Die richtige Motivation

„Dieser Dreckskerl.“ Scott spuckte auf den Boden. „Dieses verdammte Arschloch. Wenn ich den noch einmal treffe…“

   „Ja, was dann, Scott?“ unterbrach ihn Phil abrupt. „Dann stürmst du wieder ohne nachzudenken, ohne Zeichen zu erkennen oder ohne zumindest einen kurzen Augenblick zu hinterfragen nach vorne?“

   Damit hatte Scott nicht gerechnet. „Was meinst du damit?“

   Phil seufzte. „Scott, du bist einer der hilfsbereitesten Menschen, die ich kenne. Ich mache mir einfach Sorgen um die Kinder und um uns. Ich möchte nicht, dass du dein Wesen änderst, aber versuch das nächste Mal, wenn du die Welt retten willst, auch an unsere Haut zu denken. Dieser Mistkerl hatte nämlich mit einer seiner Aussagen offensichtlich Recht. Die Welt geht zu Grunde. Und wir sollten einfach nicht darauf setzen, dass alle so rechtschaffend sind wie wir.“

   Scott schnaubte. „Ich soll also einfach wegsehen, wenn Unrecht geschieht? Willst du das sagen, Phil?“

   „Ich glaube, was Phil meint, ist dass wir bisher jede Menge Glück hatten. Jeder von uns verdankt dir sein Leben. Du hast deines oft riskiert, um unseres zu retten und wir haben uns revanchiert, wann immer es uns möglich war. Aber es gibt auch Menschen, die nicht von dir gerettet werden müssen“, sagte Ray.

   „Bleib so wie du bist, Scott. Versuch nur deine und unsere Interessen etwas mehr in den Vordergrund zu stellen. Wir wollen doch hier mit heiler Haut rauskommen, oder?“ Phils Stimme klang nun weniger vorwurfsvoll.
   Scott blickte zu Boden. Er schämte sich, sie in diese Situation gebracht zu haben. „Ihr habt Recht. Ab jetzt werde ich vorsichtiger sein. Es ist schwer, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass es auf dieser Welt kaum noch menschlich zugeht.“

   „Glaub ich dir, mein Freund.“ Phil trat zu Scott und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Lasst uns weiterziehen. Wir sitzen hier auf dem Präsentierteller.“

   Scott griff sich den Baseballschläger. „Meint ihr, in den Häusern ist noch etwas Brauchbares?“

   „Zumindest keine Waffen. Ich glaube nicht, dass ein Typ wie Fuller so etwas für uns zurückgelassen hat“, meinte Ray.

   „Ich hab die Karte oft genug gelesen. Wir müssen nur der Straße folgen, dann kommen wir automatisch in Benning an. Es ist nicht mehr weit von hier. Das müssten wir zu Fuß packen“, sagte Scott.

   Chris stöhnte auf dem Boden liegend. Watson legte sich neben ihn und legte die Ohren an. „Chris wird nicht selbst laufen können. Phil, du kümmerst dich um die Kinder und wir überlegen uns was für ihn, vielleicht finden wir ja doch was Brauchbares im Haus.“

   „Ist okay“, nickte Phil.

   Ray nahm sich den Baseballschläger von Scott. „Lasst mich vorgehen. Wir müssen uns beeilen. Wir sollten in Fort Benning sein, bevor es dunkel wird. In der Nacht wäre es Selbstmord auf der Straße zu laufen. Scott, du kommst mit mir, wir suchen etwas, damit wir Chris eine Trage bauen können. Phil, ihr bewacht die Tür und schaut, ob wir Gesellschaft bekommen. Außerdem weiß ich nicht, wie es dort drinnen aussieht, aber ich denke die Kinder müssen das nicht sehen.“ Phil nickte dankbar.

   „Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren.“ Scott hob Chris behutsam vom Boden auf und trug ihn zum Haus. Ray ging, mit dem Baseballschläger bewaffnet, voraus und stieg langsam die Veranda hoch. Phil nahm seine beiden Kinder an die Hand und ging hinter ihnen. Die drei blieben am Fuße der Veranda stehen. Phil nahm Watson am Halsband und kniete sich neben seine Kinder.

   „Robbie, Fiona. Wir spielen ein Spiel. Wer als erster einen Menschen oder ein Tier sieht, der flüstert es den anderen zu. Aber ihr müsst leise sein, wir wollen ja kein Tier verscheuchen.“

   Scott legte Chris auf eine kleine, gepolsterte Holzbank, die direkt neben dem Eingang des Hauses stand. Chris hustete, schien aber noch immer nicht bei Bewusstsein zu sein. Ray stand hinter Scott und legte ihm eine Hand auf den Rücken.

