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»Okay, Folgendes konnten wir bisher zusammentragen«, sagte Thornton. »Alvin und Theresa Morgan waren junge amerikanische Missionare, die 1935, unmittelbar nach ihrer Heirat, nach Japan gingen. Aufgrund von unglaublichem Pech ließen sie sich in Nagasaki nieder. Im August 1945 war Theresa im achten Monat schwanger. Sie wurde von der Bombe schwer verletzt. Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun, doch es gelang ihnen, das Kind zu retten. In japanischen Zeitungen wurde es als ›Nagasaki-Wunder‹ bezeichnet. Das Baby war Isabellas Vater, Jacob Morgan.«

»Was für ein höllischer Start«, sagte ich. »Und dann?«

»Er wurde von einem anderen Missionarsehepaar adoptiert und wuchs in Japan auf. Er heiratete eine Nagasaki-Überlebende – eine junge Frau, Tochter einer japanischen Krankenschwester und eines italienischen Arztes – und nahm den Familiennamen seiner Frau an, Arakawa.«

»Dann ist Isabella nur zu einem Viertel asiatischer Abstammung«, sagte ich. Deswegen sah sie, trotz ihrer dunklen, exotischen Schönheit, nicht japanisch aus. »Aber wie ist sie zur Mörderin geworden? Viele Menschen haben durch die Bombenabwürfe Eltern oder Großeltern verloren, ohne zu Mördern zu werden.«

»Isabellas Mutter starb an Knochenkrebs, als Isabella zehn war. Ihr Vater wurde mit Mitte fünfzig auf Prostatakrebs behandelt. Ich bin mir sicher, dass sie die Bombe für den Krebs genauso verantwortlich machte wie für den Tod der Großmutter. Ich nehme an, für jemanden, der das Leiden einer Nagasaki-Familie rächen möchte, war der Mann, der für den Erfolg des Plutoniumreaktors verantwortlich zeichnete, ein logisches Ziel.«

Miranda schüttelte traurig den Kopf. »Drei Generationen Fallout von Nagasaki«, sagte sie. »Gibt den Begriffen ›Muttersubstanz‹ und ›radioaktives Folgeprodukt‹ eine ganz neue, traurige Bedeutung, nicht wahr?« Niemand lächelte über das grimmige Wortspiel. »Aber wenn Isabella ihr japanisches Erbe so viel bedeutet hat, warum hat sie dann ihren Namen von Arakawa – das war der Name auf ihrer Magisterarbeit – zu Morgan geändert?«

»Vermutlich aus zwei Gründen«, sagte Thornton. »Erstens in Erinnerung an ihre Großmutter, die von der Nagasaki-Bombe getötet wurde. Zweitens, damit ihre Verbindung zu ihrem Vater und zu Japan schwerer nachzuvollziehen war, sobald sie den Stein einmal ins Rollen gebracht hatte.«

»Sagen Sie doch noch etwas dazu, welche Rolle ihr Vater bei dem Ganzen gespielt hat«, sagte ich.

Thornton nickte. »Vergessen Sie nicht, Jacob Arakawa hat seine Mutter und seine Frau und womöglich auch seine Prostata durch die Bombe verloren«, sagte er. »Es ist also gut möglich, dass er seine Tochter in Hass aufgezogen hat. Doch das ist reine Spekulation. Was wir jedoch wissen, ist Folgendes: Vor vier Wochen ist er an dem Tag, an dem seine Firma, Pipeline Services, Inc., Konkurs machte, in Rente gegangen. Vor drei Wochen, das wissen wir anhand der Kreditkartentransaktionen an Tankstellen, ist er von New Iberia nach Oak Ridge gefahren. Und gleich am nächsten Tag wieder nach Hause zurückgekehrt.«

»Dann hat er die Fahrt nur gemacht, um das Isotopenarbeitsgerät herzubringen, das er gestohlen hatte«, sagte Emert.

»Sieht ganz so aus«, meinte Thornton. »Kurz nach seiner Rückkehr nach Louisiana tauchte er in der Notaufnahme eines Krankenhauses in New Orleans auf. Vor zwei Tagen, kurz bevor wir ihn eingekreist hatten, starb er an akuter Strahlenkrankheit.«

»Weil er die Iridiumquelle entnommen und angefasst hat«, sagte ich.

