Als die Patrouille weiter gefahren war, schauten sich Ray, Scott und Phil den Wagen an. Die Delle im Grill war unproblematisch, aber die fehlende Schiebetür würde ihnen die Weiterfahrt erschweren. Die ausgelösten Airbags entfernten sie direkt.
„Wenn wir ohne die Tür weiterfahren, können wir nicht schneller als vierzig oder fünfzig fahren. Dann brauchen wir doppelt so lange für den Weg“, sagte Phil.
„Außerdem können wir es nicht riskieren, dass uns irgendwas rausfällt, sei es Proviant, Kinder oder Hunde“, grinste Ray.
Scott hob die Tür auf. Sie war nicht nur verbogen, auch die Scharniere waren abgerissen. „Was hatte das Vieh nur für eine unglaubliche Kraft“, sagte er.
„Es war auf jeden Fall ein besonderes Exemplar“, stellte Ray fest.
„Wie auch immer, wir müssen das Auto wieder flott machen“, drängelte Phil. „Oder ein neues besorgen.“
„Hier sehe ich keines. Vielleicht gäbe es eines in der Siedlung, die laut Karte gleich kommen müsste“, meinte Scott.
„Ich glaube nicht, dass es das Risiko wert ist. Wer weiß was hier noch für Kreaturen rumlaufen. Wir müssen auf direktem Weg nach Fort Benning.“ Ray klang entschlossen. „Lasst uns versuchen, die Karre hier so gut es geht zu flicken.“
„Okay, Scott und ich schauen nochmal im Laden und in der Tankstelle. Pass du hier auf Chris und die Kinder auf.“ Ray nickte.
Nach kurzer Zeit kamen Scott und Phil mit schweren Decken wieder, die sie aus dem Laden besorgt hatten. Außerdem hatte Scott eine Nietenpistole gefunden. Phil machte sich direkt daran, die Decke an der offenen Seite des VWs zu befestigen.
Die Kinder spielten mit Watson auf einer Rasenfläche in der Nähe des Wagens. Ray saß in der Sonne auf einem Stein und beobachtete sie. Seine Machete hing wieder an seinem Gürtel. Er grübelte und legte seine Stirn in Falten. Der Streit mit Scott in der Tankstelle zerrte noch immer an ihm, da er wusste, dass sein Freund im Recht war. Er hatte nie ein Anführer sein wollen, nicht mal damals bei den Pfadfindern. Die unliebsamen Entscheidungen, die solche Positionen unweigerlich mit sich brachten, waren ihm eigentlich zuwider. Sein Titel als Flugzeugkapitän hatte ihm Autorität verliehen, aber wirklich verdient hatte er sie sich seiner Meinung nach nie. Ganz im Gegenteil. Wenn er an seinen alten Job zurückdachte, fielen ihm als erstes sein stetiger Suff und die Frauengeschichten mit diversen Stewardessen ein. Ray hielt sich selbst nicht gerade für den Prototypen eines vorbildlichen Menschen.
Dennoch gab es einige Menschen, die ihn mochten, ja sogar liebten. Seine Exfrau Debbie hatte ihn einmal geliebt, wobei er diese Ehe gerne als Jugendsünde abtat. Bei Melissa, seiner zweiten Ehefrau, schwor er sogar sich für sie zu ändern. Doch selbst nach der Geburt von Tom und Eve fiel er irgendwann in alte Gewohnheiten zurück. Er dachte nach, wie er in diese Lage geraten war. Der Flugzeugabsturz hatte eine Kette von Ereignissen in seinem Leben ausgelöst, die sich seiner Kontrolle mittlerweile völlig entzogen. Ray war sich aber sicher, dass er nüchtern und im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte in den meisten bedrohlichen Situationen einen kühleren Kopf hätte bewahren können.
Seinen Vollrausch in Monterey hatte er nur überlebt, weil Scott ihm seinen jämmerlichen Arsch gerettet hatte. Wäre dieser Mann an jenem Tag nicht gewesen, hätte er sich betrunken und schlafend in eines dieser Scheißviecher verwandelt, deren Existenz er seit Cathys Tod so sehr verabscheute.
Vielleicht hätte Cathy Ray retten können. Vielleicht wäre sie der eine Mensch auf der Welt gewesen, der diesen betrunkenen abgehalfterten Piloten wieder in die Spur bekommen hätte. Ray legte seinen Kopf in seine Hände. Er rief sich die Bilder seiner Liebsten ins Gedächtnis. Er war sich sicher, dass alle wollen würden, dass er weiter machte. Dass er sich bemühte und sein Bestes gab. Er hatte nun die Verantwortung für seine Freunde, ob er wollte oder nicht. Es war nicht Cathy, die ihn hätte bekehren können. Es lag bei ihm. Und wenn er noch ein Zeichen von oben benötigt hatte, so hatte er dieses soeben bekommen.
In diesem Augenblick fasste Raymond Thompson zum ersten Mal in seinem Leben den ernsthaften Entschluss, irgendwann tatsächlich mit dem Trinken aufzuhören. Es war ihm klar, dass dies nicht von heute auf morgen zu realisieren war, aber er wollte es mit allen Mitteln versuchen. Wenn er schon ein Anführer sein musste, wollte er wenigstens ein guter Anführer sein.
