Lebenszeichen

Als Ray und Scott eines Morgens gemeinsam frühstückten, kam Chris gut gelaunt in die Kantine und setzte sich zu ihnen. Sie waren mittlerweile seit knapp drei Wochen in Fort Benning und es war so etwas wie Alltag eingekehrt, wenn man unter den gegebenen Umständen davon sprechen konnte.
   „Guten Morgen die Herren, wie haben wir geschlafen? Scott, du hattest hoffentlich keine Alpträume in letzter Zeit? Wegen den Schießübungen?“, fragte Chris flapsig.

   Scott kommentierte die Bemerkung nur mit einem skeptischen Blick, bei dem sich seine Augenbrauen hoben und die Stirn in Falten legte. Ray musste ein wenig grinsen.

   „Lass den Großen in Ruhe frühstücken, er hat seinen Kaffee noch nicht gehabt.“

   „Dagegen kann man ja was tun“, grinste Chris und ging herüber zum Kaffeestand. Die Kantine war mittlerweile zu so etwas wie einer großen Versorgungsstation geworden, in der das gesamte Personal von Fort Benning die Mahlzeiten zu sich nahm. Außerdem wurden von hier auch Versorgungspakete für die Flüchtlinge im Außenlager zusammengestellt. Insgesamt waren inzwischen rund fünfhundert Menschen zusammengekommen, womit die Kapazitäten des Lagers so gut wie erschöpft waren. Zwar unternahmen verschiedene Suchtrupps immer wieder Erkundungstouren für neue Vorräte und Ausrüstung, aber der Radius um das Fort konnte nicht beliebig erweitert werden. Man musste kein Genie sein, um zu wissen, dass über kurz oder lang externe Hilfe unabdingbar war.
   Während Ray sein Rührei aß, sah er im Augenwinkel, wie Chris sich mit zwei Kaffeetassen von hinten an Scott anschlich. Um sich nichts anmerken zu lassen, konzentrierte er sich eindringlich darauf, sein Rührei zu kauen.

   „Du schmatzt wie eine Horde Schweine, Thompson“, sagte Scott, der mit dem Rücken zu dem sich nähernden Chris saß.

   In genau diesem Moment langte Chris von hinten mit einer der Tassen über Scotts Schulter und knallte sie auf den Tisch, so dass der Kaffee überschwappte, während er gleichzeitig ein lautes „PENG!“ brüllte.

   Scott fuhr zusammen. Von anderen Tischen wurde verwundert herüber geschaut. Chris brach in schallendes Gelächter aus. „Keine Sorge Scotty, ich bin’s nur.“ Auch Ray musste lachen.

   Scott nahm seine Kaffeetasse und trank einen großen Schluck. „Du kannst froh sein, dass du noch in der Reha bist, kleiner Mann. Unter anderen Voraussetzungen würdest du deinen Kaffee sonst von nun an aus einer Schnabeltasse trinken.“

   Chris war sich nicht ganz sicher, wie ernst Scott diese Aussage meinte, wollte aber auch nicht weiter nachbohren.
   „Sorry, ich konnte es mir nicht verkneifen. Ich meine – schau dich an, ein Kerl wie ein Baum, und dann Angst vor Waffen?“

   „Schusswaffen. Meine Fäuste benutze ich aber durchaus gerne, wenn du verstehst, was ich meine“, sagte Scott mit einem hämischen Lächeln.

   „Ihr seid schlimmer als ein altes Ehepaar“, mischte Ray sich ein. „Schauen wir lieber was heute auf dem Plan steht. Chris, werden du und dein Bruder wieder in der Kommunikationszentrale eingesetzt?“

   „Ja, gleich ist Schichtwechsel. In den vergangenen Tagen kamen immer öfter neue Signale rein – leider war bislang nichts Interessantes dabei. Bis auf die Ausnahme der Szene in Kanada. So etwas habe ich noch nie gesehen. Aber davon wisst ihr ja schon.“

   Ray nickte, schob das letzte Stück Rührei in sich hinein und wischte sich dann den Mund mit einer Serviette ab. „Scott?“

   „Ich helfe heute Private Petersen dabei die Außenanlagen weiter zu befestigen. Es kommen immer mehr von den Drecksviechern durch. Außerdem muss ich noch das Grab für Chris schaufeln.“

   Chris verdrehte die Augen. „Scotty, zu meiner Beerdigung würden hier im Militärlager bestimmt Salutschüsse abgefeuert. Du würdest dir also selbst keinen Gefallen tun“, grinste er.