»Ganz genau«, sagte Thornton. »Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, wer von beiden sie in die Vitaminkapsel getan hat, die Novak geschluckt hat, oder wie sie die Kapsel in Novaks Pillenfläschchen gekriegt haben. Die Verbrennungen, die Sie an Isabellas Hand gesehen haben, lassen vermuten, dass auch sie sie an irgendeinem Punkt in der Hand hatte – wahrscheinlich länger als Miranda, aber nicht so lange wie Dr. Garcia.« Miranda warf mir einen schmerzlichen Blick zu, und ich wusste, dass sie an Garcias Hände dachte.

 

»Also«, sagte ich zu Emert, »wo ist Isabella jetzt?«

»Keine Ahnung«, antwortete er. »Sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Sie ist nicht in ihrem Haus aufgetaucht und hat auch nicht versucht, ihr Auto abzuholen. Sämtliche Polizisten in Oak Ridge haben sich ihr Gesicht eingeprägt. Wenn sie hier irgendwo auftaucht, schnappen wir sie. Aber ich glaube, sie ist weg. Sie hat gewusst, dass wir ihr auf die Schliche gekommen sind, Doc. Sie war kurz davor abzuhauen, als Sie in der Stadtbücherei aufgekreuzt sind.«

Ich wandte mich an Thornton. »Was ist mit Ihren Leuten? Was machen Sie?«

»Wir haben ihr Bankkonto eingefroren«, sagte er, »wir überwachen ihre Kreditkarten, und ihr Foto hängt an allen internationalen Flughäfen und Grenzübergängen. Wir führen Gespräche mit allen, die mit ihr zusammengearbeitet haben, hier und unten in Tulane, wo sie auf der Uni war. Bis jetzt haben wir nichts. Eine flüchtige Frau und ihr toter Vater. Wenn sie eine Möglichkeit sieht hinzukommen«, fuhr er fort, »will sie vielleicht nach Japan. Ihre ganze Identität scheint sich um Nagasaki zu drehen. In den vergangenen zehn Jahren war sie fünfmal dort. Aber ich wüsste nicht, wie sie im Augenblick außer Landes kommen will.«

Die Erinnerung an ihre Hände und daran, wie sie aufgeschrien hatte, als ich ihr die Waffe entriss, versetzte mir einen Stich.

Miranda rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Ich bringe das nur ungern zur Sprache«, sagte sie, »aber könnte es sein, dass sie noch unter der Erde ist? Immer noch irgendwo im Abwasserkanalsystem?«

»Kommen Sie«, sagte Emert. »Es ist eine Woche her. Sie glauben doch nicht, dass sie sich eine Woche lang da unten versteckt?«

»Nein«, sagte sie leise. »Das ist nicht ganz das, was ich glaube.« Sie warf einen Blick in meine Richtung, sah den Schmerz in meinen Augen und schaute weg.

»Ah«, sagte Emert verlegen. »Also, wir haben noch nicht alle Röhren absuchen können. Einige sind ziemlich eng, und die Leute, die in den Abwasserkanälen arbeiten, scheinen mir alle ziemlich untersetzte Burschen zu sein.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, unterbrach sich jedoch. Auch die anderen schienen es nicht aussprechen zu wollen.

»Vielleicht möchten Sie Roy Ferguson rufen«, sagte ich schließlich. »Und Cherokee.« Bis auf das leise Summen der Leuchtstoffröhren herrschte Schweigen im Raum. Ich starrte auf den Tisch und auf meine Hände, die darauf lagen, die Finger leicht gespreizt. »Wenn in einem Tunnel … Leichengeruch ist …« Ich musste mich unterbrechen, atmete einmal tief durch und dann noch einmal. »Dann fließt der Geruch mit dem Wasser stromabwärts. Der Hund müsste ihn am Ausflussrohr in der Nähe der Stadtbücherei aufnehmen können.« Ich konzentrierte mich auf den rechten Zeigefinger auf dem Tisch und versuchte ihn dazu zu bewegen, sich zu rühren. Der Finger hob sich leicht, trotzdem kam es mir vor, als gehörte er nicht zu mir. »Entschuldigen Sie mich bitte«, flüsterte ich.

