Das ganze Ausmaß

Josh wollte keine Zeit verschwenden. Er ging geradewegs in Richtung Messe. Vor dem Gebäude standen zwei Wachen und beobachteten ihn, als er näher kam. Die beiden Soldaten vor dem Eingang waren schwer bewaffnet. Einer richtete seine Waffe auf Josh, als er ihn kommen sah. Als er sich den beiden als Sohn des Master Sergeants vorstellte, winkten sie ihn jedoch sofort durch. Josh straffte sich. Er wollte stark wirken. Sein Vater, Willem Pelletier, war ein Krieger. Josh sah ihn seit frühester Kindheit wenig. Er war stets auf Manövern oder in Einsätzen und doch hatte sein Dad versucht, so gut es ging für ihn da zu sein. Josh erinnerte sich gerne an seinen ersten Besuch auf dem Schießstand mit seinem Dad. Waffen sind nur Werkzeuge, Junge. Entscheidend sind die Männer, die sie führen. Er erinnerte sich gut an diese Worte, die sein Vater ihm oft eingebläut hatte. Die Männer, die sie führen…
   Josh kam mehr nach seiner Mutter. Ein schmächtiger Junge mit wenigen Freunden, der sich eher für Videospiele, als für Leibesertüchtigungen interessierte. Wie oft hatte sein Dad versucht ihm eine Militärkarriere schmackhaft zu machen? Es hatte auf ihn gewirkt, als arbeiteten beide Elternteile seit seiner Kindheit daran, ihn in ihr jeweiliges Lager zu lotsen. Er interessierte sich allerdings irgendwann mehr für die Medizin und sein Dad gab es auf, einen Soldaten aus ihm machen zu wollen. Dennoch hatte er ihn nie spüren lassen, dass er in seinen Augen deshalb weniger wert war. Ganz im Gegenteil. Sein Dad begann nun, ihn in Sachen Medizin zu fördern, wo er nur konnte. Natürlich sehr zur Freude seiner Mutter.

   Die Wochenenden mit seinem Vater auf dem Schießstand des Stützpunktes waren jedoch als festes Ritual bestehen geblieben und Josh wollte nicht einen Tag missen, er liebte es und es war eine der wenigen Gemeinsamkeiten mit seinem Dad, die ihm wirklich Spaß machte.
   Josh durchquerte die große Vorhalle der Offiziersmesse. Normalerweise speisten hier die ranghöchsten Soldaten des Forts, oder sie nutzten den Raum für Besprechungen und Empfänge. Er sah viele Wimpel und Pokale in Regalen, die von diversen militärischen Wettkämpfen stammten. Soldaten wetteifern gern. Auch über dem Eingang zum Speisesaal prangte das Motto, welches er bereits auf dem Rundbogen draußen gesehen hatte.
   Es herrschte geschäftiges Treiben in dem Gebäude. Er sah viele Menschen miteinander sprechen, die ihn aber gar nicht weiter beachteten. Der Speisesaal war zu einer Art Kommandozentrale umgebaut worden. Es waren einige Tische zu einem großen Viereck in der Mitte des Raumes zusammengeschoben worden. Als er den Saal betrat, sah er seinen Vater an dem großen Tisch in der Mitte des Raumes stehen. Willem Pelletier trug seine Einsatzuniform. Er hatte die Ärmel akkurat hochgekrempelt und präsentierte seine trainierten und gebräunten Arme. Sein Haar war schlohweiß und adrett kurzgeschoren. Er war für sein Alter noch erstaunlich athletisch. Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre war er den meisten jungen Soldaten körperlich weit überlegen. Josh kannte seinen Vater eigentlich nur so. Immer voller Energie und Tatendrang. Heute allerdings sah Willem Pelletier müde aus. Er blickte gerade in Gedanken vertieft auf einige Landkarten. Er diskutierte mit anderen Soldaten, wobei er stetig die Karten sondierte. Dennoch merkte er sofort, dass jemand den Raum betreten hatte.
   „Meine Herren, wenn Sie mich kurz entschuldigen würden, mein Sohn ist soeben eingetroffen. Corporal Morgan, übernehmen Sie.“ Die Männer nickten und zeichneten weiter an ihren Landkarten.
   Willem Pelletier ging geraden Schrittes auf Josh zu und umarmte ihn fest.
   „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin dich zu sehen. Meine Wache hat mich informiert, dass du kommst.“ Willem räusperte sich vernehmlich.
   „Doch Dad, das kann ich. Ich bin so froh, dass du und Mom wohlauf seid. Ich bin ziemlich überwältigt von der ganzen Situation im Augenblick. Es ist das reinste Chaos draußen.“
   „Das sind wir wohl alle, Josh. Komm mit, wir gehen in mein Büro.“ Er machte auf dem Absatz kehrt und bedeutete Josh ihm zu folgen. Er öffnete die Tür zu einem spartanisch eingerichteten Büroraum, in dem die einzige Dekoration aus Fotografien von kameradschaftlicher Verbundenheit zwischen seinem Vater und dessen alten Weggefährten bestand. Willem bot seinem Sohn einen Platz und eine Tasse heißen Kaffee an. Er schloss sorgfältig die Tür. Dann setzte er sich selbst und sank in seinen Bürostuhl.
   „Du kannst dir nicht in deinen kühnsten Träumen vorstellen, wie Recht du hast, Josh. Die Lage als ernst oder finster zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrtausends. Desert Storm war ernst. Mogadishu ist ernst. Al Qaida und alles, was du dir sonst an Schrecken auf der Welt vorstellen kannst - alles ist ein Fliegenschiss im Vergleich zu dem hier.“
   „Warum habt ihr nichts getan, Dad? Ihr seid die verdammte Armee der Vereinigten Staaten. Ihr müsst doch etwas tun“, platzte es plötzlich aus Josh heraus. Er war seinem Vater gegenüber niemals respektlos gewesen und erwartete eine Maßregelung. Stattdessen trank sein Vater einen Schluck Kaffee und rieb sich die Müdigkeit aus den Augen.
