Festmahl

Phil hatte aus den Vorräten im Laden ein passables Abendessen zubereitet. Es gab belegte Sandwiches, die konserviert im Kühlregal gelegen hatten, und Trockenfleisch. Dazu Wasser und Saft. Scott hatte sich außerdem einen heißen Kaffee aus dem Automaten gezogen. Er verschlang seine Portion geradezu. Chris lag nach wie vor bewusstlos auf dem Sofa. Ray aß nichts.

   „Ich mache mir allmählich Sorgen um Chris“, sagte Phil. „Wenn er nicht bald wieder zu sich kommt, müssen wir uns etwas überlegen.“

   „Er hat einen ganz schönen Sturz hinter sich. Ich hoffe nur, dass er keine inneren Verletzungen hat. So oder so, wir brauchen einen Arzt, der ihn sich ansieht. Ich hoffe, dass uns in Fort Benning geholfen wird“, meinte Scott. „Was denkst du, Ray?“

   Ray schaute geistesabwesend nach draußen in die Dunkelheit, die lediglich von der Außenbeleuchtung der Tankstelle unterbrochen wurde. Langsam drehte er seinen Kopf in Scotts Richtung. „Ich denke, ich muss pissen. Ziemlich dringend.“ Dann ging er nach draußen.

   Phil schüttelte den Kopf. „Wie lange soll das noch so weitergehen?“

   „Ich rede mit ihm. Leg‘ dich mit den Kindern hin, ich werde mit Ray die Wache übernehmen“, sagte Scott. „Morgen erreichen wir dann hoffentlich Fort Benning. Von da an sehen wir weiter.“

   Phil nickte. „Kommt Kinder, legt euch hier hinten zu eurem alten Herrn auf den Teppich. Ihr könnt eure Jacken als Kopfkissen nehmen. Scott und ich haben einige Decken im Lagerraum gefunden. Deckt euch damit zu.“

   Scott folgte Ray nach draußen. Als er einige Meter die Straße entlang ging, fand er ihn an einem Baum sitzen und die Sterne betrachten. „Ich dachte du musst pissen?“

   „Und ich dachte, du musst Lassie zähmen.“

   „Er muss nicht gezähmt werden. Und er heißt Watson.“

   Ray schnaubte. „Watson, was für ein bescheuerter Name für einen Hund.“

   „Vielleicht denkt der Hund das auch über den Namen Ray.“

   Ray blickte Scott aus den Augenwinkeln an. Entgegen Scotts Hoffnung verzog er keine Miene.
   „Du machst es einem gerade aber auch wirklich nicht leicht, Captain“, seufzte Scott.

   „Was willst du von mir, Scott? Leg dich in die Tankstelle zu deiner neuen Familie und lass mich in Ruhe.“

   Zorn flammte in Scott auf. „Das ist nicht meine neue Familie, Ray. Das weißt du ganz genau. Ich vermisse meine Familie mehr als alles andere, sie ist es, die mich antreibt, in dieser Scheißwelt überhaupt noch weiter zu machen. Das heißt aber nicht, dass man sich nicht um andere Menschen kümmern kann. Gerade du solltest so etwas doch verstehen.“

   Ray zupfte einen Grashalm heraus und steckte ihn sich zwischen die Lippen. „Bist du fertig?“

   „Nein. Ich akzeptiere dein bis zum Boden triefendes Selbstmitleid nur, weil ich dich als Menschen respektiere. Zumindest dachte ich das bislang. Aber wenn du nicht bald wieder nach vorne schaust, bekommen wir ein Problem.“

   Ray würdigte Scott keines Blickes. Er starrte einfach weiter in die Ferne. „Jetzt fertig mit deiner Moralpredigt?“

   „Nein. Wir beide teilen uns heute die Wache. Da du ja scheinbar nicht schlafen kannst, übernimmst du die erste Schicht. Weck mich, wenn du müde wirst, dann löse ich dich ab. Und das war keine Predigt, das war eine Anordnung, Captain.“ Mit diesen Worten stapfte Scott zurück zur Tankstelle.

 

Phil und die Kinder waren direkt in einen tiefen Schlaf gefallen. Scott überprüfte nochmals Chris‘ Atmung, konnte aber keine Veränderung feststellen. Er deckte ihn mit einer der Decken aus dem Lagerraum zu. Danach ging er zum Sicherungskasten und schaltete das Licht aus. Es musste ja nicht jeder mitbekommen, dass die Tankstelle hier besetzt war. Dann legte er sich ebenfalls auf den Boden und deckte sich zu.