Eine hünenhafte Gestalt verdunkelte die Sonne. Scott trat an ihn heran und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Ich hoffe, dass unser Disput nicht mehr zwischen uns steht, Ray“, sagte Scott.
„Wie könnte er. Ich habe Scheiße gebaut Scott und das nicht nur einmal.“ Ray wirkte konsterniert.
„Kann sein. Aber du hast dafür auch verdammt viel richtig gemacht. Viele Menschen verdanken dir ihr Leben und die Tatsache, dass sie dich kritisieren, sollte dich anspornen. Wenn du allen egal wärest, würden sie sich einfach von dir abwenden.“
„Ich hoffe, ich verdiene mir ihr Vertrauen zurück – und deines auch“, erwiderte Ray beschämt.
„Da bin ich mir ziemlich sicher. In unserer jetzigen Situation bietet sich dir fast jeden Tag eine Gelegenheit dazu“, sagte Scott aufmunternd und reichte Ray seine Hand. „Dass du dir darüber Gedanken machst, zeigt mir jedenfalls, wie wichtig es dir damit ist“, fügte er hinzu.
Ray ließ sich von Scott auf die Füße ziehen und lächelte. Der große Mann hatte die richtigen Worte gefunden. Rays Laune war immer noch nicht die Beste, aber er wollte von nun an an seinen Fehlern arbeiten. Er hoffte, dass Cathy ihm ab jetzt zusah, wo auch immer sie gerade war.
„Lass uns in die Karre einsteigen, Scott. Wird Zeit, dass wir in Fort Benning ankommen. Wir können alle eine Mütze voll Schlaf und eine heiße Dusche vertragen.“
„Mit diesem Enthusiasmus gefällst du mir viel besser.“ Nun lächelte auch Scott.
Scott faszinierte Ray immer wieder. Er nahm sich vor, den freundlichen Holzfäller besser kennenzulernen. Er hatte ihn nie groß nach seiner Familie oder seinem Leben vor der Katastrophe gefragt. Es fehlte einfach die Zeit dazu. Das wollte er dringend nachholen, wenn sich die Gelegenheit ergab.
Scott ging zu den anderen zurück. Phil hatte die Decke mittlerweile notdürftig an der Seite befestigt. Es war zwar ein Behelf, aber es musste reichen. Nach dem Eintreffen der Soldaten aus Fort Benning hatten alle diesen hoffnungsvollen Blick. Scott hoffte, dass es von nun an für sie wieder bergauf ging.
„Lasst uns noch zusätzliches Benzin verstauen. Ich wette in Fort Benning ist man über jede Unterstützung glücklich und wir könnten uns so gleichzeitig für unsere Rettung bedanken“, sagte er.
„So machen wir es. Wir haben auf jeden Fall noch Platz für zwei bis drei große Kanister“, bestätigte Phil den Vorschlag.
Ray ging bereits zu Werke. „Ich mach das schon, Jungs.“
Phil blickte etwas ungläubig, doch Scott zwinkerte ihm zu.
Kurze Zeit später waren sie zum Aufbruch bereit. Chris saß hinten im Wagen und die anderen hatten ihm so viel Platz wie möglich gelassen. Ray saß mit Watson und den Kids auf der mittleren Bank, was ihm gar nicht behagte. Der Hund sah ihn treu an, aber Ray knurrte nur kurz. Dafür fühlten sich Robbie und Fiona wie im siebten Himmel. Phil hatte ihnen erlaubt einige Dauerlutscher einzustecken und sie hatten einen Hund zum Spielen dabei. Dieses Mal klemmte sich Scott hinters Steuer. Der Wagen startete zuverlässig und sie verließen das Tankstellengelände und machten sich auf den Weg nach Fort Benning. Die Stimmung an Bord war so gut wie schon lange nicht mehr. Nach dem reinigenden Gewitter zwischen Scott und Ray hatten sich die meisten Spannungen gelöst. Scott gestattete sich sogar eine vage Hoffnung, seine geliebte Ehefrau Jane und seinen Sohn Sam in Fort Benning zu finden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Die Straße rauschte dahin und nach anfänglichen ausgelassenen Gesprächen waren alle, außer Fiona und Robbie natürlich, mit sich selbst beschäftigt. Phil beendete die Stille.
„Wenn wir weiter so zügig vorankommen, haben wir es in einer Stunde geschafft. Als erstes werde ich mal heiß duschen und mir einen frisch aufgebrühten Kaffee besorgen“, verkündete er.
„Kaffee…“, seufzte Scott. „Ich hoffe die Jungs haben Fleisch da. Ich will ein saftiges, kurz gebratenes T-Bone Steak. Und dazu eine halbe Tonne Bratkartoffeln.“
„An dir ist doch wohl mehr als genug Fleisch dran, oder?“ Chris japste über seinen eigenen Scherz.
„Du kannst froh sein, dass du verletzt bist, du Milchbart“, brummte Scott. Die Männer lachten schallend.
„Hört auf, mein armer Körper“, bat Chris schließlich.