   Ray stand auf. „Mir reicht’s mit euch beiden Hornochsen. Ich werde weiter versuchen den Heli zu reparieren. Wir sehen uns heute Mittag.“

 

Ray arbeitete seit einigen Tagen mit dem Chefmechaniker des Forts zusammen, einem schwarzen Hünen, den alle nur Screw nannten. Screw war mit seinen dreiundzwanzig Jahren vor der Katastrophe noch in der Ausbildung gewesen, aufgrund der veränderten Personalsituation aber mittlerweile der Mechaniker mit den größten Kenntnissen. Zwar hatte auch Ray nur rudimentäres technisches Know-How, aber dies schien dem Master Sergeant auszureichen, um ihn hier einzusetzen. Ray selbst gefiel es, sich hier nützlich zu machen und auf diese Weise etwas zurückzahlen zu können.
Von der Statur her hätte Screw der verloren gegangene Zwillingsbruder von Scott sein können. Allerdings hatte Ray schnell gemerkt, dass dieses Erscheinungsbild täuschte. Er war ein ungemein fingerfertiger, geschickter Arbeiter. Ray erinnerte sich an die Worte seines Vaters, der ihn gelehrt hatte, Menschen niemals nach dem ersten Eindruck zu beurteilen. Unzählige Male hatte er gegen diesen Grundsatz verstoßen, auch im Falle von Screw.  Ray wurde aber schnell eines Besseren belehrt. Darüber hinaus verstanden sich die beiden auch zwischenmenschlich prächtig, was nicht zuletzt an Screws sensibler Art lag, die Ray ihm zu Beginn ebenfalls nicht zugetraut hätte.

   „Guten Morgen, Captain“, sagte Screw, als Ray den Werkstatt-Hangar betrat. Wie immer trug Screw seinen grauen Overall. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem kleinen goldenen Kreuz.

   „Guten Morgen, Screw, mein kleiner Schraubenakrobat“, grinste Ray. „Was macht unser Schätzchen?“

   Screw klopfte auf die Außenseite des Sikorsky Helikopter des Models Little Bird, an dem die beiden seit einigen Tagen arbeiteten. „Das Baby will immer noch nicht. Die Zahnräder und Lagerstellen im Getriebe bekommen nach wie vor zu wenig Öl.“

   „Dann nehmen wir uns nochmal die Ölpumpe vor. Zu schade, dass wir kaum Ersatzteile hier haben“, sagte Ray.

   „Wen Gott nass macht, den macht er auch wieder trocken“, sagte Screw.

   „Wenn du damit sagen willst, dass die Dinge schon wieder in Ordnung kommen, dann bin ich gespannt. Nachdem was in den vergangenen Wochen passiert ist, braucht er dafür nämlich einen ganz schön großen Fön“, erwiderte Ray, der bis vor kurzem an göttliche Offenbarung nur im Schlafzimmer geglaubt hatte. Dann fiel ihm ein, dass seine letzten Stoßgebete zumindest im weiteren Sinne erhört worden waren, immerhin hatten sie es bis hierher geschafft. „Aber wenn einer einen so großen Fön hat, dann wohl Gott“, schob er unsicher hinterher.

   „Du musst nicht für mich an Gott glauben“, antwortete Screw mit einem Lächeln. „Er wird dich trotzdem beschützen.“

   „Mir würde es fürs Erste reichen, wenn er mir ein neues Getriebe schicken würde“, ächzte Ray, als er mit aller Kraft eine Schraube löste. „So, das hätten wir. Sieht so aus als wenn wir die Pumpe nochmal reinigen müssen. Kannst du mir mal…“

   Wie aus dem Nichts stürmte Chris in den Hangar, völlig außer Atem. „Ray. Das musst du dir ansehen. Schnell!“