Bilder des Grauens

Chris setzte das Headset vom Kopf und rieb sich müde die Schläfen. Eine weitere monotone Schicht am Funk neigte sich langsam dem Ende zu. Er arbeitete mittlerweile im Kommunikationszentrum, auch wenn er noch nicht wieder ganz bei einhundert Prozent war.

   Er musste noch bis halb fünf durchhalten. Chris blickte zu der großen Videowand auf der ein Countdown die Stunden und Minuten runterzählte.

   Noch etwas mehr als vier Stunden, bis wir wieder Kontakt zum Satelliten haben.

Er gähnte noch einmal herzhaft, rieb sich die Augen und setzte das Headset wieder auf. Die Nebengeräusche verstummten durch die schalldichten Ohrhörer und das einzige, das Chris nun wieder hörte, war das leise Rauschen des Analogfunks. Er war froh, dass er heute nicht am Überlebendenfunk saß. Der Stützpunkt hatte täglich einen Funker speziell dafür abgestellt, dass er sich die unterschiedlichen öffentlichen Funkkanäle anhörte und die Ohren offenhielt, ob möglicherweise noch jemand zu retten war, oder Informationen von Bedeutung hatte. Ein deprimierendes Unterfangen, denn nur die wenigsten dieser Funksprüche machten Mut. Bei der Mehrzahl der Funksprüche hörte man Menschen, die unmittelbar attackiert wurden oder bereits infiziert waren. Rettung war nur selten möglich. Dazu kamen einige Funksprüche, die sich nach einmaligem Kontakt nicht wieder meldeten. Chris blickte hinüber zu Staff Sergeant Weasel, einem schmächtigen blonden Soldaten, der nicht viel älter sein konnte als er selbst. Weasel war heute der Unglücksrabe am Überlebendenfunk.

   Die Zeit plätscherte langsam vor sich hin. Er starrte auf den leicht flackernden Flatscreen vor sich. Die Versorgungsteams und Patrouillen waren alle noch unterwegs und meldeten sich üblicherweise zu jeder vollen Stunde kurz über Funk. Während die Satellitenkommunikation versagte, war nur noch auf den guten alten Analogfunk Verlass. Zwar war die Qualität nicht vergleichbar mit neuartigen Techniken, doch wenigstens brauchte man keine über Satelliten verbundenen Funkmasten.

   „Team Sierra für Fort Benning.“ Chris horchte auf. Sierra? So viele Patrouillen gibt es doch gar nicht. Er winkte den Funkoffizier heran.

   Dieser kam rasch zu Chris und setzte sich ebenfalls einen Kopfhörer auf, um mitzuhören.

   „Fort Benning hört, Team Sierra, kommen Sie“, erwiderte Chris am Funk.

   „Aufklärungsteam Sierra mit Statusreport; Befinden uns aktuell auf der 173, circa drei Meilen süd-östlich von Saint-Martin, Kanada, kurz vor der Grenze. Wir müssen den Master Sergeant sprechen. Es gibt beunruhigende Neuigkeiten.“

   „Holen Sie den Master Sergeant“, befahl ihm der Funkoffizier. Chris verfiel in Hektik. Er blickte sich um.

   Master Sergeant Pelletier stand an einem großen Tisch auf dem eine riesige Karte von der gesamten Umgebung lag. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt. Chris stand auf und ging rasch hinüber.

   „Sir, Sie werden am Funk verlangt. Angeblich ein Team Sierra. So eine Kennung ist allerdings nicht auf meinem Tableau verzeichnet.“ Der Master Sergeant schaute Chris verwundert an und runzelte die Stirn.

   „Sierra sagen Sie? Das kann nichts Gutes heißen.“ Willem Pelletier ging eilig zum Funktisch und betätigte das Tischmikrofon. Der Funker hatte mittlerweile auf Lautsprecher geschaltet.

   „Sierra, warum brechen Sie die Funkstille?“

   „Sir, wir haben ihr Paket, aber wir sind auf dem Rückweg unter starkes Feuer geraten. Plünderer haben versucht uns den Humvee zu stehlen. Mac und ich sind unverletzt, aber der Gunny hat was abbekommen. Wir haben ihn stabilisiert und er hält sich tapfer. Allerdings sollten wir umgehend zurück zum Stützpunkt. Wir können uns keine weitere Schießerei leisten. Gibt es eine Patrouille in unserem Bereich, die uns Geleitschutz geben kann?“

   Der Master Sergeant schnippte mit den Fingern und zeigte an den Funkoffizier gerichtet auf einen Bildschirm. Der Funkoffizier verstand und begann umgehend auf einem anderen Kanal zu funken.

   „Sierra, die Teams Foxtrot und Golf sind im Norden und Westen auf Patrouille. Wir schicken sie in eure Richtung.“

   „Team Foxtrot ist mit einem FAV in der Nähe und hat mitgehört, Sir.“

   „In Ordnung“, sagte Willem Pelletier eher an sich selbst gerichtet. Er blickte auf eine digitale Karte und verfolgte die Straße mit dem Finger.

