Erst
dann, wenn wir akzeptieren,
dass die scheinbar unbegrenzte Freiheit
unseres Willens
einer Illusion unseres Bewusstseins
entspringt,
werden wir in Demut zu dem humanen Wesen
werden,
von dem man sagen könnte,
dass es die höchstmögliche Stufe irdischer
Evolution erreicht hat.
Manfred Poisel
Der Mond schien in
dieser sternenklaren Nacht besonders hell. Das Motorengeräusch des
fahrenden VW wurde nur dann und wann von dem Ruckeln einer
Bodenwelle unterbrochen. Captain Raymond Thompson saß auf der
Rückbank des Kastenwagens. Der eiskalte Fahrtwind blies ihm durch
ein geöffnetes Fenster ins Gesicht, doch Ray verzog keine Miene.
Phil, der Fahrer des Wagens, hatte die Fahrt vor einigen Minuten
kurz unterbrochen, um nach dem verletzten Chris zu sehen, der
ebenfalls hinten im Wagen unter mehreren Jacken lag, und um seine
beiden Kinder ihre Notdurft verrichten zu lassen. Chris bekam
offensichtlich schwer Luft und war immer noch bewusstlos, aber sein
Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen
Abständen.
Scott hatte vorne rechts neben
Phil Platz genommen. Fiona saß neben ihm in der Mitte der Sitzbank
und den kleinen Robbie hatte er auf dem Schoß. Er spielte
„Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst“ mit den beiden, um sie von den
belastenden Ereignissen der letzten Stunden abzulenken. Phil
blickte während der Fahrt hin und wieder dankbar zu Scott
herüber.
Ray hatte
seine Hände auf den Knien abgelegt. Er sah aus dem Auto auf die
Straße, aber sein Blick wirkte leer. Auf einigen Feldern konnte er
in der Ferne menschliche Umrisse im Dunkeln sehen. Ray wusste
genau, was sich dort torkelnd und schleppend bewegte. Es waren
Untote. Heerscharen von Untoten.
In den letzten Tagen hatte sich
die Welt in ein Tollhaus verwandelt. Ein Virus von nicht
abschätzbaren Ausmaßen hatte die Menschheit heimgesucht. Wie viele
Menschen bereits zu Untoten geworden waren, konnte man nur
vermuten.
Sie fuhren an verunfallten Fahrzeugen vorbei. Einige waren ausgebrannt, andere standen am Straßenrand und waren verlassen. Den schlimmsten Anblick boten jedoch die Fahrzeuge, deren Insassen nicht fliehen konnten. Einige saßen noch immer in ihren Autos, bereits zu blutrünstigen Bestien verwandelt, aber geistig unfähig die Fahrzeugtüren oder die Anschnallgurte zu öffnen. Die Versuche, die Front- oder Seitenscheiben der Autos aufzukratzen, hatten skurrile Gemälde aus Blut und Hautresten auf dem Glas hervorgebracht.
Ray wandte seinen Blick ab und betrachtete seine Hände. Teilnahmslos nahm er wahr, dass seine Finger zitterten. Er hatte seit Stunden keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. Er spürte, wie der Wunsch nach etwas Hochprozentigem langsam in ihm wuchs und er wusste, dass er diesem Drang später nachgeben würde. Momentan aber war er immer noch wie betäubt von den Ereignissen der vergangenen Stunden. Wann immer er seine Augen schloss, sah er Cathys strahlendes Gesicht vor sich. Bei jedem Atemzug konnte sich Ray an ihren wunderbaren Geruch erinnern.
Cathy ist
Rays Geliebte gewesen und erst vor wenigen Stunden gestorben. Sie
war einem außergewöhnlichen Zombieexemplar zum Opfer gefallen, als
das Haus von Chris, in dem sich die Gruppe zuletzt aufgehalten
hatte, von einer Horde überrannt wurde. Die Fähigkeiten dieses
Zombies überstiegen die der anderen Untoten um ein Vielfaches.
Nicht nur, dass der „Springer“ sich schnell, effizient und
kraftvoll bewegen konnte, die Bestie schien diese Bewegungen auch
noch mit einer gewissen Planung und Intelligenz auszuführen. Ray
kam diese Kreatur wie ein Raubtier auf der Jagd vor und die anderen
Untoten schienen ihr wie eine Anhängerschar zu
folgen.
Doch was Ray innerlich zerriss,
war nicht die Tatsache, dass er und seine Leute in den vergangenen
Stunden ihr Quartier verloren hatte. Es war auch nicht der Umstand,
dass Chris schwer verletzt im Auto lag und mit Cathy, Greg und
Howard drei Mitglieder ihrer Gruppe gestorben waren. Das Schlimmste
an der ganzen Geschichte war, dass Ray den Springer kannte. Und
dass all dies nie hätte passieren müssen, wenn er zuvor in Monterey
anders gehandelt hätte.
