dem Staunen und der Panik in ihren Mienen. Dieses Grauen war noch größer als das, welches der Sturm hervorgerufen hatte. Er sah, wie Shalev langsam auf die Knie sank und den Mund nicht mehr schließen konnte. Auch Benny Kagan stand wie angewurzelt da.

Es war hinter ihm. Er konnte es grollen und knurren hören. Er spürte, wie es die Erde unter seinen Füßen beben und zittern ließ. Was immer es war, das sich da hinter ihm befand, er wollte sich nicht umdrehen. Was immer seine Kameraden gesehen hatten, was immer sie erstarren ließ, er wollte es gar nicht erst sehen. Er durfte sich nicht umdrehen.

Er drehte sich um.

Während er das tat, spürte er, dass der Boden wieder bebte, als wäre die Welt unter seinen Füßen zehn Meter nach unten gesackt, um dann abrupt anzuhalten.

Der Sturm, der über sie hinweggefegt war, war jetzt ein Wirbelwind, aber einer, wie ihn Ari noch nie erlebt hatte. Der Trichter hatte einen Durchmesser von fünfzig Meter und erhob sich zuckend und gewunden einen Kilometer weit nach oben in eine gewaltige, rauchende schwarze Wolke. Und darunter … darunter …

Darunter sah Ari etwas, das er nicht glauben konnte. An das er nie geglaubt hatte, das er niemals hatte glauben wollen, sein ganzes Leben lang nicht.

»O Gott …«, murmelte Ari. »O Gott, o Gott, o Gott …«

Es war passiert. Es war passiert, und es war hier passiert. Hier, wo sie waren … Das musste Yam Suph sein. Das musste das Schilfmeer sein.

Hier hatte Moses gestanden.

Mit einer Sicherheit, die er nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte, wusste Ari, dass er Zeuge von Gottes Bund wurde. Dem Zeichen, dass Gott sein Volk beschützte.

Ari Livnat stand am Strand von Eilat und starrte das Unmögliche an. Er bestaunte die beiden gigantischen Mauern aus Wasser, die sich wie riesige Berge aus hochgetürmtem, geriffeltem Glas aufbauten und zwischen denen ein Kanal verlief. Blitze zuckten und knisterten über die unmöglich vertikal stehende Wasseroberfläche. Ari wusste, was er da sah, und weigerte sich, zu glauben, dass er es wirklich sehen konnte. Aber es ereignete sich hier und jetzt vor seinen Augen.

Ari Livnat sah mit an, wie sich das Rote Meer vor ihm teilte.

Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, es angestarrt, es gesehen, es geglaubt hatte. Schließlich wandte er sich ab und ging an Shalev vorbei, der immer noch auf dem Boden kniete, den Oberkörper vor und zurück bewegte und immer wieder dasselbe Gebet vor sich hin murmelte. Ari sagte Benny und den anderen, sie sollten ihm folgen, und ging hinüber zu den Demonstranten, die noch immer dastanden und die Soldaten verwirrt, stumm und reglos anstarrten. Sie sahen ungläubig aus.

Er wusste in dieser Sekunde, dass sie nicht gesehen hatten, was er erblickt hatte. Was die anderen Kameraden erblickt hatten. Es war ein Zeichen, das nicht für die Demonstranten bestimmt war. Eine Botschaft von Gott, die nicht an sie gerichtet war.

Ari nahm sein Gewehr in die Hand.

»Tötet sie«, sagte er mit stumpfer, kalter Stimme zu den anderen. »Tötet sie alle …«

Erneut war ein Geräusch zu hören, das an Donner erinnerte. Aber es kam nicht vom Himmel.