Zieleinlauf

Noch zwanzig Minuten. Private Mike Brown saß in seinem MG-Nest und sehnte gelangweilt das Ende seiner Schicht herbei. Was vor einigen Tagen noch jedes Mal aufs Neue einen Adrenalinrausch ausgelöst hatte, war mittlerweile zur alltäglichen Normalität geworden. Wachdienste im regelmäßigen Schichtwechsel, in denen die einzige Abwechslung darin bestand, um welche Uhrzeit man eingesetzt wurde.
   Es erstaunte ihn, wie schnell der Mensch sich auch in dieser Ausnahmesituation an die Lebensumstände anpasste und Routinen entwickelte. Die ersten Tage nach dem Ausbruch war das noch anders gewesen. In dieser Zeit ging es in Fort Benning drunter und drüber. Am ersten Tag des Ausbruchs waren einige der befehlshabenden Offiziere mit einem Helikopter zu einer Krisenkonferenz losgeflogen, jedoch fehlte von ihnen bisher jedes Lebenszeichen, so dass man davon ausgehen konnte, dass sie nicht zurückkehren würden. Andere Führungskräfte verließen den Stützpunkt ohne ein Wort, um ihre Familien zu retten und blieben seitdem verschwunden.

   Fort Benning musste neu organisiert werden, während gleichzeitig immer mehr Flüchtlinge Schutz suchten und versorgt werden mussten. Dass dieser Spagat schließlich gelang, war unter anderem Master Sergeant Pelletier zu verdanken, der mittlerweile das Kommando über den Stützpunkt hatte. Hierarchien wurden gebildet, Kommunikation zum Teil wiederhergestellt, Pläne aufgestellt, Vorräte beschafft. Der Stützpunkte wurde weiträumig abgeriegelt und ein provisorisches Auffanglager für die Flüchtlinge errichtet. Doch auch wenn inzwischen ein geregelter Ablauf herrschte, fehlte Mike die Zukunftsperspektive. Die Monotonie seines Lebens bedrückte ihn. Noch immer wusste niemand, was genau die Ursache dafür war, dass die Welt vor die Hunde ging. Und was noch viel schlimmer war: Noch immer wusste niemand, wie man dieser Plage Herr werden wollte. Sicher, für die kommenden Monate würde man hier in Fort Benning leben können. Aber was wäre in zwei, fünf oder zehn Jahren? Mike wischte die Gedanken beiseite und blickte zu Private Tom Clark herüber, mit dem er heute Dienst hatte. Tom stand hinter der Barrikade aus Sandsäcken und kontrollierte gerade sein Gewehr.

   „Hey Tommi, welche Getreidesorte wächst im Freudenhaus?“

   Tom Clark verdrehte die Augen. „Du und deine blöden Rätsel“, grinste er. „Keine Ahnung.“

   „Puffreis“, sagte Mike.

   „Oh Mann, du bist ein Spinner“, lächelte Tom.

   Mike sah, wie von Osten her zwei Untote langsam in Richtung Stützpunkt schlurften. Auch wenn die Patrouillen ihr Bestes taten um den Umkreis rund um Benning sauber zu halten, so kamen doch immer wieder einzelne Zombies durch. Mike legte an, zielte mit seiner schallgedämpften M4A1 und gab zwei Schüsse ab. Die beiden Kreaturen fielen in den Staub.

   „Noch eins. Wie heißt ein Mann, der lieber mit anderen Kerlen zusammen ist als mit seiner Frau?“

   „Hinterlader?“

   „Nein.“

   „Analtourist?“

   „Negativ.“

   „Analakrobat?“

   „Nein du Perversling, nichts mit anal.“

   „Auspuffprinz?“

   Mike seufzte. „Nein, man nennt ihn Ehemann.“

   Tom konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, auch wenn er selbst nie verheiratet war. Bei Mike war das anders, er sprach aus Erfahrung. Allerdings wusste Tom, dass Mike seine Frau in den ersten Wochen nach dem Ausbruch verloren hatte. Auch wenn er immer wieder versuchte, mit solch dämlichen Witzen die Stimmung aufzulockern, merkte man Mike an, wie sehr dieses neue Leben an ihm zerrte. Tom wollte nun seinerseits für einen Lacher sorgen.

   „Okay, ich hab auch einen. Was haben ein Schäferhund und ein kurzsichtiger Gynäkologe gemeinsam?“

   „Eine feuchte Nase. Den hast du von mir“, sagte Mike und blies langsam die Luft aus.

   „Verdammt. Gut, letzte Chance: Was ist…“

   Ruckartig stand Mike auf. „Warte mal.“ Er nahm das Fernglas zur Hand und blickte in Richtung der Zufahrt. Am Horizont bewegte sich etwas.

   „Was siehst du?“ Toms Stimme klang angespannt.

   „Ich kann es nicht genau erkennen. Aber ich glaube wir bekommen Besuch.“ Vielleicht würde es doch noch ein wenig Abwechslung geben, dachte Mike.

   Tom kniff die Augen zusammen. Mike hatte Recht. In der Ferne bewegte sich eine größere Gruppe auf den Stützpunkt zu.

   Er schulterte sein M24 SWS, das Standard Scharfschützengewehr der US Army. Das Gewehr hatte eine Reichweite von ca. 800 Metern, die Gruppe von Untoten war seiner Schätzung nach ungefähr doppelt so weit von ihnen entfernt. Durch das Fernrohr konnte er lediglich die Umrisse am Horizont erkennen. Tom legte an und achtete bewusst darauf seine Atmung zu beruhigen. Sobald er die erste der Kreaturen im Fadenkreuz hatte, würde er abdrücken.