   „Eigentlich sollte da drinnen alles tot sein, wenn diese Mistkerle dort auf uns gewartet haben, aber sei trotzdem auf alles gefasst. Ich gehe vor.“

   Die beiden gingen hinein. Ein kleiner Flur, von dem nach links und rechts jeweils zwei Türen abgingen, führte ins Innere. Ray spähte erst nach links, dann nach rechts in die geöffneten Türen. Links war ein Wohnzimmer, rechts eine kleine Küche. Die beiden bewegten sich wie auf Zehenspitzen durch das Erdgeschoss. Bis auf das eigene Atmen und das leise Knarren der Holzdielen war kein Geräusch zu hören. In dem kleinen Wohnzimmer gab es nichts Interessantes.

   „Couch, Tisch, Stühle, Decken. Das bringt uns alles nichts“, flüsterte Ray. Die beiden schlichen weiter durch das Erdgeschoss.

   Die Truppe um Richard Fuller hatte sich hier wohl nicht sonderlich lange aufgehalten. Die Schränke in der Küche waren hastig geplündert worden und es lagen vereinzelte Konservendosen auf dem Fußboden, teils leer, teils voll.

   Ray sah eine schmale Tür in der Ecke der Küche. Abstellkammer. Genau das, was ich gesucht habe. 

   Ein leises Scharren aus Richtung der Tür ließ die beiden zusammenzucken.

   Ray sah Scott an und nickte. Er ging langsam auf die Tür zu und hob den Schläger über den Kopf. Scott hatte verstanden, was Ray vorhatte. Er stellte sich mit dem Rücken zur Wand neben die Tür und umfasste langsam den Türknauf. Er würde die Tür öffnen und Ray würde alles kurz und klein schlagen, was sich drinnen befand. Ray sog gespannt die Luft ein. Scott hielt die Luft an. Er erhob drei Finger und zählte langsam runter.

   Drei, zwei, eins. Mit einem Ruck riss Scott die Tür auf.

    Doch wider Erwarten stürzte ihnen kein Untoter entgegen. Es kamen lediglich zwei Füße zum Vorschein, die ins Dunkel eines kleinen Raumes führten. Die Leiche baumelte an einem Seil, das an einem Deckenbalken befestigt war. Der Leichnam sah menschlich und wenig untot aus – es hatte keine Verwandlung stattgefunden, was wohl mit dem kreisrunden Loch in der Stirn erklärt werden konnte.

   Bei dem Hausbesitzer waren sie anscheinend nicht so diplomatisch. Ein weiterer sinnloser Toter.

   „Sie haben wohl den Besitzer ermordet, diese Schweine.“

   „Wenn ich diesen Fuller das nächste Mal sehe, dann töte ich ihn.“ Scott wirkte fassungslos.

   Ray sah sich in dem kleinen Abstellraum genauer um und schmunzelte dann.

   Ein Bügelbrett. Bestimmt fast so bequem wie eine Trage.

   „Hilf mir damit mal, Scott.“

   Zusammen mit ihrer neu erbeuteten Behelfstrage kamen die beiden aus dem Haus.

   Phil runzelte die Stirn und verzog fragend das Gesicht, als er sie sah.

   „Eine Trage. Was Besseres haben wir nicht.“

   Scott hob Chris mitsamt des Polsters von der Bank und legte ihn auf das Bügelbrett.

   „Ihr beiden müsst vorne anfassen und ich trage hinten alleine.“ Scott griff nach dem hinteren Ende. Ray legte den Schläger auf Chris ab. Er und Phil nahmen jeweils eine Seite der Trage.

   „Fiona, du nimmst deinen kleinen Bruder an die Hand. Ihr bleibt neben uns und haltet weiter die Augen auf, das Spiel ist noch nicht vorbei.“

   „Ist okay, Dad“, sagte Fiona und nahm Robbies Hand.

   „Los geht’s. Wir haben schon viel Zeit verloren.“
   Die kleine Gruppe brach auf. Watson folgte ihnen treu. Er ging an Ray’s Seite und schaute hechelnd zu ihm hinauf. Ray blickte hinunter zu dem Tier. Watsons treudoofer Blick ließ ihn Schmunzeln. Vielleicht werden wir ja doch noch Freunde, dachte Ray.

   Die erste Stunde kamen sie den Umständen entsprechend gut voran. Auch wenn es sehr anstrengend war Chris zu tragen, konnten sie keinerlei Gefahren erkennen und schöpften wieder neuen Mut. Sie befanden sich wieder auf der Hauptstraße. Fort Benning konnte nicht mehr allzu weit entfernt sein.  