 

Seine Frau war so wunderschön wie eh und je. Jane lächelte Scott zu, als dieser am Grill stand und die Hamburger zubereitete. Es war ein strahlender Sommertag in Augusta, und sein Sohn Sam spielte mit einem Schmetterling im Garten fangen. Immer wieder schlug der Zitronenfalter solch scharfe Kurven, dass der dreijährige Sam das Gleichgewicht verlor und auf seinem Allerwertesten landete. Scott lachte. „Komm rüber junger Mann, gleich gibt es was auf den Teller!“
   Sein kleiner Junge lief schnurstracks zum Esstisch und nahm dort Platz. Jane stellte Scott eine Flasche eiskaltes Bier auf einen kleinen Stehtisch neben ihm. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf seine stoppelige Wange und zwinkerte ihm zu. Sie trug ihr blaues Sommerkleid und einen albernen Strohhut, den ihr Scott vor kurzem auf dem Markt gekauft hatte.  

   Jane ging zu Sam und versuchte die Latzhose ihres Sohnes grob von Gras und Schmutz zu reinigen. Es wehte eine leichte Brise durch die Wipfel der Pinien, die Scott den herzhaften Geruch gebratener Steaks in die Nase trug. In der Ferne bellte irgendwo laut vernehmlich ein Hund, dem anscheinend dieser Tag auch gefiel. Scott schloss seine Augen und gestattete sich ein Lächeln.

   Es war eigentlich perfekt. Nur… eine Sache stimmte nicht. Irgendetwas an dieser Szenerie konnte so nicht passen. Dann wurde es Scott klar. Das Hundegebell, welches er die ganze Zeit schon im Hintergrund wahrgenommen hatte. Die Gerbers hatten nie einen Hund besessen. Die einzigen Nachbarn mit Hund hielten sich einen Pudel und dessen Gebell klang ganz anders. Scott konzentrierte sich auf das laute und anhaltende Bellen. Es wurde immer stärker und drang Laut für Laut in sein Bewusstsein ein.

   Langsam erwachte Scott. Als er das merkte, versuchte er sich mit aller Kraft dagegen zu wehren. Er wollte diese schöne Erinnerung nicht loslassen. Das Hundegebell wurde immer intensiver. Dann verwischte die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit und Scott schlug die Augen auf. Desorientiert blickte er sich um. In der Dunkelheit sah er rechts neben sich Phil und die Kinder auf dem Boden liegen, Chris lag nach wie vor auf dem Sofa. Von Ray keine Spur.
   Das Hundegebell war real. Watson schien im Hinterhof völlig durchzudrehen. Scott wunderte sich, dass Phil und die Kinder nicht wach wurden. Egal, sollen sie schlafen. Vermutlich war Ray im Hinterhof bei dem Hund und daher kam der Lärm. Trotzdem wollte Scott nachsehen.
   Als er mit seiner Axt in der Hand den Laden durchquerte, fiel sein Blick auf eines der Regale und ihn überkam eine böse Vermutung. Er ging zur Hintertür und wollte sie langsam öffnen, spürte aber einen Widerstand. Gleichzeitig hörte er das mittlerweile vertraute Gurgeln und Stöhnen einer untoten Kreatur. Scott nahm seine Kraft zusammen und schleuderte die Tür nach draußen auf, so dass der Zombie, der hinter der Tür stand, nach hinten umfiel und auf dem Rücken landete. Zu seinem Entsetzen handelte es sich um insgesamt fünf dieser Viecher, die sich im Hinterhof tummelten und zum Teil in Watsons Käfig griffen. Der Rottweiler sprang aufgeregt hin und her und bellte unentwegt. Verdammt, wo ist Ray nur?, dachte Scott.
   Es blieb keine Zeit für weitere Gedanken, da die Zombies ihn mittlerweile bemerkt hatten und sich auf ihn zubewegten. Er musste auf jeden Fall verhindern, dass sie in den Laden gelangten. Mit einem gezielten Tritt in den Nacken brach Scott dem auf dem Boden liegenden Untoten das Genick. Dem zweiten Angreifer trennte er mit einem satten Schwinger der Axt den Kopf ab, der mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufschlug und einige Meter weiter rollte. Der Torso der Kreatur fiel zunächst auf die Knie und dann auf den Bauch. Scott merkte, wie ihn wieder diese unerklärliche Genugtuung überkam, ähnlich wie bei der Schlacht an Chris‘ Ferienhaus. Er arbeitete mit einer Präzision, die ihm selbst unheimlich war.

