Scott suchte zuerst an dem Baum, an dem er Ray zurück gelassen hatte. Fehlanzeige. Allerdings fand er dafür etwas anderes und fluchte innerlich. Die dunkle Vorahnung hatte ihn bereits im Laden überkommen, als er im Schnapsregal eine Lücke bemerkt hatte, die zu Beginn des Abends noch nicht dagewesen war.
Ich hab es befürchtet, dachte Scott kopfschüttelnd. Im schimmernden Mondlicht lagen zwei leere Flaschen Whiskey.
Er ging weiter die Straße runter, drehte aber nach ein paar hundert Metern um. Im Prinzip konnte Ray überall sein. Wenn man allerdings bedachte, dass er wahrscheinlich sternhagelvoll sein musste, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er sich irgendwo in der Nähe der Tankstelle ein Plätzchen zum Schlafen gesucht haben würde.
Scott ging zum VW. Bereits aus einiger Entfernung konnte er erkennen, dass die Scheiben von innen beschlagen waren. Er schaute durch die Seitenfenster. Dort lag er. Zusammengerollt in Embryonalhaltung und in der rechten Hand noch eine dritte, bis zur Hälfte geleerte Flasche Jack Daniels. Scott widerstand dem Drang, die Tür aufzureißen und Ray direkt am Tankstellenschild aufzuhängen. Stattdessen ging er durch die Hintertür zurück in den Laden. Er schaute kurz nach den anderen. Alles schien in Ordnung. Dann nahm er einen Eimer aus dem Abstellraum und füllte ihn am Schlauch im Hinterhof mit eiskaltem Wasser, das vor wenigen Stunden noch den Durst des ausgedörrten Watson gestillt hatte. Danach ging er zurück zum Van. Er stellte den Eimer auf eine Rasenfläche, wenige Meter neben den VW. Die Nacht neigte sich langsam dem Ende zu und Scott konnte erkennen, wie es dämmerte Eine gute Zeit um aufzustehen, dachte er.
Dann schob er mit einem kräftigen Schwung die Schiebetür auf, so dass das ganze Auto bebte. Noch bevor Ray überhaupt begreifen konnte, was geschah, hatte Scott ihn auch schon aus dem Wagen gezerrt und zog ihn hinter sich her in Richtung Rasen.
„Was zur…?“, murmelte Ray, während er mit den Augen blinzelnd zu sich kam.
„Sei still“, raunte Scott.
„Ahhh verdammt“, stöhnte Ray, als er am Kragen über den Asphalt geschleift wurde. Dann warf Scott ihn einfach auf den Rasen.
„Bist du jetzt komplett durchgeknallt?“, schrie Ray, halb brüllend, halb lallend.
Scott kniete sich vor Ray und nahm sein Gesicht in die rechte Hand, wobei er ihm schmerzhaft die Backen zusammendrückte.
„Du sollst
still sein hab ich gesagt“, wiederholte Scott. „Du wirst mir jetzt
gut zuhören, denn ich sage dir das Folgende nur ein einziges Mal:
Ich kann verstehen, dass du Cathy vermisst. Ich kann verstehen,
dass du deine Familie vermisst. Ich kann auch verstehen, dass du
denkst, diese Welt sei am Arsch. Und ich kann mir denken, dass es
momentan nur wenige Gründe für einen Alkoholiker gibt, sich nicht
komplett dem Suff zu ergeben. Aber verdammte Scheiße nochmal, Ray,
wofür ich überhaupt kein Verständnis habe, ist, dass du nicht
mal versuchst, zur Normalität zurückzukehren. Weiterzumachen. Nach
vorne zu schauen. Es gibt immer noch Hoffnung!“
Scott ließ Rays Gesicht los.
Dieser blickte ihn mit glasigen Augen an, in denen feine rote
Äderchen zu sehen waren. „Fick dich, Scott. Du hast doch überhaupt
keine Ahnung.“
Anstatt zu antworten, packte Scott Ray am Nacken und presste seinen Kopf in den Eimer eiskaltes Wasser. Kurz darauf zog er ihn wieder hoch.
