Fort Benning

Als Ray mit seinen Leuten den äußeren Ring um Fort Benning erreichte, blickte er in die Gesichter der Soldaten, die ihnen das Leben gerettet hatten. Es handelte sich um zwei Privates, die er auf Mitte zwanzig schätzte. Beide hatten ein Scharfschützengewehr neben sich stehen und eine M4a1 in der Hand.
   „Haben Sie tausend Dank, wir …“, begann Ray. Einer der beiden hob seine Waffe und zielte auf die Gruppe.
   „Legen Sie den Baseballschläger zur Seite, nehmen Sie die Hände über den Kopf und knien Sie sich hin. Auch die Kinder“, sagte Private Brown.
   „Bitte? Wir sind gerade…“, sagte Scott.
   „Sofort.“ Browns Stimme duldete keinen Widerspruch. Robbie und Fiona sahen ängstlich ihren Vater an. Der blickte zu Ray.
   „Ihr habt ihn gehört“, murmelte Ray. Dann schmiss er den Baseballschläger zur Seite, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und kniete sich hin. Scott legte Chris ab und tat es ihm gleich, ebenso Phil und die Kinder. Watson setzte sich neben Ray.
   Private Clark schritt langsam um die Gruppe herum, bis er hinter Ray stand.
   „Auf mein Kommando stehen Sie auf und gehen vor mir her durch das Tor. Ich werde Sie bis zum Quarantänebereich begleiten. Wir müssen sichergehen dass Sie und Ihr bewusstloser Freund nicht infiziert sind. Auf geht’s.“
 

Es gab von Beginn an einen stetigen Strom an Flüchtlingen, die ihr Heil in Fort Benning suchten. Es trafen immer mal wieder neue Grüppchen oder einzelne Überlebende ein. Um den Ankunftsprozess zu vereinfachen und gleichzeitig für die Sicherheit der Menschen im Stützpunkt zu sorgen, war eine Routinekontrolle für jeden Neuankömmling eingerichtet worden.

   Seit Josh hier angekommen war und mit seinem Vater über das Virus gesprochen hatte, waren die Anstrengungen in Punkto Sicherheit nochmals erhöht worden. Insbesondere nach der Geschichte mit dem Alphazombie an Chris‘ Haus. So war auf dem großen Exerzierplatz ein vom Rest des Stützpunktes durch hohe Gitterzäune abgetrennter Quarantänebereich geschaffen worden. Alle Flüchtlinge wurden erst einmal hierher gebracht und mussten sich nach ihrer Ankunft einem ausführlichen medizinischen Checkup unterziehen, bevor sie in einem extra eingerichteten Zeltdorf auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz einquartiert wurden.

   Josh hatte heute wieder Dienst und war für den Checkup zuständig. Als er aus einem Fenster des Medizinzeltes blickte, sah er eine Gruppe von Neuankömmlingen, bestehend aus vier Erwachsenen, zwei Kindern und einem Hund, die von Private Clark in seine Richtung gebracht wurden.
   Einer aus der Gruppe der Neuankömmlinge musste von zwei Soldaten auf einer Trage hereingebracht werden, da er offenbar nicht mehr in der Lage war, selbst zu laufen. Die Gruppe sah insgesamt sehr abgekämpft und ausgelaugt aus.

   „Aloha Leute, ich bin Josh. Ihr Arzt. Wenn Sie mir dann folgen würden.“ 

  Ein kurzes Nicken von einem großen, braunhaarigen Typen in Flanellhemd und T-Shirt war die einzige Rückmeldung, die Josh erhielt. Wenigstens verstehen sie mich.

   „Sind Sie der Grund für den Aufruhr am Tor? Hat sich so angehört als hätten Sie Freunde mitgebracht“, feixte Josh und versuchte irgendwie die Stimmung zu lockern, doch die Flüchtlinge waren wirklich am Ende. Als er das erkannte, besann sich Josh auf seine eigentliche Aufgabe. Er musterte die Gruppe und warf einen genaueren Blick auf den Mann auf der Trage. Der Typ sah überhaupt nicht gut aus, er war sehr blass und sein Atem ging rasselnd. Fuck. Das ist was für Mom. Josh drehte sich um.

   „Private Clark, sagen Sie im Lazarett Bescheid, wir brauchen die Frau Doktor. Und zwar schnell.“ Er wandte sich wieder der Gruppe zu. „Wie heißt der Mann und was ist mit ihm passiert? Das sind keine Wunden von diesen Mistviechern. Sieht nach Polytrauma aus. Ist er überfahren worden?“

   „So ähnlich, er ist von einem Balkon gestürzt, Doc. Sein Name ist Chris Foster“, antwortete ein schlaksiger Typ, der Josh verdächtig bekannt vorkam.

   „Wir sind allerdings schon seit Tagen unterwegs und die letzten Stunden musste Scott ihn tragen. Seitdem ist er wieder ohne Bewusstsein.“

   Wieder? Josh erkannte, dass ihnen keine Zeit blieb. Er begann damit, eine Notfall-OP vorzubereiten. Solche Wunden hatten sie hier in der gesamten Zeit nicht behandeln müssen. Seine Gedanken rotierten und er verfluchte, dass er seine Praktika nicht bei seiner Mom in der Unfallchirurgie erledigt hatte. Klamotten, OP-Tisch, Morphium, Platz. Josh war hoch konzentriert und arbeitete nach kurzer Zeit wie in einem Tunnel.