   Die Untoten Nummer Drei und Vier näherten sich ihm von zwei Seiten. Scott schwang seine Axt mit einer Drehbewegung wie ein rotierender Kreisel um sich herum und erwischte beide Kreaturen auf Hüfthöhe. Dem ersten Zombie glitt sie sauber durch den Körper, dem anderen zertrümmerte sie den linken Hüftknochen. Der letzte Zombie stand nach wie vor an Watsons Käfig und versuchte nach dem Hund zu greifen. Der Untote mit der gebrochenen Hüfte schlurfte auf Scott zu, und auch der andere hatte ihn im Visier. Scott nahm Maß und holte mit der Axt seitlich aus, um sie dem Vieh vor die Schläfe zu dreschen. Er führte den Schlag sauber aus, doch sein zweiter Gegner griff genau in diesem Augenblick in seinen rechten Arm und lenkte den Hieb ab. Statt wie geplant den Schädel zu treffen, schlug Scott der Kreatur durch den Oberarm tief in die Lunge. Die Axt blieb stecken und Scott musste sie loslassen, als der Körper mit der Axt darin zu Boden fiel. Er blickte dem zweiten Angreifer in sein halb verwestes Gesicht, als dieser sich weiter auf ihn zu bewegte. Ob durch Hunger oder Wut waren dessen Gesichtsmuskeln so grotesk verspannt, dass es aussah, als würde er Scott auslachen. Dabei gab er stetig dieses widerliche schmatzende Geräusch von sich. Scott’s Körper straffte sich unwillkürlich. Er merkte wie sich seine Arme anspannten und seine Fäuste ballten. Er ging auf den Zombie zu. Dieser hob die Arme, um nach Scott zu greifen und fauchte seiner geplanten Mahlzeit entgegen. Scott holte mit dem rechten Ellenbogen aus und schlug dem Zombie die Nase damit fast drei Zentimeter in den Schädel. Rückwärts taumelnd landete er im Staub des Innenhofes.

   „Das hast du jetzt von deinem Gegrinse“, flüsterte Scott. Er stellte sich vor den Zombie und fing an auf sein Gesicht einzutreten. Immer wieder trat er mit seinem festen Stiefel in das Gesicht des grotesk lächelnden Untoten. Irgendwann trat er nur noch in einen Brei aus Fleisch, Knochenresten und Hirn. Scott verzog angewidert das Gesicht. Der Zombie mit der Axt im Körper schaute ihm dabei aufmerksam zu, zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Irgendwann tat Scott der Fuß vom Zutreten weh und er erwischte mehr Erde als Gesicht. Er stand auf und zog seine Axt aus dem liegenden Körper, um sie danach mit Wucht in den Schädel zu treiben. Das Monster am Hundekäfig hatte die ganze Zeit nur Augen für Watson. Mit einem kraftvollen Hieb in den Hinterkopf war auch diese Gefahr gebannt.

   „Will mich noch einer von euch Scheißern auslachen?“, ächzte Scott. Langsam entwich das Adrenalin aus seinem Körper. Er atmete tief durch und schaute dann nach Watson.
   Dankbar winselte der Hund Scott an. Scott sah sich um. Es schien, als hätte er alle erwischt. Er konnte jedenfalls keine Untoten mehr sehen oder hören. Er würde Watson nicht weiter hier draußen lassen, beschloss Scott. Er nahm das Abschleppseil neben dem Zwinger und öffnete die Tür. Der Hund sprang direkt an ihm hoch und wedelte mit dem Schwanz. Scott band das Seil an das Halsband und führte Watson ins Innere des Ladens. Dann verknotete er das Seil mit einem Regal und stellte Watson weiteres Fleisch und Wasser hin.

   Er schaute in die Tankstelle, wo die anderen nach wie vor schliefen. Sie hatten von alledem nichts mitbekommen. Scotts Interesse galt allerdings jemandem, der ebenfalls von alledem nichts mitbekommen hatte: Ray. Scott ging nach draußen.