Ausgeschlafen

Als Josh in seinem Bett die Augen aufschlug, fielen ihm zwei Dinge auf: Erstens hatte er seine Flucht nach Fort Benning nicht nur geträumt, denn er befand sich zweifelsfrei in einem Quartier des Militärstützpunktes. Zweitens fühlte er sich so erholt und ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr. Doch ein Gefühl war noch stärker: Hunger. Sein Magen knurrte wie ein wildes Tier.
   Er setzte sich auf sein Bett und ließ die Gespräche mit seinen Eltern Revue passieren. Auch wenn die Situation für alle eine Herausforderung war, fühlte Josh tiefe Dankbarkeit dafür, dass er sie gemeinsam mit seiner Familie durchleben durfte. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
   „Joshua, bist du wach?“, fragte Willem Pelletier von außen.
   „Komm rein, Dad“, antwortete Josh.
   Willem Pelletier öffnete die Tür und steckte seinen Kopf ins Zimmer.
   „Aufstehen mein Sohn, wir sind hier nicht mehr beim Studium. Du hast bestimmt großen Hunger. Wir treffen uns in der Kantine.“
   Josh wunderte sich, woher sein Vater wusste, dass er Hunger hatte. „Wie lange habe ich geschlafen, Dad?“
   „Ziemlich genau zweiundzwanzig Stunden.“ Willem Pelletier grinste, während Josh ungläubig die Kinnlade herunterklappte. Er war offenbar erschöpfter gewesen, als er gedacht hatte.

 

