Gefühlssturm

Ray eilte hinter Chris her in Richtung des Kommunikationszentrums.

„Was ist denn los?“, keuchte er, während er vergeblich versuchte, an Chris dranzubleiben. „Du holst mich aus dem Hangar und rennst hier rum wie ein Schwein auf Crack, könntest du mir bitte mal sagen was…“

   Chris schien von Rays Bemerkung nichts mitbekommen zu haben. Zielgerichtet und mit schnellem Schritt steuerte er auf die Kommunikationszentrale von Fort Benning zu. An der gesicherten Panzertür zog er eine Plastikkarte aus der Hosentasche und zog sie durch einen Schlitz an einer Konsole an der Wand. Auf dem kleinen Flatscreen oberhalb der Konsole erschienen in grüner Schrift die Worte „ACCESS GRANTED“. Fast zeitgleich lehnte sich Chris gegen die Tür, die sich nach innen öffnete. Ray fragte sich erneut, was das alles zu bedeuten hatte.

   Er folgte Chris durch einen breiten Flur, an dessen Ende eine verglaste Doppeltür in das Kommunikationszentrum führte. Als Chris die Tür öffnete, drehten sich alle Köpfe zu den beiden um. „Hier ist er“, sagte Chris.

   Bevor Ray realisierte, dass er gemeint war, wirkten die vielfältigen Eindrücke der futuristisch anmutenden Einrichtung wie in Zeitlupe auf ihn ein. Der elektronische Geruch von seit langer Zeit laufenden PCs stieg ihm in die Nase. Als er sich umschaute, erkannte er den Grund dafür: Eine kleine Treppe führte von dem Podest, auf dem er und Chris standen, in einen quadratischen Raum, an dessen Seitenwänden auf ganzer Länge Schreibtische standen. Beleuchtung gab es lediglich durch die in regelmäßigen Abständen über den Schreibtischen hängenden Flatscreens, vor denen bis vor wenigen Sekunden noch wie wild die Mitarbeiter des Kommunikationsteams auf Tastaturen eingedroschen hatten. In der Mitte der Zentrale stand ein rechteckiger Konferenztisch mit mehreren Stühlen. Der absolute Blickfang aber war die riesige Displaywand am Kopfende des Raumes. Vor der LED-Wand stand Master Sergeant Pelletier und schaute erwartungsvoll zu Ray. Aber es war nicht die Anwesenheit des Master Sergeants, die Ray das Herz in die Hose rutschen ließ. Es war das Bild der Person, deren Gesicht in Übergröße verzerrt auf der Displaywand abgebildet war, das seine Knie weich werden ließ und ihm die Kraft aus dem Körper zog. Sie sah verändert aus. Gezeichnet. Aber sie war es. Eindeutig. Ray brachte nur ein Wort hervor: „Melissa.“

 

Als der Schock langsam aus Rays Körper wich, kam der Master Sergeant bereits auf ihn zu.
   „Mister Thompson, wenn Sie mir bitte folgen würden.“ Ohne auf Rays Zustimmung zu warten, ging Willem Pelletier durch die Glastür in den breiten Flur und bog dann rechts in ein Nebenzimmer ab. Chris zuckte mit den Achseln. „Ich sollte dich nur holen.“

   Als Ray das Besprechungszimmer betrat, stand der Master Sergeant hinter einem großen Eichenschreibtisch und deutete auf einen davorstehenden Sessel. „Setzen Sie sich. Kaffee?“

   Ray ließ sich langsam sich in den Sessel gleiten. „Antworten wären mir lieber.“

   „Sie haben doch noch gar nichts gefragt“, sagte der Master Sergeant, während er Ray und sich selbst eine Tasse Kaffee einschenkte.

