Dr. Abbadon

„Der Vizepräsident lebt?“, fragte Ray verblüfft.
   „Das ist korrekt“, bestätigte General Dixon, der Colonel Jackson mit einem Blick bedeutete, fortzufahren.
   „Der Vizepräsident wurde direkt nach Ausbruch des Virus evakuiert. Unter Umständen haben Sie seine Rede ans Volk gehört, die in Endlosschleife im Fernsehen und Radio gesendet wurde, so lange die Satelliten noch funktionsfähig waren. Mittlerweile befindet er sich an einem sicheren Ort mit einer Notstandregierung, die Pläne vorbereitet, um die Lage unter Kontrolle zu bringen.“
   „Aha. Und wir bekommen die Lage also am besten unter Kontrolle, wenn Dr. Abbadon seine Familie wiedersieht?“. Rays Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.

   „Das ist korrekt“, erwiderte Jackson.
   „Vielleicht wäre der Doktor ja so gütig und würde uns erklären, warum die Welt überhaupt so den Bach runter gegangen ist, dass es erforderlich ist, seine Familie zu retten, bevor wir ihm einen solchen Gefallen tun“, sagte Ray und blickte Abbadon dabei direkt in die Augen. Dieser schaute fragend zu General Dixon herüber. Als der General nickte, lehnte Abbadon sich nach vorne und fing an zu erzählen.

   „Mr. Thompson, ich kann verstehen, dass Sie mir gegenüber Vorbehalte haben. Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Ich bin einer von den Guten. Und ich kann helfen, die Infektion zu stoppen.“ Die Worte hingen bedeutungsschwer im Raum. Josh und Scott tauschten skeptische Blicke aus. Ray verzog keine Miene, auch wenn sich seine Gedanken nur so überschlugen. In erster Linie fragte er sich, warum er diesem Schönling im Designeranzug glauben sollte.
   „Sie fragen sich sicher, warum in aller Welt Sie mir das glauben sollten“, fuhr Abbadon fort. „Das würde ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch. Der Grund dafür ist aber recht simpel. Ich bin mit dafür verantwortlich, dass das Virus überhaupt ausgebrochen ist. Und daher weiß ich auch, wie man es stoppen kann.“ Kaum waren diese Worte ausgesprochen, war Scott von seinem Platz aufgestanden und wollte auf den Doktor los. Ray hielt ihn zurück. „Lass ihn ausreden, Scott.“
   „Ich habe in den vergangenen zehn Jahren für eine Firma namens Vita Invicta gearbeitet“, fuhr Abbadon unbeeindruckt fort.
   „Nie davon gehört.“
   „Hat kaum jemand. Wir waren für eine sehr exklusive Klientel tätig. Rund zweitausend Personen weltweit.“
   „Ziemlich kleiner Kundenkreis.“
   „Das ist richtig. Aber ein ziemlich finanzkräftiger. Bei diesen Menschen handelte es sich ausschließlich um Milliardäre.“
   Ray zog die Augenbrauen hoch. „Und welchen Wunsch konnte Vita Invicta diesen Menschen erfüllen, den sie nicht selbst realisieren konnten?“
   „Raten Sie mal, Mr. Thompson. Der durchschnittliche Milliardär ist dreiundsechzig Jahre alt. Was könnten diese Menschen wollen, dass sie bislang nicht mit Geld kaufen konnten?“
   Ray konnte nur an eine Sache denken, die es nicht käuflich zu erwerben gab. Dann dachte er an den Namen der Firma, für die Abbadon gearbeitet hatte, und es machte Klick. Als Ray die Antwort erkannte, kamen die Worte monoton über seine Lippen. „Das ewige Leben.“
   „So ist es“, sagte Abbadon. „Und wir waren kurz davor, genau das zu ermöglichen.“ Nun hatte Abbadon zum ersten Mal seit dem Beginn des Gespräches Rays volle Aufmerksamkeit. „Wussten Sie, dass Süßwasserpolypen quasi unsterblich sind?“, fragte Abbadon.
   Josh nickte. „Davon habe ich bereits gelesen. Es handelt sich um bis zu drei Zentimeter große Kleinstlebewesen, die insbesondere in Süß- und Fließgewässern vorkommen. Man nennt sie Hydra, wie die griechische Bestie der Antike, der Herakles die Köpfe abgeschlagen und verbrannt hat.“
   „Da hat ja jemand in der Schule aufgepasst. Ich bin sehr beeindruckt“, lächelte Abbadon. „Vielleicht wissen Sie dann auch, dass Süßwasserpolypen eine bemerkenswerte Regenerationsfähigkeit besitzen. Statt Zellen zu reparieren, ersetzen sie sie, indem sie vorhandene Stammzellen teilen. Innerhalb von fünf Tagen erneuert sich ein Süßwasserpolyp quasi vollständig. Wir konnten die Ursache für diese Fähigkeit identifizieren. Verantwortlich für den Regenerationsprozess ist das so genannte FoxO-Gen.“
   „Was hat ein Süßwasserpolyp mit den Heerscharen von Untoten zu tun, die unsere Welt bevölkern?“, fragte Scott grimmig.
   „Menschen besitzen das FoxO-Gen ebenfalls, ebenso wie einige Tierarten. Dieses Gen ist in unserem Erbgut allerdings vollständig inaktiv. Unseren Erkenntnissen nach muss es nur ein wenig genetisch verändert werden, um dem Menschen eine erhebliche Lebensverlängerung zu ermöglichen.“
   „Sie haben die Frage nicht beantwortet.“