Nachdem Josh mit seinem Vater in der Kantine gefrühstückt hatte, gingen sie gemeinsam über den Stützpunkt. Sie durchquerten den hinteren Bereich des Geländes und näherten sich dem Schieß- und Sprenggelände. Einige Männer sperrten gerade Areale mit Flatterband ab und unterteilten sie zu Parzellen. Was machen die hier?, dachte Josh.
Er sah, wie einige der Personen die Köpfe zusammen steckten und miteinander diskutierten. Es wurde ausgemessen, gegraben und geschwitzt. Wenn er es nicht besser wüsste, könnte man meinen, dass dies nach Landwirtschaft aussah. Benning legte anscheinend die Grundlagen für eine möglichst autarke Versorgung mit Lebensmitteln.
   „Ist es das, wonach es aussieht, Dad?“
   „Wir müssen uns auf jedes erdenkliche Szenario vorbereiten. Noch haben wir genug Vorräte, aber während du geschlafen hast, hat sich unsere Lage stündlich verändert. Es kommen immer mehr Zivilisten, die Zuflucht suchen. Und nicht nur Zivilisten kommen durch, auch die Kontakte mit Untoten nehmen zu. Ich habe daher mit meinem Planungsteam kurzfristige Vorbereitungsmaßnahmen eingeleitet.“
   Die beiden gingen weiter in Richtung Haupttor. Als sie aus Fort Benning nach draußen traten, bot sich Josh ein Bild regen Treibens. Soldaten waren dabei, in großem Stile Fundamente und Erdlöcher auszuheben. Man hatte das Gefühl, man würde auf einen Ameisenhaufen starren, so geschäftig waren alle.
   Fort Benning bereitete sich vor. Worauf genau, darüber wollte Josh eigentlich nicht nachdenken. Zwei junge Pivates waren dabei Gräben auszuheben. Willem Pelletier begutachtete ihre Arbeit und nickte ihnen zu.
   „Wie läuft’s, Männer?“
   „So weit so gut, Sir. Gegen die Dreckviecher, die bislang durchgekommen sind, sind diese Gräben ziemlich effektiv. Die meisten torkeln direkt hinein wenn sie sich dem Fort nähern, und wir zünden die Bastarde später an, wenn sie unten festhängen. So erkaufen wir immerhin ein wenig Zeit, um den Stützpunkt besser befestigen zu können.“ Der junge, verschwitzte Soldat grinste, bevor er seinen Spaten wieder ins Erdreich stieß. Die Sicherheitszonen wurden gerade offensichtlich stark vergrößert. Die Soldaten und auch einige Zivilisten gruben Löcher und orientierten sich dabei an gezeichneten Plänen. Metallpfosten und entastete Bäume wurden in die Erde eingelassen und befestigt. Einige Männer lagerten Vorräte und schwere Maschinen aus dem Stützpunkt aus. Bewaffnete Truppen patrouillierten am Waldrand und sicherten die Arbeiten. Es sollten Diebstähle und Plünderungen verhindert werden. Offensichtlich brauchte man den Platz im Inneren für die Arbeit an den Gebäuden und Stellungen.
   Josh fiel eine Art Metallbefestigung auf, die rund um den Stützpunkt errichtet worden war. Dieser Ring bestand aus oben angeschliffenen, ineinander vernieteten Blechwänden. Aus der Ferne sah das Gebilde aus wie ein großes, umgedrehtes Sägeblatt.
   Ein öliger, traniger Geruch lag in der Luft, den Josh zunächst nicht zuordnen konnte. Er hielt sich kurz die Nase zu und versuchte sich zu erinnern, an was ihn der Geruch erinnerte. Ein Krematorium. Dann erblickte er mehrere Soldaten, die einige nackte Leichen auf ein großes Feuer warfen, das in einer Grube weit abseits des Forts brannte. Es roch, als würde man verfaultes Fleisch und Zucker in eine Tonne werfen und anzünden. Er mochte sich nicht ausmalen, wozu die Kleidung der Toten nun verwendet wurde.
   Josh drehte sich um und blickte auf den Militärstützpunkt. Bei Tageslicht erkannte man deutlich die vier Wachtürme, die im inneren Ring empor ragten. Jeder Turm war nun mit je einem Scharfschützen und einem Beobachter besetzt. Das ist die Truppenbesetzung bei einem Verteidigungsfall.
   Er ging mit seinem Vater zurück ins Innere. Als sie durch das massive Stahltor liefen, fiel Josh auf, dass gerade Schalungen aus Holz und Metall errichtet wurden, in die man Beton einfüllen konnte. Es sah so aus als wollte man den Haupteingang nach innen verjüngen. So würden Eindringlinge auf kleinen Raum gezwungen und könnten besser erledigt werden.
   „Unglaublich, was hier los ist“, sagte Josh.
   Sein Vater nickte. „Es ist der blanke Wahnsinn, wie viele Menschen hier mittlerweile Zuflucht suchen. Es kommen noch immer neue. Der Vorteil dabei ist, dass auch Fachkräfte dabei sind. Architekten, Ingenieure, Polizisten. Ich und meine Offiziere teilen die Leute zur Arbeit ein. Im Optimalfall nach Sachgebieten auf denen Vorkenntnisse bestehen.“
   „Wo sollen die ganzen Menschen bleiben?“, fragte Josh.
   „Wir planen, den Truppenübungsplatz umzubauen. Hinten sollen Wohnmöglichkeiten für Flüchtlinge und Überlebende entstehen. Bevor aber jemand bei uns unter kommt, geht er erst mal in Kurzquarantäne und wird gecheckt.“
   Josh nickte. Ihm imponierte, wie schnell sein Vater versuchte, die Dinge hier zu regeln. Als Kind war er oft hier gewesen und hatte seinen Dad besucht, aber für ihn kam eine Karriere beim Militär nie in Frage. Viel zu viel Quälerei. Das ganze Sport treiben, Gehorchen und Marschieren, das war einfach nichts für ihn. Sein Dad war ein harter Kerl. Er wäre nicht mal als taffes Mädchen durchgegangen.
   Als sie in Richtung des provisorischen Flüchtlingscamps gingen, fielen ihm die vielen Zivilisten auf. Die meisten arbeiteten an irgendetwas. Einige trugen Wasserkanister, andere flickten Reifen. Für den größten Teil wurde offensichtlich eine passende Aufgabe gefunden. Josh’s Blick fiel auf einen auffallend großen Hangar. Direkt angrenzend befanden sich zwei Flughallen. Er erinnerte sich daran, dass es sich dabei um den Instandsetzungsbereich des Militärgeländes handelte. Hier wurde alles repariert, was Räder, Ketten oder Rotoren besaß. Davor erstreckte sich ein kleines Flugfeld, auf dem Helikopter und kleine Propellermaschinen starten konnten. Josh staunte über den Eifer, mit dem die Menschen hier zu Werke gingen. Zwei Männer, er konnte nicht erkennen, ob es sich um Soldaten handelte, da sie zivil gekleidet waren, bauten olivgrüne Zelte auf. Ein weiterer schlug mit einem schweren Metallhammer Holzpfosten in die Erde, um so etwas wie eine Befriedung zu errichten. Sie liefen an ihnen vorbei und die Männer grüßten.
   Josh musste urplötzlich an seine Mom denken. Was sollte er seinem Vater nur erzählen, wenn dieser ihn damit konfrontierte? Ja, weißt du Dad, ich bin mir selbst am wichtigsten. Oh, entschuldige bitte Vater, mir war meine Mutter entfallen. Es stieg wieder dieses ekelhaft beklemmende Gefühl in seiner Brust auf, aber er schluckte es sofort herunter.
   „Wann beginnt meine Schicht?“, fragte er stattdessen.
   „Ich habe deiner Mutter gesagt, du würdest dich heute Mittag bei ihr melden. In erster Linie seid ihr für die Versorgung der Verletzten sowie den Checkup in der Kurzquarantäne zuständig. Ich habe gleich die nächste Lagebesprechung mit meinem Stab. Wir sehen uns später, Joshua.“