Kantine

Margarete Pelletier sah das kleine Mädchen besorgt an. Tapferes kleines Ding. Halte mir ja durch. Der Sanitätssoldat, Private First Class Foley, der sie gerade unterstütze, ging zu ihr, um zu helfen.

   „Was hat die Kleine, Ma’am?“, erkundigte er sich besorgt.

   „Sarah Mitchell. Neun Jahre alt und im Laufe des Tages zu uns gelangt. Sie ist gestürzt und hat sich einen Ast unangenehm ins Bein gebohrt. Sie hat eine Wunde am linken Oberschenkel. Der Ast ist ziemlich tief ins Fleisch eingedrungen. Ich habe sie auf eine eventuelle Infektion überprüft. Alle Anzeichen sind negativ. Normale Körpertemperatur, normaler Atem, etwas niedriger Blutdruck.“

   „Nichts, was nicht heilen würde. Sie wird schon wieder werden“, sagte Foley.

   Margarete bedachte sie erneut mit einem mitleidigen Blick. „Was mir Sorgen bereitet, ist nicht ihre Verletzung, sondern ihre medizinische Vorgeschichte. Ihre Mutter hat mir mitgeteilt, dass sie an der Bluterkrankheit leidet. Ich habe Schwierigkeiten die Wunde zu verschließen. Sie hat mittlerweile ziemlich viel Blut verloren. Glücklicherweise habe ich einen geeigneten Spender, auf den ich gerade warte.“

   „Oh, ich verstehe. Dann werde ich mal alles für eine Transfusion vorbereiten.“

   „Tun Sie das. Ich hoffe, mein Spender kommt bald.“

   Margarete sterilisierte einige Zugänge und bereitete mit Foley zwei Transfusionsbeutel vor. Nach einiger Zeit der Vorbereitung stürzte Private Maddox durch die Tür. Er hatte einen hochroten Kopf, prustete und stemmte seine Hände auf die Knie.

   „Verzeihen Sie mir, Ma’am, ich hatte bis eben Dienst und bin so schnell hergekommen, wie ich konnte.“

   „Und ich dachte schon, Sie versetzen mich, Billy.“ Margarete strahlte ihn an.

   „Niemals, Ma’am, Billy Maddox versetzt nie eine Lady“, lachte er herzlich. Dann blickte er zu der kleinen Sarah herüber. „Ist sie das?“

   „Genau, Billy, dieses Mädchen werden Sie durch Ihre Spende retten.“

   „Was hat sie denn? Sie ist so blass.“ Billy wischte sich den Schweiß von der Stirn.

   „Eine offene Wunde und dazu die Bluterkrankheit. Daher brauchen wir auch weitere Blutkonserven. Danke, dass Sie uns helfen.“

   „Das ist Ehrensache. Wissen Sie, ich habe selbst eine kleine Schwester, Maggie. Sie ist vier und lebt auf unserer Farm und…“, er brach ab und sein Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. „Ich liebe meine Familie sehr, wissen Sie? Ich will dem Mädchen gerne helfen.“

   „Das weiß ich zu schätzen. Legen Sie sich hier auf die Trage, das Ganze wird nicht lange dauern.“

   Billy Maddox legte sich hin und Foley begann, seinen Arm zu desinfizieren. Dann legte er den Zugang und das Blut floss in die Transfusionsbeutel. Als zwei große Beutel gefüllt waren, zog Margarete den Zugang ab und klebte Billy Maddox ein Pflaster auf den Arm.

   „Also das ist wirklich nicht von Nöten, Ma’am.“, protestierte er tapfer.

   „Das überlassen wir mal schön der diensthabenden Ärztin, nicht wahr? Eine Entzündung nützt niemandem. Sie werden gebraucht, wissen Sie?“

   „Es ist nett, dass Sie das sagen. Brauchen Sie mich hier noch? Ich bin mit einem Freund zum Essen verabredet.“

   „Dann gehen Sie und grüßen Ihren Freund von mir. Danke für Ihre Hilfe, Billy. Einen schönen Tag.“

   „Wünsche ich Ihnen auch.“ Mit diesen Worten ging Billy Maddox freudig aus dem Sanitätsbereich. Er hoffte inständig, dass er dem kleinen Mädchen helfen konnte.

Billy strahlte über das ganze Gesicht, als er Han Tsui im Kantinenbereich traf.

   „Was bist du denn so gut aufgelegt?“, fragte Tsui.

   „Es liegt ein kleines Mädchen im Lazarett und ich habe ihr Blut gespendet, damit sie wieder fit wird. Das stimmt mich eben froh.“

 

   „Gute Arbeit, der Doc bekommt sie sicherlich wieder hin. Sie und der Junge vom Sarge machen da anscheinend einen ordentlichen Job. Einige in der Basis sprechen bereits darüber.“

   „Kann ich bestätigen“, stimmte Maddox zu.

   Die beiden Männer reihten sich in eine Schlange ein und warteten auf Brot und einen frisch gebrühten Kaffee. Alles was die Versorgungsteams an Verpflegung heranschafften, wurde gezählt und streng rationiert. Das tat dem aufkommenden Schwarzmarkthandel für Schokolade, Zigaretten und Alkohol aber keinen Abbruch. Es wurde getauscht. Wer konnte schon noch etwas mit Geldscheinen anfangen, außer Feuer zu machen. Han Tsui klopfte Billy Maddox freundschaftlich auf die Schulter.