   „Sierra, Unterstützung ist auf dem Weg. Die Jungs von Foxtrot sind unterwegs, wir bekommen euch schon heile nach Hause. Wie sicher sind die Hauptstraßen? Lima 201 ist die schnellste Verbindung.“

   „Verstanden, Sir.“ Damit endete das kurze Intermezzo. Der Master Sergeant ließ einen Corporal zu sich zitieren und ging zurück zu seinem Tisch.

   Chris verstand nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Es gab offensichtlich Missionen, die weitestgehend geheim gehalten wurden. Auch wenn man ihm das Vertrauen entgegenbrachte, dass er am Funk arbeiten durfte, so hatte zumindest ihn als Zivilisten niemand eingeweiht. Er setzte sich wieder an seinen Platz am Funk und gab vor weiter zu arbeiten. Doch mit den Gedanken war er weit, weit weg und versuchte sich den letzten Funkkontakt zu erklären.

 

Die Erklärung betrat etwa zwei Stunden später den Raum. Um drei Uhr betraten zwei Soldaten die Führungsstelle und hielten zielgerichtet auf den Master Sergeant zu. Sie salutierten zackig. Einer löste eine Kamera von seinem Helm und hielt sie Willem Pelletier hin. Chris schob die rechte Ohrmuschel ein Stück zurück um zu hören, was die Soldaten zu berichten hatten.

   Willem Pelletier erwiderte den Salut und schaute die beiden Soldaten erwartungsvoll an.

   „Lance Corporals Bourke und McPherson melden sich zurück.“

   „Sprechen Sie.“

   „Der Gunny ist im Lazarett, Sir. Er sollte bald wieder auf den Beinen sein. Das sind die guten Nachrichten.“ Der Master Sergeant nickte ungeduldig.

   „Die schlechten Nachrichten kann ich Ihnen kaum beschreiben. Das müssen Sie einfach gesehen haben. Die Bilder sind erschreckend, Sir. So etwas übertrifft die schlimmsten Alpträume. Bilder des Grauens.“

   Lance Corporal Bourke ging zur großen Videowand und schloss die Kamera an das System an. Wenig später flackerte eine Videoaufzeichnung über die Wand. Alle Personen im Raum hatten die Headsets abgesetzt und schauten gebannt auf die verstörenden Bilder, die die Soldaten gemacht hatten. Chris konnte nicht fassen, was er dort zu sehen bekam.

   Das Video begann. „Kamera läuft“, wisperte eine Stimme im Off und kommentierte so die gesamte Aufzeichnung. Auf dem Video kam ein fernes Stadtpanorama in Sicht. Die Aufnahme zeigte eine Skyline hinter einem Fluss. Offenbar war aus einiger Entfernung und von einer erhöhten Position gefilmt worden. Vereinzelt stiegen Rauchsäulen aus der Stadt auf. „Aufklärungsmission Sierra. Wir befinden uns circa fünfzehn Meilen östlich von Quebec-City, Kanada. Die Stadt wurde offenbar komplett überrannt. Wir haben die Hauptstraßen gemieden und sind ausschließlich durch kleinere Orte gefahren. Diese Seite des Flusses schien wie leer gefegt. Allerdings haben wir uns gewaltig geirrt.“ Die Kamera schwenkte herum. Es wurde langsam am Fluss entlang gefilmt, bis eine mehrere Meilen große Insel in der Mitte des Flusses in Sicht kam. „Scheinbar haben sich einige tausend Überlebende auf die große Insel retten können und die Brücke mit Autos versperrt. Das ist ein verdammtes Massengrab, sie sind verloren. Gott möge ihren Seelen gnädig sein.“

   Erst dachte Chris, dass die Videoqualität abnähme, denn am oberen Rand des Flusses sah es aus, als würden massive Pixelfehler das Bild in Bewegung setzen. Dann setzte der Zoom ein. Ungläubiges Gemurmel füllte das Kommunikationszentrum. Vereinzelte Flüche waren zu hören. Chris konnte es kaum fassen.

   Die vermeintlichen Pixelfehler waren Menschen. Nein, untote Menschen. Ihre schiere Masse ließ jeden im Raum geschockt auf das große Bild starren. Die gesamte Nordseite des Flusses war voll mit Zombies. Es mussten hunderttausende sein. Chris konnte sich nicht erinnern jemals so viele Menschen auf einem Fleck gesehen zu haben. Selbst jedes gefüllte Super-Bowl Stadion wäre bei dieser Masse erblasst.

„Es sieht aus, als hätten sich alle ehemaligen Einwohner von Quebec-City versammelt. Wenn die Daten stimmen, dann hatte Quebec 600.000 Einwohner. Ich will mir gar nicht ausmalen, was in Großstädten wie Tokio abgeht.“ Eine zweite Stimme meldete sich zu Wort. „Chuck, hast du was wir brauchen? Wir sollten den Standort wechseln, einige der Viecher haben uns bemerkt.“  Das Bild der Kamera wackelte und die Videowand wurde schwarz.

   Niemand im Raum sprach ein Wort. Alle versuchten das Gesehene zu begreifen.

Der Gedanke, dass diese Untoten-Armee ein gemeinsames Ziel verfolgte und die Überlebenden jagte, sprengte Chris‘ Verstand. Eine Horrorvision.