Viele Fragen

„Die Nachricht aus Sanctuary ist nicht der einzige Kontakt, den wir momentan nach draußen haben.“ Die Worte vom Willem Pelletier hingen bedeutungsschwer im Raum.

   Ray dachte nach. Nach draußen. Was sich früher wie eine Aussage über eine Strafanstalt angehört hatte, traf mittlerweile auch auf Fort Benning zu. Sie waren hier abgeschnitten von einer Außenwelt, in der Chaos, Zerstörung und der Tod regierten. Aber es schien Ausnahmen zu geben. Ausnahmen wie Benning. Sanctuary. Und anscheinend gab es noch weitere Orte, an denen Menschen lebten. Obwohl sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen, bemühte Ray sich, ruhig zu bleiben. Lediglich mit einem Nicken signalisierte er dem Master Sergeant, dass er fortfahren könne.

   „Es handelt sich um die USS George Washington. Sie liegt momentan vor Long Island.“

   Ray zog die Augenbrauen hoch. „Der Flugzeugträger?“

   „Genau der. Was wissen Sie über die Washington?“, fragte der Master Sergeant.

   „Nicht viel. Sie ist nach dem ersten Präsidenten unseres Landes benannt. Platz für rund achtzig Flugzeuge, oder?“

   „Fünfundachtzig. Der Heimathafen ist im Normalfall Yokosuka in Japan. Aufgrund von Instandsetzungsarbeiten befand sich die USS George Washington aber auf dem Seeweg zurück in die Staaten, als das Chaos ausbrach. Wissen Sie, was das bedeutet?“

   Ray glaubte, so etwas wie einen Anflug von Euphorie in Pelletiers sonst so formal-nüchternem Tonfall zu vernehmen. „Keine Infizierten?“

   „Nicht nur das. Außerdem keine direkte Bedrohung durch diese Biester. Der Flugzeugträger gleicht einer schwimmenden Festung. Vorräte für mehrere Monate. Platz für über fünftausend Mann.“

   Ray runzelte die Stirn. „Worauf wollen Sie hinaus, Master Sergeant? Halten Sie den Flugzeugträger für unsere Arche? Wollen Sie umsiedeln?“

   „Nein, Benning ist mittlerweile relativ gut gesichert. Eine Evakuierung ist, Stand heute, weder geplant noch notwendig. Wir haben andere Pläne. Und genau da kommen Sie ins Spiel.“

   „Mit Verlaub, Sir, aber unabhängig davon was jetzt kommt – meine Pläne haben sich in den vergangenen fünfzehn Minuten fundamental geändert. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich so schnell wie möglich nach Sanctuary aufbrechen werde. Ich muss wissen, was mit meinen Kindern ist. Und ich muss meine Ex-Frau sehen.“

   Der Master Sergeant lächelte. „Das werden Sie. Und wir werden Sie sogar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, um Melissa wiederzusehen und, falls erforderlich, aus Sanctuary zu uns zu holen.“

   Ray stutzte. „Welches Interesse hat das Militär daran, dass ich meine Ex-Frau wiedersehe, geschweige denn nach Benning hole?“

   „Ganz einfach. Wir erwarten eine kleine Gegenleistung von Ihnen. Sie werden noch jemanden für uns aus Sanctuary holen.“

   „Wenn Sie bitte etwas konkreter werden könnten.“

   „Das kann ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Nur so viel: Auf der USS Washington befindet sich jemand, dem sehr daran gelegen ist, dass unsere Zielperson unbeschadet aus Sanctuary zurückkehrt. Und uns ist sehr daran gelegen, dass dieser Jemand nicht enttäuscht wird. Fragen?“

   „Ja. Seit wann lässt sich das Militär von einer Person Vorschriften machen?“

   „Dazu kann ich nichts sagen.“

   „Wer ist denn dieser Jemand?“

   „Dazu kann ich nichts sagen.“

   Ray seufzte. „Okay, letzte Frage. Warum in Gottes Namen ist es denn so wichtig, dass dieser Jemand seinen Willen bekommt?“

Willem Pelletier sah Ray direkt in die Augen. „Weil dieser Jemand weiß, wer für den Ausbruch des Virus verantwortlich ist.“

 

Als Ray das Kommunikationszentrum verließ und wieder Richtung Werkstatt ging, spürte er, wie pulsierende Schmerzen in seinen Kopf krochen. Die vielen Informationen der letzten halben Stunde hatten sein Gehirn weichgekocht. Melissa schien zu leben. In einem Auffanglager namens Sanctuary. Aus dem er eine Person retten sollte, die für jemanden auf dem Flugzeugträger USS George Washington von hoher Wichtigkeit war. Und dieser Jemand sollte nicht enttäuscht werden, weil er etwas über den Ursprung dieser Katastrophe wusste, in der sie sich befanden. Ray hatte den Master Sergeant nach weiteren Details gefragt, aber der gab sich bedeckt. Entweder wusste er wirklich nicht mehr oder er wollte es Ray nicht sagen. Letztlich hatte das keinen Einfluss auf Rays Entscheidung: Er würde den Job annehmen.

   Auf halbem Weg zur Werkstatt blieb er stehen und massierte sich mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände die Schläfen. Heute Nacht schon sollte es losgehen. Der Plan war, zunächst zum Flugzeugträger aufzubrechen, um vor Ort weitere Instruktionen zu erhalten. Das war alles.
   Kaum Informationen.
   Viele Unwägbarkeiten.
   Ray merkte, wie seine Hand leicht zu zittern begann. Er hatte die vergangenen Tage gut durchgehalten und sein Verlangen nach Alkohol erschien ihm bisweilen wie eine verblasste Erinnerung aus einem früheren Leben. Jetzt gerade flammte eben dieses Verlangen mit einer Vehemenz auf, die ihn erschrecken ließ. Schnell machte er sich auf den Weg zum Werkstatt-Hangar.