   Abbadon atmete tief durch. Sein bislang unerschütterliches Lächeln war verschwunden. „Wir haben im Auftrag unserer Klienten Experimente durchgeführt, um die Genvariationen zu testen. Diese Experimente waren als Medikamententests deklariert. Es handelte sich um streng geheime Tests an zehn ausgewählten Probanden. Die Ergebnisse waren zunächst vielversprechend.“
   „Zunächst“, schnaubte Scott.
   „In den ersten Wochen zeigten sich erstaunliche Resultate. Die Zellteilung der Studienteilnehmer glich denen der Süßwasserpolypen nahezu identisch. Wir dachten, wir hätten einen Durchbruch erzielt. Dann verstarben sie. Einer nach dem anderen. Bis nur noch ein Proband über war.“
   „Sie waren einfach so tot?“, fragte Josh.
   „Zunächst ja. Dann aber kamen sie zurück – wir konnten es selbst nicht glauben. Nach kurzer Zeit verwandelten sie sich in diese blutrünstigen Kreaturen, die nun in Unmengen die Welt bevölkern.“

   „Wie konnte das passieren?“, wollte Ray wissen.
   „Das wissen wir nicht genau. Bei der Obduktion der Leichen wurde deutlich, dass nach den anfänglichen Erfolgen die Zellteilung plötzlich gar nicht mehr stattfand. Die Genvariation schien nicht ausgereift gewesen zu sein. Anscheinend hat unsere Genveränderung einen Virus hervorgerufen, der während der Testzeit mit Leichtigkeit übertragen werden konnte, so lange er inaktiv war. Speichel, Blut, Sperma. Die zehn Versuchspersonen wurden unwissenderweise zum Überträger. Die Infektion verbreitete sich von da an vermutlich exponentiell schnell, wie bei einem Schneeballsystem. Unseren Berechnungen zufolge hatte das Virus eine Inkubationszeit von rund sechs Monaten. Als es dann aktiv wurde, brach die Hölle los.“
   „Das heißt…“, begann Josh.
   „Das heißt, dass die Probanden unzählige Menschen während der Inkubationszeit angesteckt haben können und im Prinzip jeder das Virus in sich tragen könnte, je nachdem, wann er sich angesteckt hat“, sagte Abbadon. „Mit Ausnahme von allen Personen auf diesem Schiff inklusive Ihnen, Ihr Schnelltest war negativ.“
   „Das würde erklären, warum sich einer unser Soldaten scheinbar ohne Grund in der Kantine verwandelt hat“, sagte Josh und dachte dabei an Private Maddox. „Er trug das Virus schon in sich und dann war die Inkubationszeit für ihn abgelaufen. Schließlich testen wir in Fort Benning nur auf eine aktive Version des Virus. Zur Hölle, bis vor fünf Minuten wussten wir nicht mal, dass es eine inaktive Variante gibt.“
   Abbadon nickte. „Korrekt. Sie sollten in jedem Fall überprüfen, ob Ihr Soldat auch andere Menschen infiziert hat.“
   „Was war mit dem letzten Probanden Ihrer Testreihe?“, wollte Ray wissen.
   „Bei einer Routinekontrolle rastete der Mann komplett aus. Er entwickelte dabei unmenschliche Kräfte und zerlegte unser halbes Labor. Wir mussten ihn erschießen. Bei der Autopsie stellte sich heraus, dass sein Körper eine Genmutation in ihrer extremsten Form aufwies.“
   „Kennen Sie den Grund dafür?“, hakte Josh nach. Ray dachte an den Alpha-Zombie an Chris‘ Haus.
   „Wir vermuten, dass es damit zusammenhing, dass er Bluter war“, antwortete Abbadon.
   Ray, Josh und Scott sahen sich wie erstarrt an.