   „Clark, schaffen Sie die anderen in die Zelle, wir brauchen hier Platz. Wir brauchen noch mindestens zwei weitere Leute hier. WACHE!“ 

   Zwei Junge Privates stürmten mit Waffen im Anschlag ins Zelt.

    „Medizinischer Notfall. Ihr zwei, schnappt euch den Typen auf der Trage. Die Kleidung muss runter  und dann rauf mit ihm auf den Tisch.“ Josh wischte mit dem Arm einige Unterlagen und Berichte von einem Tisch und breitete ein steriles Tuch darauf aus.  Er schätzte das Gewicht von dem Mann ab und ging rüber zum Medizinschrank. Fentanyl, sehr gut. Er zog eine Spritze auf und verabreichte sie dem Verletzten über einen Zugang, den er vorab legte. Nicht, dass du uns noch aufwachst mein Guter.

   Morgan hatte den besorgt dreinblickenden Rest der Gruppe in der angrenzenden Baracke mit den vergitterten Fenstern in eine Zelle geschlossen und stand wieder neben Josh, als der Verletzte auf den Tisch gehoben wurde. Er war blass, fast grau und hatte eine große, lilafarbene Einblutung im unteren Bauchbereich. Zeichen für eine innere Blutung. Josh tastete den Torso ab. Mindestens vier Rippen waren gebrochen und die Schulter sah ebenfalls nicht gut aus. Eins nach dem anderen. Wir müssen ihn stabilisieren.

   Josh wusste in etwa was zu tun war. Er würde die Quelle der Blutung finden und schließen müssen. Dazu musste er allerdings in den Bauchraum schauen. Aufschneiden. Blut. Es bildeten sich die ersten Schweißperlen auf seiner Stirn. Er sah sich den Rest des Mannes an. Keinerlei Bisse, Kratzer oder sonstige Wunden erkennbar. Also beschränkten sich alle Verletzungen auf den Torso und verwandeln würde er sich aller Wahrscheinlichkeit auch nicht. Josh holte das Operationsbesteck.

   „Wir werden Blutkonserven brauchen. Null negativ. Alles andere würde ihn möglicherweise vergiften.“

   Es war nur noch ein Beutel da. Josh schloss die Blutkonserve an.

   Das wird nicht reichen. Wo bleibt Mom? Josh schob sich das Operationsbesteck auf einem kleinen Tischchen zum OP-Tisch und nahm sich ein Skalpell. Ganz ruhig, Pelletier. Du kannst das. Er setzte zitternd das Skalpell an und zog dann längst eine gerade Linie über die rechte Bauchseite von Chris. Josh verschwamm kurzzeitig die Sicht. Reiß dich zusammen verdammt! Es sickerte kaum Blut aus der Wunde, ein schlechtes Zeichen.

   Die Plane am Eingang des Medizinzeltes flog auf und Margarete Pelletier eilte hinein.

   „Joshua, was haben wir?“ Josh blickte auf. Gott sei Dank.

   „Polytrauma durch Sturz. Er blutet irgendwo im Bauchraum und die Rippen sind gebrochen. Er verliert zu viel Blut und wir haben keine passenden Blutkonserven mehr.“
   Margarete Pelletier war direkt in ihrem Element. Sie hatte mehr als zwanzig Jahre Diensterfahrung in der Unfallchirurgie und war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet.

   „Ist er sediert?“

   „Ja, mit Fentanyl. Was Besseres haben wir nicht.“

   „In Ordnung. Dann lass mich mal. Wir müssen erstmal das ganze alte Blut loswerden. Mit einer Konserve kommen wir auch nicht weit.“

   Josh tat das Einzige, was ihm in diesem Moment als logisch erschien. Er hatte einen Eid geschworen. In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, hallte es in seinem Kopf wider. Josh legte sich selbst einen Zugang.

   „Ich habe Null negativ, Mom. Wir machen eine Direkttransfusion. Ich habe den Patienten selbst überprüft, er ist definitiv nicht infiziert.“ Er sprach voller Überzeugung.

    Margarete Pelletier war sichtlich beeindruckt. Direkttransfusionen wurden vielleicht noch im Krieg, aber nicht mehr in der professionellen Medizin angewandt. Doch ihr Sohn schien sich seiner Sache sicher. Sie nickte zustimmend.

   Die Soldaten halfen Josh einen zweiten Tisch neben den verletzten Chris zu schieben. Margarete Pelletier war bereits damit beschäftigt sich den Bauchraum anzuschauen. Alle arbeiteten mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks zusammen. Josh verfolgte sein Blut, wie es in dem kleinen Schlauch von seinem Arm in den von Chris strömte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er konnte nur noch gedämpft Geräusche wahrnehmen.

   Durchhalten, Chris Foster.  Mom kriegt dich wieder hin.

 

Als Josh wieder zu Bewusstsein kam, lag er noch immer auf seiner provisorischen Liege. Er richtete sich ein wenig auf und drehte seinen Kopf zum OP-Tisch. Seine Mom setzte dem frisch operierten Chris gerade eine Naht an der Stelle, die Josh aufgeschnitten hatte. Er stöhnte hörbar. Seine Mom schaute kurz auf, zog ihren Mundschutz hinunter und zeigte ein warmes Lächeln.

   „Du hast ihn gerettet, Süßer. Von Anfang bis Ende alles richtig gemacht. Nur wenige Ärzte behalten in einer solchen Situation einen so kühlen Kopf. Vielleicht wird aus dir ja doch noch ein guter Unfallchirurg.“ Sie zwinkerte ihm zu.

   Josh sank auf seine Liege zurück. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht gab er sich seiner Erschöpfung hin.