Nachtflug

Mitten in der Nacht standen Ray und Scott vor der Offiziersmesse. Beide hatten einen Militärrucksack mit Ausrüstungsgegenständen und etwas Proviant auf dem Rücken. An Scotts Hüfte hing seine neue Axt. Ray ließ seinen Blick über das Fort schweifen. Zu dieser Zeit war außer den Wachtposten kaum jemand auf den Beinen. So wie der wolkenlose Himmel Fort Benning ins Mondlicht tauchte, wirkte der Stützpunkt beinahe idyllisch.
   „Mister Thompson, wenn Sie und Mister Gerber mir bitte folgen würden.“ Die Stimme des Master Sergeants riss Ray aus seinen Gedanken. Willem Pelletier hielt nicht an, um die beiden zu begrüßen, als er an ihnen vorbeischritt. Scott und Ray folgten ihm. Sie gingen am Werkstatthangar vorbei in Richtung des Fuhrparks. Als sie dort ankamen, sah Ray, dass der Little Bird, an dem er und Screw gearbeitet hatten, auf die Ladefläche eines Transporters in einer der Hallen verladen worden war. Allem Anschein nach würden sie nicht von Fort Benning aus starten. Doch dies war nicht die einzige Überraschung an diesem Morgen. Zu Rays Verwunderung stand Josh neben dem Hubschrauber, in Gesellschaft von zwei bewaffneten Soldaten
   „Meine Herren, das sind Private Streatfield und Private Hill. Meinen Sohn Joshua kennen Sie ja bereits. Die drei werden Sie auf Ihrem Flug begleiten.“ Die Stimme des Master Sergeant ließ keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung nicht zur Diskussion stand.
   „Dass wir militärischen Begleitschutz erhalten, kann ich nachvollziehen“, sagte Ray. „Aber dürfte ich erfahren, warum Josh mitfliegt?“
   „Wie Sie sicherlich mitbekommen haben, hatten wir einen Zwischenfall in der Kantine“, sagte Willem Pelletier. Ray und Scott nickten. Der Vorfall mit Billy Maddox hatte sich tatsächlich wie ein Lauffeuer verbreitet.
   „Wir haben absolut keinen Anhaltspunkt dafür, warum sich Private Maddox verwandelt hat. Wir hoffen, dass unsere Kontaktperson auf der USS George Washington eventuell Informationen hat, die uns weiterhelfen könnten. Außerdem wurde mir von einem medizinischen Schnelltest berichtet. Für diese Dinge ist Josh der Richtige. Bei allem Respekt, aber ein ausgebildeter Mediziner kann mit den Informationen unseres Kontaktes sicherlich mehr anfangen als Sie.“
   Wovon dir wohl noch so berichtet wurde, dachte Ray. Er hatte nach wie vor das Gefühl, dass der Master Sergeant nicht alle Informationen preisgab.
   „Von wo aus starten wir?“, fragte Ray.
   „Rund fünf Meilen südlich von hier. Wir wollen so wenig Aufsehen wie möglich auf dem Stützpunkt erwecken. Laut unseren Berechnungen beträgt die Flugzeit circa eine Stunde. Jetzt ist es kurz vor drei. Somit sollten Sie gegen vier Uhr eintreffen. Dann haben Sie ausreichend Zeit für die ersten Gespräche, bevor sich um 6.30 Uhr das Kommunikationsfenster für den Funk öffnet. Noch irgendwelche Fragen?“
   „Was machen wir, falls es Komplikationen gibt?“, fragte Scott.
   „Komplikationen sind Herausforderungen, Mister Gerber. An Herausforderungen wächst man. Und was uns als eine schwere Prüfung erscheint, erweist sich später vielleicht als Segen.“

   „Wenn das stimmt, wurden wir in letzter Zeit mehr als genug gesegnet“, brummte Scott knapp. „Lasst uns aufbrechen.“
 

Die Abfahrt des Transporters wurde aufgrund der frühen Uhrzeit von kaum jemandem im Stützpunkt wahrgenommen. Zwei Patrouillenfahrzeuge waren zeitgleich mit ihnen aufgebrochen und sollten bis zum Start des Helikopters als Begleitschutz dienen. Nachdem sie einige Meilen die Zufahrtstraße zu Fort Benning entlang gefahren waren, bogen die Fahrzeuge rechts in einen breiten Waldweg ein. Nach ein paar hundert Metern erreichten Sie eine von Bäumen umgebene, große Lichtung, die von der Hauptstraße aus einsehbar war.
   „Von hier starten wir“, sagte Josh.
   Ray nickte, während er die Spanngurte löste, mit denen der Little Bird auf der Ladefläche befestigt war. Dann stieg er ins Cockpit. Als alle an Bord waren, überprüfte er die Anzeigen des Hubschraubers. Alles schien in Ordnung zu sein, auch die Ölpumpe. Gute Arbeit, Screw. Der Fahrer des Transporters war mittlerweile ausgestiegen und schaute aus sicherer Entfernung zu Ray. Als dieser ihm den nach oben gestreckten Daumen zeigte, erwiderte er das Zeichen. Kurz darauf fingen die Rotoren an sich zu drehen, bis die Äste der umliegenden Bäume sich stark nach hinten bogen und der Little Bird in die Höhe stieg.

 

Schon als sie langsam hinaufstiegen merkte Ray, wie sehr er das Fliegen vermisst hatte. Früher hatte er sich oft zur Arbeit quälen müssen und seinen Job als ein Übel empfunden, das es zu verrichten galt um die Brötchen zu verdienen. Kein Wunder, wenn man bedachte, wie oft er einen Kater gehabt hatte, bei dem jeder Normalsterbliche einfach im Bett liegen geblieben wäre.
   Wie so oft im Leben merkte aber auch er erst, wie sehr ihm etwas fehlte, nachdem er es verloren hatte. So war es bei Cathy gewesen und so war es auch bei seiner Tätigkeit als Pilot.
   Nachdem sie einige Minuten in der Luft waren, wurde es auf einmal schlagartig still an Bord. Hatten die beiden Privates mit Josh und Scott zuvor noch Smalltalk betrieben, herrschte nun erschrockenes Schweigen. Der Grund dafür war die Flughöhe. Sie befanden sich inzwischen in rund drei Meilen Höhe, von wo aus sie die Region um Fort Benning in der durch den Vollmond erleuchteten Nacht weitreichender überblicken konnten. Die Berichte über das Ausmaß der Zerstörung beschrieben nicht annähernd das, was sich dort unten abspielte. Die Landschaft erinnerte an eine Endzeitwelt in ihrer extremsten Form. Wo man auch hinblickte sah man die Umrisse umherziehender Untoter. Viele einzelne Gestalten, aber auch Unmengen an umherstreunenden Gruppen in den verschiedensten Größen. An mehreren Stellen in der Ferne ließen die lodernden Reste von brennenden Gebäuden und Fahrzeugen schwarze Rauchsäulen in den Himmel aufsteigen. Diese waren vom Boden aus noch nicht zu sehen gewesen. Man konnte genau erkennen, wo die Grenze der Sicherheitszone um Fort Benning verlief. Innerhalb dieser Zone war keine nennenswerte Anzahl von Zombies zu erkennen, außerhalb mussten es Tausende sein, die planlos durch die Gegend zogen. Der Anblick der Welt von oben hatte nicht mehr viel von der Faszination früherer Tage.