„Ich hab dich grad nicht verstanden“, sagte Scott.
Wasser lief an Ray herunter und tränkte sein Hemd dunkel. „Anscheinend bist du nicht nur fett, sondern auch taub“, stöhnte er.
Wieder
tauchte Scott ihn in den Eimer, dieses Mal wesentlich länger. Ray
versuchte sich dem Griff zu entwinden, aber das war ein
aussichtsloses Unterfangen. Schließlich zog Scott ihn wieder
hoch.
„Du musst wohl etwas lauter
sprechen, wenn der fette Holzfäller so schlecht hört“, knurrte
Scott.
Ray schnappte nach Luft. „Verdammte Scheiße! Scott, hör auf!“
„Wir können das den ganzen Tag lang machen“, sagte Scott und drückte Ray erneut unter Wasser. Er ging nah mit seinem Kopf an Rays Gesicht unter Wasser. „Es sei denn, du fühlst dich zu einer zivilisierten Unterhaltung imstande.“ Scott zählte in Gedanken bis zehn, dann zog er Ray wieder raus.
„Okay
okay…“, würgte Ray. „Wir reden.“ Als Scott ihn losließ, rollte Ray
sich auf die Knie und erbrach einen großen Schwall an dunkelbrauner
Flüssigkeit. Nach mehreren Nachbeben schien sein Magen sich zu
beruhigen. Dann legte er sich auf den Rücken.
„Du verdammter Irrer“, röchelte
Ray. Sein Atem ging stoßweise.
Scott ging nicht auf den Kommentar ein. „Was hast du dir dabei gedacht deine Wache zu verpennen?“
„Ich habe nie gesagt, dass ich Wache halten würde.“
„Richtig. ICH hatte das gesagt.“
„Seit wann machst du die Regeln?“
„Seitdem du dich aufführst wie ein kleines Mädchen, dem man den Lutscher weg genommen hat.“
Auf einmal
wurde Rays Blick überraschend klar. Er funkelte Scott
an.
„So nennst du das also, Scott?
Wir verlieren unsere Zuflucht, geliebte Menschen, kämpfen um unser
Leben – und für dich ist das vergleichbar mit einem beleidigten
Kind?“
Scott setzte sich neben Ray. „Es geht mir nicht darum, irgendetwas kleinzureden. Du hast es eben selbst gesagt. WIR haben unsere Zuflucht verloren. WIR kämpfen um unser Leben. Gemeinsam. Und ich ertrage dein momentanes Verhalten nicht länger, dass sich irgendwo in einem Stadium zwischen Selbstmitleid und Selbstzerstörung befindet. Vor allem wenn dadurch andere in Gefahr geraten. Es haben sich fünf von den Viechern am Laden getummelt. Hätte der Hund nicht deine Aufgabe übernommen und angeschlagen wie wild, dann hätten uns diese Biester deinetwegen im Schlaf in Stücke gerissen.“
Das hatte gesessen. Einige Minuten lang saßen die beiden nur da und schwiegen einander an.
„Ich kannte ihn“, sagte Ray schließlich.
„Hm?“ Scott wusste nicht, was Ray meinte.
„Diesen Springer. Ich kannte ihn, als er noch gelebt hat.“
Scott war wie erstarrt. „Was?“
Ray schaute ihm direkt in die Augen. „Er war einer der Überlebenden des Flugzeugabsturzes. Sein Name war Cain. Sie, das heißt Cain und drei andere, haben uns verlassen, um ihr eigenes Glück zu versuchen. Es gab einen Streit im Haus. Ein Primat namens Duke Powell hatte die anderen um sich geschart um, eine Mini-Revolte anzuzetteln. Mit Chris‘ Hilfe haben wir sie rausgeworfen.“
„Und warum bist du dir nun sicher, dass es dieser Cain war?“
Ray atmete tief durch. „Seine Jacke. Er trug genau diesen olivgrünen Parka, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe.“
„Phil hätte ihn doch auch erkennen müssen – warum hat er nichts davon erzählt?“
Ray zögerte. Dann entschied er sich, reinen Tisch zu machen.