   „Pssst, Papa, ich hab gewonnen. Da sind Menschen“, flüsterte Fiona und zeigte in Richtung einiger weit entfernter Bäume.

      Nach und nach wurden vereinzelte Untote sichtbar. Sie waren auf die Gruppe aufmerksam geworden und schlurften langsam, aber stetig in ihre Richtung. Ray blickte Scott besorgt an. Im Gegensatz zu ihrem Freund, der unermüdlich wie ein Lastenpferd das Gewicht trug, waren Ray und Phil deutlich von der Anstrengung gezeichnet. Sie würden mit Chris in einer Gefahrensituation kaum sprinten können. Der Abstand zwischen den Zombies und der Gruppe verkleinerte sich zwar in der nächsten halben Stunde nicht, sie konnten sie aber auch nicht abschütteln.

   Zu den ersten Verfolgern gesellten sich nach kurzer Zeit weitere. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, wurden neue Untote auf sie aufmerksam. Nach kurzer Zeit waren ihnen so bereits zehn Kreaturen auf den Fersen.

   „Dreht euch nicht um Kinder, lauft einfach immer weiter geradeaus“, sagte Phil mit zusammengepressten Lippen.

   „Ray, das werden immer mehr“, flüsterte Scott.

   „Ich weiß. Wir müssen weiter. Wir haben hier keine Chance uns ihnen zu stellen. Wir haben lediglich einen Schläger und keine freie Hand, um uns zu verteidigen. Kannst du Chris alleine tragen?“

   Scott brummte. „Ich kann es versuchen.“ Sie legten die Behelfstrage ab. Scott hob Chris auf und legte ihn sich über die Schulter.

   „Wir müssen diese Scheißviecher irgendwie abschütteln“, sagte er.

   „Diese Scheißviecher abschütteln“, plapperte der kleine Robbie nach.

   „Sorry, Phil“, entschuldigte sich Scott.

   Sie beschleunigten ihre Schritte so gut es eben ging, wurden letztlich aber doch immer langsamer. Der verletzte Chris und die beiden kleinen Kinder ließen kein höheres Tempo zu.

   Scott keuchte und schwitzte aus sämtlichen Poren. Er sehnte sich nach einem Schluck Wasser. Ray sah zu ihm herüber und bemerkte wie er schnaufte.
   „Soll ich ihn nehmen?“

   „Du kannst doch kaum den Baseballschläger halten“, stöhnte Scott mit einem schmerzverzerrten Grinsen.
   Ihre untoten Verfolger hatten mittlerweile aufgeschlossen. Sie waren noch etwa neunzig Meter entfernt und ihre Zahl war inzwischen auf zwanzig angewachsen. Anders als Scott ging ihnen nicht die Puste aus. Schmerzende Knie machten sie nicht langsamer und Wasser benötigten sie ebenso wenig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie die Gruppe eingeholt hätten.

   Scott taumelte, so dass Ray ihn stützen musste. Die kräftezehrenden Tage, die hinter ihnen lagen, forderten nun ihren Tribut. Wenig Wasser, Nahrung und Schlaf.

   Scott schnaufte mittlerweile wie eine Dampflokomotive und die Kinder quengelten unaufhörlich, weil sie ebenfalls am Ende ihrer Kräfte waren. Phil versuchte sie zu beruhigen, hatte aber kaum Erfolg damit. Er trug die beiden nun abwechselnd, zuerst Robbie und dann Fiona. Währenddessen näherte sich die Horde. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Unaufhaltsam. Unbarmherzig. Ihr Vorsprung wurde immer dünner.

   Die Straße stieg zu allem Überfluss auch noch leicht an, so dass sie weiter an Tempo verloren. Dann erreichten sie eine Hügelkuppe, hinter der die Straße sich wieder nach unten schlängelte. Endlich tauchte Fort Benning am Horizont auf. Phil erblickte es als erster.

   „Wir sind fast da“, presste er erleichtert hervor. Er wollte den anderen Mut machen.

   Scott wurden erneut die Beine schwach. Er war ein kräftiger Bursche, aber nicht gerade besonders ausdauernd. Er merkte, wie seine Unterschenkel zu krampfen begannen. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
   Ray blickte in Richtung des Forts. Dicke, tellerförmige Schweißränder hatten sich unter seinen Achseln gebildet. Er war mit seinen Kräften ziemlich am Ende.

   „Nur noch ein kurzes Stück! Kommt schon, weiter!“ Sie trieben sich gegenseitig an. Selbst Watson hechelte nun neben Ray.

   Nur noch ein bisschen. Nur noch ein kleines bisschen. Sie stolperten weiter vorwärts.