   „Bei allem Respekt, Sir. Sie können sich sicherlich denken, was gerade in meinem Kopf vorgeht.“

   „Kann ich das? Nun, nur unter der Prämisse, dass die Informationen, die wir in Erfahrung bringen konnten, korrekt sind.“

   „Was haben Sie denn Schönes in Erfahrung bringen können?“

   „Dass die Frau auf dem Bild Ihre Ex-Frau ist. Melissa Thompson, geborene Fletcher. Dreiundvierzig Jahre alt. Mutter der Zwillinge Tom und Eve. Blutgruppe A positiv. Arbeitete bis zum Ausbruch der Katastrophe als Grundschullehrerin. Scheidung von Ihnen im Jahr 2009. Außerdem…“

   „Das reicht. Was soll das hier?“

   „Also ist die Frau auf dem Bild Ihre Ex-Frau, Captain Thompson?“

   „Lebt sie noch? Was ist mit meinen Kindern?“

   „Beantworten Sie bitte meine Frage.“  

Nein, es ist Oprah Winfrey, dachte Ray. Er fragte sich, was diese Fragerunde hier sollte. Anscheinend wusste der Master Sergeant doch schon, dass es Melissa auf dem Bild war. Ray merkte, wie sein Geduldsfaden sich Faser für Faser löste. Passenderweise meldete sich eine innere Stimme, die einen Zusammenhang zwischen seiner momentanen Gefühlslage herstellte und der Tatsache, dass er heute seit einer Woche trocken war. Einen kleinen Schluck Whisky in meinen Kaffee, und ich könnte das hier mit Leichtigkeit ertragen, dachte Ray. Schnell schob er den Gedanken beiseite.

   „Es ist Melissa. Bitte beantworten Sie nun meine Frage, Sir.“

   „Sofern wir unserer Quelle vertrauen können, lebt Ihre Ex-Frau. Von Ihren Kindern wissen wir nichts.“

   „Wo ist sie? Wie kann ich zu ihr? Wer ist diese Quelle?“

   „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihre Frau sich in einem Auffanglager an der Westküste mit dem Namen Sanctuary befindet. Das geht zumindest aus dem Gespräch mit einem Funker hervor, mit dem wir in den vergangenen Tagen Kontakt hatten.“

   „In den vergangenen TAGEN? Soll das heißen, Sie wissen schon länger, wo Melissa sich aufhält?“ Ray merkte, wie Wut in ihm aufstieg.

   „Bitte maßen Sie sich nicht an, meine Entscheidungen in Frage zu stellen. Ich wollte Sie erst unterrichten, wenn wir einigermaßen sicher sein konnten, dass die Informationen vertrauenswürdig sind. Das Foto haben wir heute Morgen erhalten. Ihre Identifizierung bestätigt demnach die Vertrauenswürdigkeit unserer Quelle.“

   Ray kochte innerlich. Er hasste diese militärisch gestelzte Ausdrucksweise. Er wollte Willem Pelletier schütteln und ihn anschreien, dass er verdammt nochmal den Stock aus dem Arsch nehmen und Tacheles reden sollte. Stattdessen umklammerte er die Armlehnen des Sessels so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten.
   „Was wissen Sie sonst noch?“

   „Die Informationen sind bislang sehr spärlich, wir haben immer nur eine Viertelstunde für die Kommunikation, bevor die Satelliten wieder die erdnahe Umlaufbahn verlassen. Außerdem ist die Übertragung zuweilen miserabel.“

   „Wie sind Sie ausgerechnet auf Melissa gekommen?“, fragte Ray.

   „Wir haben eine Liste mit den Namen aller Flüchtlinge aus Sanctuary bekommen. Insgesamt rund 1200 Leute. Wir haben alle Namen geprüft. Als wir auf Melissa gestoßen sind, haben wir Sie sofort benachrichtigt.“

   „Haben Sie nicht“, antwortete Ray flapsig. „Gibt es sonst noch Personen in Fort Benning, die Angehörige in Sanctuary haben?“

   Der Master Sergeant überhörte Rays Bemerkung. „Nach unserem momentanen Kenntnisstand nicht. Allerdings stoßen laut unserer Quelle täglich neue Flüchtlinge hinzu. Es dauert daher, die Liste aktuell zu halten.“

   „Sie erzählen mir das doch nicht alles aus Nächstenliebe, Master Sergeant Pelletier. Worauf soll das hier alles hinauslaufen?“

   „Das, Mister Thompson, werde ich Ihnen jetzt erklären.“