„Cain trug diesen Parka nicht, als er Chris‘ Hütte am See verließ, um sich mit den anderen Überlebenden auf den Weg zu machen. Ich habe ihn danach noch einmal gesehen.“
„Wo denn?“
„Als du und Chris in Monterey das zweite Fahrzeug organisiert habt, habe ich ihn auf der Straße herumschleichen sehen. Dort trug er diesen Parka. Ich bin ihm gefolgt – aus Neugier, aufgrund einer Vorahnung – nenn es, wie du willst.“
„Und dann…?“, fragte Scott, der angespannt zuhörte.
Ray stieß hörbar Luft aus. „Er ist in ein Haus rein, wollte wahrscheinlich plündern. Als ich das Haus betreten habe, hörte ich direkt, dass er in Schwierigkeiten war. Anscheinend war er zu unvorsichtig und wurde von zwei Untoten bedrängt.“
Scott konnte ahnen, worauf das Ganze hinaus laufen würde. Er starrte Ray erwartungsvoll an.
„Ich ging in das Zimmer. Er sah mich. Schrie um Hilfe. Bettelte. Flehte geradezu.“
Jetzt war es Scott, der tief ausatmete. „Lass mich raten, du hast ihn seinem Schicksal überlassen? Jetzt wird mir einiges klar.“
„Ich hätte ihm helfen können. Das alles hätte ich verhindern können. Dann wären Cathy, Howard und Greg jetzt noch am Leben.“ Rays Stimme zitterte.
„Mach dich nicht lächerlich. Du willst doch nicht etwa behaupten, dass er gezielt zurück zu dem Haus von Chris gekommen ist, um sich zu rächen?“
„Dann gib mir eine andere Erklärung! Die anderen Untoten folgten ihm scheinbar und er hatte mehr als nur rudimentäre Intelligenz. Von seinen physischen Kräften ganz zu schweigen. Außerdem schien er mich wiederzuerkennen. Und er wusste, dass er mir am meisten wehtun würde, wenn er mir Cathy nimmt.“
Scott dachte darüber nach. Die Sprungkraft und Physis dieses Zombies waren in der Tat ungewöhnlich gewesen. Er hoffte, dass sie nie wieder auf so ein Exemplar treffen würden. „Mal angenommen, du hast Recht. Dann heißt das aber noch lange nicht, dass du die Sache zu verantworten hast. Niemand kann sagen, was passiert wäre, wenn du ihm damals geholfen hättest.“
„Nimm es mir nicht übel Scott, aber das ist ein schwacher Trost.“
„Ich nehme es dir nicht übel, zu trauern. Und ich kann jetzt besser verstehen, warum du dir solche Vorwürfe machst. Aber ich werde es dir weiterhin übel nehmen, wenn du das nicht abhakst und nach vorne schaust. Die Vergangenheit können wir nicht mehr ändern. Unsere Zukunft hingegen sehr wohl. Und die Leute hier brauchen dich.“
Ray blickte Scott mit einer Mischung aus Dankbarkeit, Trauer und Sorge an, schwieg aber. Die Morgendämmerung wich langsam der aufgehenden Sonne, und ein neuer Tag brach an.
„Ich werde mal nach den anderen schauen und etwas zum Frühstücken besorgen“, sagte Scott. „Komm einfach dazu. Dann tanken wir den Wagen auf, bestücken ihn mit Proviant und ziehen weiter in Richtung Fort Benning.“
„Was machen wir mit Lassie?“, fragte Ray mit einem angedeuteten Lächeln.
„Wenn wir dich weiter mitnehmen, dann muss der Hund auch mit. Er benimmt sich nämlich und tut, was man ihm sagt“, antwortete Scott mit einem schwachen Lächeln und ging Richtung Tankstelle.