   „Mach dich bereit, Partner. Das sind ’ne ganze Menge“, sagte er zu Mike. Dieser hatte die M4A1 bereits gegen sein Scharfschützengewehr ausgetauscht und zielte ebenfalls in Richtung der Horde.

   „Das wird ein Fest“, sagte Mike.

 

Die Verfolgergruppe war mittlerweile auf über zwanzig Untote angewachsen, die ihnen unermüdlich an den Fersen hingen. Ray wusste nicht, wie lange er und die anderen das Tempo noch halten konnten. Der Schweiß floss ihm in Strömen den Rücken hinab, seine Muskeln glühten und drohten jeden Augenblick zu verkrampfen. Phil und die Kinder wirkten ebenfalls als seien sie am Rande der Erschöpfung. Und auch wenn Scott sich kaum etwas anmerken ließ, sprachen sein hochroter Kopf und das durchgeschwitzte Hemd Bände. Er würde Chris nicht mehr lange tragen können. Auch Watson hechelte unablässig und war am Ende seiner Kräfte. Mittlerweile schnappten die ersten Untoten nach Ray, der hinter den anderen lief. Bei den ersten beiden Angreifern konnte Ray noch kurzzeitig die Geschwindigkeit erhöhen, so dass die Zombies vornüber auf die Straße fielen, als sie nach ihm griffen. Der dritte Untote erwischte sein Hemd, konnte ihn aber nicht festhalten. Es blieben ihnen nur noch Sekunden. Ray überholte die anderen und wägte die Optionen ab. Sie waren nicht in der Verfassung zu kämpfen, geschweige denn hatten sie ausreichend Bewaffnung für eine direkte Konfrontation. Über die seitlich liegenden Felder zu fliehen bot keinen Ausweg, die Untoten würden ihnen überall hin folgen. Als hätten die Zombies seine Gedanken gelesen, stießen sie ihre gutturalen Laute aus. Fiona und Robbie schrien. Ray drehte sich kurz um und sah, wie einer der Untoten sich von den anderen abgesetzt und Phil und die beiden Kinder fast eingeholt hatte. Er ließ die anderen wieder an sich vorbeiziehen und nahm den Baseballschläger in beide Hände. Scott blickte ihn mit Chris auf dem Rücken ungläubig an, lief aber wie im Delirium weiter. Als Phil mit Fiona und Robbie an ihm vorbei gelaufen war, holte Ray mit einem mächtigen Schwinger aus und rammte den Baseballschläger in den Kopf des Zombies. Die Nägel gruben sich mit einem schmatzenden Geräusch tief in das Gesicht der Kreatur ein und hinterließen einen Fleischbrei, der stark an eine ausgepresste Blutorange erinnerte. Ray stützte stöhnend die Ellenbogen auf die Knie und rang um Luft. Die anderen Zombies steuerten direkt auf ihn zu. Er verfluchte sich innerlich zum X-ten Mal für seine verdammte Sauferei, die ihn in den vergangenen Jahren den Großteil seiner Kondition gekostet hatte.

   „Ray, komm weiter!“ Scott hatte Chris mittlerweile im Arm und schrie, so laut es seine Kraftreserven zuließen.

   Ray hörte ihn kaum. Ihm schoss stattdessen die Erinnerung an ein Buch in den Kopf, das er vor einigen Jahren gelesen hatte. Es hatte den Titel „Todesmarsch“, geschrieben von Stephen King. In dem Buch nahm der Protagonist an einem Wettbewerb teil, bei dem es darum ging, so lange zu laufen, bis man nicht mehr konnte. Wer länger als eine Minute anhielt oder sich setzte, wurde erschossen. Das ganze ging so lange, bis nur noch der Sieger des Marsches über war. Er erinnerte sich, wie sehr er mit der Hauptfigur gelitten und mitgefiebert hatte. Ray konnte die Zweifel, mit denen sich der Protagonist rumschlug, jetzt besser denn je verstehen. Ebenso wie die Versuchung, einfach aufzugeben.

   „Ray, los!“, brüllte Scott erneut.
   Einfach stehen bleiben.

   „RAY!“ Phils Stimme überschlug sich.
   Ich werde zwar nicht erschossen, aber es würde trotzdem schnell gehen.

   „RAY VERDAMMT!“ Scotts Schrei war eine Mischung aus Erschöpfung, Verzweiflung und dunkler Vorahnung.

   Ich kann den anderen so Zeit verschaffen. Ich habe eh noch etwas gut zu machen. Ich bin es ihnen schuldig.

   Ray nahm den Baseballschläger in die rechte Hand und ging auf seine Verfolger zu. Es würde ein ungleicher Kampf werden. Einer gegen mehr als zwanzig. Ray war es egal.
   Ein Schuss ließ alle zusammenzucken. Dann fiel einer der Zombies nach hinten auf die Straße. Für eine kurze Zeit starrten alle ungläubig einander an. Dann fiel ein weiterer Schuss, ein weiterer untoter Kopf zerplatzte.

   „RUNTER!“, schrie Ray. Alle schmissen sich auf den Boden. Scott legte Chris neben sich ab.

   Mit einer mechanischen Gleichmäßigkeit wurden die Zombies Schuss für Schuss niedergestreckt. Die kleine Fiona stieß ihren Vater an. „Schau mal Daddy, die schönen roten Blumen.“ Phil blickte in Richtung des Mündungsfeuers. Er würde es seiner Tochter später erklären. Ein Zombie nach dem anderen fiel auf die Straße, bis schließlich ein Berg von mehr als zwanzig Körpern die Straße pflasterte. Ray blickte in Richtung Fort Benning. Sie würden es schaffen. Sie würden es tatsächlich schaffen.