   „Mein lieber Mister Maddox. Da wir deine Heldentat zu feiern haben, fände ich es ausgesprochen angebracht, wenn du uns eine Sitzgelegenheit suchst und ich das Frühstück hole.“

   „Nichts dagegen einzuwenden, mein lieber Mister Tsui.“ Billy grinste und ging in Richtung der Sitzgelegenheiten. Die Kantine war gut besucht zur Frühstückszeit. Einige Soldaten und auch Zivilisten saßen an den Tischen und nahmen ihr Frühstück zu sich. Am auffälligsten waren der Riese und sein schmalerer Freund drei Tische weiter. Die beiden sahen aus, als hätten sie schon einen ordentlichen Streifen mitgemacht. Im hinteren Bereich saß auch Master Sergeant Pelletier, der ihnen knapp zunickte. Nach einiger Zeit tauchte Han mit einem prall gefüllten Tablett auf. Heißer Kaffee, Rührei, Brot, Butter, Käse und Schinken. Billy bekam große Augen.

   „Han, wen hast du abgeknallt?“, fragte er ungläubig.

   „Die Küchenschabe schuldete mir noch was, ich hab nur einen Gefallen eingefordert.“, zwinkerte er.

   „Wahnsinn, das wird ja ein Fest.“ Billy fing an, sich über das Tablett herzumachen und stach seine Gabel tief in das Rührei. Er sah Han mit gefülltem Mund an.

   „Hast du deinen Playboy fertig gelesen?“, schmatzte er.

   „Noch nicht ganz. Und natürlich studiere ich nur aufmerksam die Artikel.“

   „Natürlich, die Artikel“, lachte Billy. „Die Hübsche auf dem Cover, die erinnert mich an das Mädchen vom Hafen. Die, die ihr mir zu meinem neunzehnten Geburtstag spendiert habt.“

   „Ich erinnere mich“, nickte Tsui. „Feuerrotes Haar und Sommersprossen. Und die Figur war erste Sahne. Wir konnten doch nicht zulassen, dass du auf zwanzig zugehst und immer noch Jungfrau bist!“ Han lachte schallend. Billy hingegen wurde nun feuerrot.

   „Willst du, dass das jeder mitbekommt, du Arsch?“ Billy tat so, als wäre er eingeschnappt. Dann grinste er verlegen.

   „Um die Wahrheit zu sagen, sie hat mich ziemlich ausgelacht, weil ich nicht genau wusste, was ich machen muss. Irgendwann hat sie alles gemacht und ich war nach einer gefühlten Minute fertig.“ Han prustete seinen Kaffee aus und bog sich vor Lachen. Billy machte ein angesäuertes Gesicht.

   „Willkommen in der Welt des ersten Males. Da bist du nicht der erste und wirst hoffentlich auch nicht der letzte sein.“

   „Für eine Professionelle war sie auf jeden Fall ziemlich nett zu mir.“

   „Na, das ist doch die Hauptsache“, nickte Han und trank einen großen Schluck vom Kaffee. Han kramte auf dem Tablett nach Aufschnitt, als er Billy stöhnen hörte. Billy Maddox hielt sich den Bauch und blickte auf einmal schmerzverzerrt zu Han herüber.

   „Was hast du, Billy?“, fragte Han erschrocken.

   „Ich weiß es nicht, es brennt so in meinem Magen…“ Billy krümmte sich, dann stürzte er von seiner Bank und landete auf der Erde. Han schrie um Hilfe und die ersten Personen erhobenen sich.

   „HAAAAaaan hilf mir.“ Billy spuckte schaumigen Speichel aus und seiner Finger krampften. "ESSSSsss brrreeeeentt soo sehr…“ Sein Atem ging hechelnd. Tsui stürzte um den Tisch herum, um seinem Freund beizustehen. Andere Personen eilten herbei, um zu helfen. Billy Maddox platzten die Adern in den Augen und blutige Tränen liefen über sein Gesicht, während Han verzweifelt nach einem Sanitäter brüllte. Nach kurzer Zeit verzerrte sich der Gesichtsausdruck von Billy Maddox zu einer Fratze aus Wut und Hunger. Er bewegte seinen Kopf so ruckartig nach vorne, dass man seinen Nacken laut vernehmlich knacken hörte. Er saß nun aufrecht und klapperte mit den Zähnen. Er blickte zu Tsui, so als würde er ihn zum ersten Mal in seinem Leben sehen und Speichel troff aus seinem Mund.

   Han Tsui strampelte rückwärts, um sich vor seinem langjährigen Freund in Sicherheit zu bringen. Alle anderen Menschen wichen panisch zurück, als Billy Maddox versuchte auf die Füße zu kommen. Er schaffte es sich auf alle Viere zu drehen und versuchte in Tsuis Richtung zu krabbeln. Dabei gab er gurgelnde und schmatzende Geräusche von sich. Han starrte ihn entsetzt an und hörte das Klicken hinter ihm gar nicht. Was er sehr wohl hörte, war der ohrenbetäubende Lärm des Schusses, der Billy Maddox den Schädel durchschlug. Billy lag auf dem Bauch und hatte Arme und Beine von sich gestreckt. In seiner Stirn klaffte eine blutsprudelnde, runde Wunde.

   Han riss die Augen weit auf. „Billy! NEIN! BILLY! BILLYY!“ Erst jetzt sah er Willem Pelletier deutlich vor sich. Dieser hatte eine silberne, halbautomatische Pistole in der rechten Hand. Der Lauf rauchte noch von dem Schuss.

   „Tut mir Leid, Private Tsui.“

   Han Tsui tobte. Er versuchte aus Leibeskräften zu Billy zu gelangen, aber vier kräftige Wachsoldaten zogen ihn auf Befehl von Willem Pelletier aus dem Kantinenbereich. Das letzte, das er hörte, war der Befehl des Master Sergeant: „Bringt den Leichnam sofort in den Sanitätsbereich.“ An diesem Tag sah Han Tsui seinen Freund Billy Maddox zum letzten Mal.