Ich verließ den Raum und ging einen düsteren inneren Flur hinunter auf ein Rechteck aus Licht zu – eine Glastür zu der Welt da draußen. In dem Augenblick, da ich die Tür erreichte, hörte ich hinter mir eine Stimme. »Dr. B.?« Ich drehe mich um und sah Miranda auf mich zukommen. Einige Schritte vor mir blieb sie stehen. In dem Licht, das durch die Scheibe hereinfiel, sah ich in ihren Augen so viel Freundlichkeit und Mitgefühl, dass ich überlegte, was ich wohl getan hatte, um das zu verdienen. Vielleicht gar nichts, vielleicht waren sie – wie Gnade oder Erbarmen – unverdient und wurden freizügig gewährt, fielen vom Himmel wie sanfter Regen. Ich wollte etwas sagen, doch sie hielt eine Hand hoch, um mich zum Schweigen zu bringen. »Ich muss Ihnen etwas sagen«, setzte sie an, »und es fällt mir richtig schwer, es auszusprechen, weil ich weiß, dass es Ihnen schwerfallen wird, es anzuhören. Das mit Isabella tut mir leid – ehrlich, aber das ist nicht der schwere Teil, weil Sie Isabella schließlich kaum gekannt haben. Aber Jess haben Sie gekannt, und Jess haben Sie geliebt, und tief in Ihrem Innern sind Sie, glaube ich jedenfalls, noch nicht über Jess’ Tod hinweg. Noch lange nicht. Ich glaube, Sie sind in einem Irrgarten aus Liebe und Trauer gefangen – mehr, als Ihnen bewusst ist –, und Sie kämpfen schwer darum, den Weg hinaus zu finden. Es sind nicht nur meine Fingerspitzen oder Eddies Hände oder die Eingeweide irgendeines alten Wissenschaftlers, die in Fetzen sind, Dr. B., es ist Ihr Herz. Und nicht die Abwasserrohre von Oak Ridge sind der Irrgarten, sondern Ihr Leben.« Mirandas Worte schockierten mich … schockierten mich mit der Wucht reiner, unvermittelter Wahrheit. »Wenn Sie durch Ihre Arbeit aus dem Irrgarten herausfinden, fein«, fuhr sie fort. »Arbeiten Sie, als hinge Ihr Leben davon ab, denn das tut es. Aber wenn Arbeit nicht der Ausweg ist, dann suchen Sie sich stattdessen einen anderen Weg. Reden Sie mit einem Therapeuten, nehmen Sie ein Sabbatjahr, schaffen Sie sich einen Hund an, gehen Sie auf Pilgerreise. Was immer nötig ist, um Sie zu heilen, tun Sie’s. Tun Sie’s für diejenigen von uns, die Sie lieben. Tun Sie’s für Jess. Tun Sie’s für sich selbst.«

Damit legte sie mir eine Hand an die Wange, küsste mich zart auf die andere und ging dann den Flur wieder hinunter und verschwand um die Ecke. Ich wandte mich wieder dem Licht zu, schob die Tür auf und trat hinaus in die kalte Februarsonne.

Eine leichte Brise seufzte durch die Kiefern auf dem Hügel hinter dem Polizeirevier. Zu meiner Linken hielt gerade ein gelber Schulbus vor dem Eingang des American Museum of Science and Energy. Dutzende von Kindern im Alter meiner beiden Enkel drängten aus dem Bus ins Museum mit seinen Schautafeln und Geschichten über die Geheime Stadt und das Manhattan-Projekt. Unter mir zur Rechten – direkt hinter dem kleinen Flüsschen, das aus einer zwei Meter dicken Betonröhre floss – lagen die kastenförmigen Gebäude der Stadthalle und der Stadtbücherei von Oak Ridge.

Direkt vor mir, hinter den Bäumen, lag ein drittes Ziel, und diesem wandte ich mich zu. Da ich mich ihm von oberhalb näherte, war alles, was ich sehen konnte, ein pagodenähnliches Holzdach. Erst als ich durch den Wald hinunterstieg, kam unter dem schützenden Überstand die lange, zylindrische Friedensglocke in Sicht.

Die Brise frischte ein wenig auf, und totes Laub vom letzten Herbst wirbelte um meine Füße. Die meisten Blätter waren braun, doch einige wiesen noch ein wenig Rot und Gold auf.

Und Magenta.

Als ich näher trat, flatterte vom Fuß der Glocke ein ganzer Schwall magentafarbener Blätter auf mich zu. Doch es war kein Laub. Es waren Papierkraniche, winklig und scharf gefalzt. Origami-Kraniche. Hunderte, vielleicht sogar tausend.

Ich langte in meine Tasche, und meine Finger schlossen sich um hartes Silber und weiche Seidenschnur.

Ich nahm das Symbol für Erinnerung aus meiner Tasche und legte es an den Fuß der Glocke in einen wirbelnden Kranichschwarm.