Ray spürte, wie der Stacheldraht in seinem Magen sich weiter zusammenzog. Er verfluchte sich innerlich. Davon zu sprechen, dass er sich schuldig für die Katastrophe in Chris‘ Haus fühlte, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Seine Gedanken wanderten zu seinem alten Leben. Er dachte an Melissa, seine Exfrau, und auch an Eve und Tom, seine beiden Kinder. Hatten sie es geschafft? Wo konnten sie sein? Würde er sie je wiedersehen?
Ray war sich gerade nicht sicher, wie viel Schmerz ein einzelner Mensch ertragen konnte, ohne verrückt zu werden. Seine Großmutter hatte ihm nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau Debbie einmal gesagt, dass jeder Mensch sein Päckchen im Leben zu tragen habe. Wann immer es ihm von da an im Leben schlecht ging, versuchte sich Ray an dieses simple Leitmotiv zu erinnern und meistens funktionierte das auch. Ray war froh, dass seine Großmutter die Welt, wie sie zurzeit war, nicht mehr miterleben musste. Er vermutete, selbst sie hätte ihre stoische Gelassenheit im Anblick der jüngsten Ereignisse nicht aufrechterhalten können. Ray versuchte sich Dinge ins Gedächtnis zu rufen, die sein Leben jetzt noch lebenswert machten.
Nur einen Handgriff entfernt stand ein großer Armeerucksack im Kofferraum. Ray erinnerte sich an die große Flasche Jack Daniels, die er in Monterey in eben diesem Rucksack verstaut hatte. Wie gerne würde ich mich jetzt volllaufen lassen und die letzten Tage einfach aus meinem Schädel brennen.
Ein Ächzen durchbrach die Stille und Rays düstere Gedanken. Chris wälzte sich im Schlaf. Sein Atem ging pfeifend. Der blonde Mann hatte überall Kratzer und Schrammen im Gesicht. Überbleibsel von seinem Sturz vom Balkon. Ray beugte sich zu ihm herüber und legte ihm eine Hand auf die Stirn. Sie war warm, aber Chris schien bisher kein Fieber zu haben. Soweit er das beurteilen konnte, bedurfte er aber dennoch dringend medizinischer Hilfe. Ray hoffte inständig, dass sein neuer Freund es schaffen würde. Chris hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Ray hörte, wie sich Phil und Scott vorne unterhielten.
„Wie lange werden wir noch brauchen, Scott?“, fragte Phil.
„Warte eine Sekunde, ich checke die Karte.“
Scott kramte im Handschuhfach herum und wühlte einen Straßenatlas hervor. Er breitete ihn vor sich aus, während der kleine Robbie immer noch auf seinem Schoß saß. Nach einem abschätzenden Blick nickte er zufrieden.
„Wir sind auf der Route 18. Einige Meilen Straße liegen noch vor uns. Wenn wir weiter in diesem Tempo vorankommen und nichts Unvorhergesehenes passiert, sollten wir morgen Abend in Fort Benning ankommen.“
„Das ist noch ein ganzes Stück.“ Phil wirkte angespannt.
„Ich werde nicht zulassen, dass deinen Kindern etwas zustößt Phil, darauf hast du mein Ehrenwort.“ Scott blickte entschlossen zu ihm herüber.
Phil nickte ihm zu.
„Lass uns zusehen, dass wir so bald wie möglich Rast machen. Wir müssen tanken. Außerdem sind die Kinder total erschöpft. Ich bin auch fertig und ich denke, Ray und du könnten auch eine Mütze voll Schlaf vertragen.“
Eigentlich wollte Scott Fort Benning so schnell wie möglich erreichen. Die Hoffnung, dort eventuell seine Frau und seinen Sohn wiederzusehen, trieb ihn an. Dennoch stimmte er Phil zu. Unvernunft konnte sich zu diesem Zeitpunkt keiner von ihnen leisten. Scott warf einen erneuten Blick in die Karte.
„Zwölf Meilen nördlich von hier ist eine Siedlung verzeichnet. Hier steht ein Tankstellensymbol. Vielleicht bekommen wir dort neues Benzin und etwas zu essen.“
„Okay, gute Idee“, sagte Phil.
Scott blickte nach hinten. „Hey Ray.“
Ray schaute ihn aus leeren Augen an.
„Wir wollen gleich rasten. Die Kinder brauchen Schlaf und Chris benötigt Ruhe. Nur damit du Bescheid weißt.“
„Mhm.“ Mehr brachte Ray nicht heraus. Danach starrte er wieder verloren in die Ferne.