Die Stimmen klangen gedämpft, begleitet von einem leichten Rauschen, wie bei einem Radiosender, dessen Frequenz nicht ganz korrekt eingestellt ist. Chris war sich nicht sicher, ob er träumte oder ob dies das Leben nach dem Tod war. Er konnte seine Augen nicht öffnen. Durch die geschlossenen Lider nahm er helles Licht wahr. War das das Licht, von dem Menschen mit Nahtoderfahrungen immerzu berichteten? Die Stimmen wurden nun klarer. Allerdings bestätigte dies nur noch stärker seine Vermutung, nicht mehr am Leben zu sein, denn er hörte die Stimme seines Bruders. Gregory? Es war unverkennbar seine Stimme. Doch er hatte ihn schon Monate bevor die Welt den Bach runtergegangen war nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich hatte es ihn auch erwischt und nun würden sie im Tode wieder vereint sein. Chris hatte das Gefühl, als würde er schweben.
Ein stechender Schmerz in der Bauchgegend holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Er riss die Augen auf und sah in das Gesicht eines Sanitäters, der seine Liege unsanft vor sich her schob und gegen einen Türrahmen gefahren war. Der Sanitäter unterhielt sich weiter mit der Person, die ihm in einigem Abstand folgte, und merkte nicht, dass Chris bei Bewusstsein war.
„Ich kann Ihnen auch nur sagen, was der Doc gesagt hat. Er wird es schaffen.“
„Verstehen Sie, er ist mein Bruder, und ich…“
„Ich verstehe das sehr wohl, Kumpel, aber ich habe meine Anweisungen. Er wird in ein Einzelzimmer verlegt und braucht Ruhe. Fragen Sie in einigen Tagen nochmal nach.“
Gerade als Chris versuchen wollte, etwas zu sagen, fuhr der Sanitäter erneut mit der Liege gegen eine Kante. Die Schmerzen überwältigten Chris. Doch anstatt zu schreien wurde ihm schwarz vor Augen.
Als er wieder zu sich kam, saß Gregory neben seinem Bett und las in einem Buch. Chris schaute auf das Cover. „Der Gotteswahn“ von Richard Dawkins.
„Ich wusste gar nicht, dass du unter die Atheisten gegangen bist“, stöhnte Chris.
„Chris!“ Gregorys Stimme war spürbare Erleichterung anzuhören. „Wie fühlst du dich?“
„Als hätte mich ein Bus angefahren“, erwiderte Chris mit einem schmerzverzerrten Lächeln. „Und als hätte ich danach noch das halbe Land zu Fuß durchquert.“
„Nachdem was ich gehört habe, ist das gar nicht so weit weg von der Wahrheit.“
„Wie lange war ich weg?“
„Du wurdest vor drei Tagen operiert. Ich hab zufällig gesehen, wie du hierher verlegt wurdest. Seit gestern durfte ich zu dir und sitze hier.“
„Und liest gotteslästernde Bücher. Wenn Mom das wüsste.“
„Dawkins ist kein reiner Gotteslästerer. Er zeigt lediglich, dass jeder Glaube an Gott irrational ist. Und dass Religion in der Regel schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Gesellschaft hat.“
„Wenn ich mich recht entsinne, bedurfte es keiner Religion dafür, die Welt an den Rand des Abgrunds zu bringen“, entgegnete Chris mühsam. „Und schwerwiegende negative Auswirkungen haben die Menschen selbst auf die Gesellschaft. Früher waren es die Lebenden, heute sind es zusätzlich die Untoten.“
„Dies ist glaube ich nicht der richtige Zeitpunkt für eine theologische Diskussion, kleiner Bruder“, lächelte Gregory. „Erhol dich erst einmal. Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Lies vernünftige Bücher“, sagte Chris. „Und falls auf dem Weg zur Bibliothek an der Küche vorbeikommst, könnte ich etwas zu essen vertragen.“
„Du bist keine zehn Minuten wach und schon gehst du einem wieder auf den Wecker“, flachste Gregory. „Ich besorge dir was.“
Während Chris ein für
seinen Geschmack viel zu trockenes Sandwich verschlang, berichtete
Gregory von seiner Zeit zwischen dem Ausbruch der Katastrophe und
der Ankunft in Fort Benning. Er wohnte nur rund eine Stunde
nördlich vom Militärstützpunkt in einem kleinen Ort namens Tannery.
Als er im Fernsehen die grauenhaften Szenen in den Großstädten sah,
versuchte er vergeblich seinen Bruder und ihre Eltern zu erreichen.
Danach hatte er seine Sachen gepackt und sich direkt auf den Weg
nach Fort Benning gemacht. Als er eintraf glich das Fort einem
Ameisenhaufen, überall wuselten Menschen durcheinander und kaum
jemand hatte brauchbare Informationen über das, was gerade die USA
heimsuchte. In dieser Zeit schaffte Gregory es auch, einen Soldaten
in der Kommunikationszentrale zu überreden, eine E-Mail für ihn an
Chris zu schicken. In der Folgezeit funktionierte das Internet nur
noch sporadisch. Von da an betete er jeden Tag, seinen Bruder
lebend wiederzusehen. Vor drei Tagen waren seine Gebete erhört
worden.
Chris hörte seinem Bruder
aufmerksam zu, während dieser berichtete. Dann stellte er ihm die
Frage, die schon die ganze Zeit unausgesprochen zwischen ihnen im
Raum hing.
„Was ist
mit Mom und Dad?“
Gregory schaute zum Fenster hinaus,
antwortete aber nicht. Langsam schüttelte er den Kopf und
seufzte.
„Ich weiß es nicht. Ich habe
auch an sie die E-Mail schicken lassen, aber es kam keine Antwort.
Hier sind sie jedenfalls nicht.“
„Das muss nichts heißen. Es
gibt bestimmt wesentlich nähere Stützpunkte an New York als Fort
Benning.“ Chris merkte selbst, wie wenig Überzeugung in seiner
Stimme mitschwang.
„Hast du die Bilder aus den
Großstädten gesehen?“, fragte Gregory.
Chris nickte. Er wusste, warum sein Bruder
so betrübt war. Ihre Eltern lebten beide mitten in New York, wo sie
an der hiesigen Universität als Dozenten tätig waren. Die Chance,
dass sie es aus der Stadt geschafft hatten, war verschwindend
gering.
„Immerhin haben wir uns“, sagte
Chris.
„Das haben wir.“ Gregory nahm
Chris‘ Hand und zwang sich zu einem Lächeln.
„Nicht nur das. Es gibt auch
noch andere Überlebende, die uns zur Seite stehen
werden.“
„Ich habe die Geschichte von
eurem Weg hierher schon gehört“, sagte Gregory. „Dieser Ray scheint
ein netter Kerl zu sein. Er hat mir alles
erzählt.“
„Dann weißt du wahrscheinlich
mehr als ich, so lange wie ich weggetreten war. Ich-“
In diesem Moment kam Margarete Pelletier hinein.
„Na schau
mal wer aufgewacht ist“, lächelte sie Chris an. „Gregory, wenn Sie
bitte kurz das Krankenzimmer verlassen würden, ich muss Ihren
Bruder untersuchen.“
Gregory nickte. „Wir reden
später weiter, Chris.“