   „Warum denkst du, sitzen wir mitten in der Nacht hier in diesem Büro und stehen nicht mehr draußen bei den anderen Menschen?“, fragte Willem ihn ernst.
   „Ich habe keinen Schimmer!“, antwortete Josh aufgebracht.
   „Josh…“, sein Vater sah auf einmal um Jahre gealtert aus. „Wir waren auf so etwas schlicht und einfach nicht vorbereitet. Ich bin Soldat, kein Kommandant. Normalerweise betreue ich Grundausbildungen und halte Vorträge über ballistische Kurven und Windverhältnisse. Seitdem der Virus wütet, hat diese Einrichtung fast die Hälfte aller Soldaten verloren. Einige sind desertiert, um zu ihren Familien zu kommen. Andere haben sich bei den ersten noch sehr wirren Einsätzen in diese wandelnden Schrecken verwandelt und sind auf Zivilisten oder Kameraden losgegangen. Ich musste selbst langjährige Freunde und Kameraden erschießen. Die Soldaten haben sich geweigert, einfach wahllos Infizierte niederzuschießen. Viele wollten ihre Freunde nicht aufgeben und fielen so selbst diesen Kreaturen zum Opfer. Die Militärführung ließ uns zu Beginn weitestgehend im Unklaren, wodurch wir noch schlechter auf den gesamten Schrecken vorbereitet waren. Mittlerweile ist von der Führung in Fort Benning niemand mehr vor Ort, so dass ich den Stützpunkt leite. Wir haben kaum Funkkontakt zu anderen Militärbasen. Wir sind so gut wie blind und halb taub. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was im Fernsehen berichtet wurde, dann sind wir wahrlich am Arsch. Ich habe hier momentan einfach nicht die Mittel, um etwas dagegen zu unternehmen. Setz dich auf meinen Stuhl und sag mir was ich tun soll, ich bin für jeden noch so kleinen Rat dankbar.“
   „Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm um uns bestellt ist“, antworte Josh ehrlich. Er schämte sich, so patzig gewesen zu sein.
   „Das ganze Ausmaß ist noch gar nicht abzusehen. Aber machst du die Feuerwehr dafür verantwortlich, wenn es brennt? Glaub mir, wir wären froh, wenn wir wüssten, wie es in zwei Stunden hier aussieht. Im Augenblick haben wir vier Prioritätsziele: Rettung, Versorgung, Kommunikation, Befestigung. Daran arbeiten wir aktuell. Und selbst dabei stoßen wir schon an unsere Leistungsgrenzen.“
   Josh überlegte, wie er seine nächsten Worte wählen sollte. Dann entschied er sich für die gerade-heraus Variante. „Dad, da ist noch etwas anderes. Vielleicht hattet ihr auch schon einen solchen Kontakt. Ich bin mir auch nicht zu hundert Prozent sicher, aber einige von diesen Viechern scheinen noch Fetzen von Verstand zu besitzen.“
   „Wie meinst du das?“, fragte Willem angespannt.
   „Auf dem Weg hier her bin ich einer Kreatur begegnet, die sich anders als die anderen verhalten hat. Sie war koordinierter und handelte scheinbar überlegt. Sie hat mich zielgerichtet gesucht und ist mir hinterher gerannt. Das schlimmste daran war, dass dieses Mistvieh die anderen Biester zu kontrollieren schien. Sie sind ihr jedenfalls gefolgt, fast als würden sie auf sie hören.“
   „Bist du dir da sicher, Josh?“
   „Das bin ich, wie gesagt, eben nicht. Ich wollte dir die Information allerdings nicht vorenthalten.“
   Willem sank in seinen Stuhl und dachte über das Gehörte nach. Dann setzte er sich wieder gerade hin. „Danke dafür. Im Moment verschlimmert das unsere Situation allerdings nicht sonderlich. Wir können nur von Tag zu Tag planen.“
   „Kann ich irgendwie helfen, Dad?“
   „Allerdings. Du bist mit deiner medizinischen Ausbildung im Sanitätsbereich mehr als willkommen. Außerdem kann ich mich momentan kaum um etwas anderes kümmern, als um diesen Stützpunkt. Ich wäre froh, wenn ich einen vertrauenswürdigen Menschen in der Nähe deiner Mutter wüsste. Jetzt, wo du in Sicherheit bist, fällt ihr das hier hoffentlich etwas leichter.“
   „Ich tue, was in meiner Macht steht. Darauf kannst du dich verlassen.“ Josh blickte seinem Vater entschlossen in die Augen.
   „Du bist ein guter Junge Josh, das warst du immer. Ich verlasse mich auf dich. Ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann. Iss etwas, zieh dich um und schlaf dich aus. Danach teile ich dich mit deinem Einverständnis dem Sanitätsteam zu.“
   „Geht klar.“
   „Bis später, mein Sohn. Ruh dich aus. Sprich am Eingang mit Private Harper und lass dich zu unserem Quartier begleiten.“
   Josh nickte und verließ das Büro. Dann ließ er sich von Private Harper sein Quartier zeigen. Als sie das Gebäude erreichten, ging die Sonne gerade auf. Laut seiner Armbanduhr war es kurz nach sieben. Der Private führte Josh zu seinem Zimmer und verabschiedete sich. Erschöpft fiel Josh auf sein Bett. Bevor er in einen traumlosen Schlaf glitt, dachte er noch eine gefühlte Ewigkeit über die letzten Stunden nach. Dann siegte zu guter Letzt die Müdigkeit.