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»Sollen wir anfangen?« Eine rhetorische Frage; während er sie stellte, drückte Dr. Garcia bereits das Skalpell an Leonard Novaks Schädel, doch sie sorgte dafür, dass alle Anwesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Messerspitze richteten. Garcia trug einen blauen OP-Kittel und Maske, einen Plastik-Gesichtsschutz und zwei Paar purpurrote Handschuhe übereinander. Genau wie Miranda, die ihm assistierte beziehungsweise als »Diener« oder als »dienstbarer Geist« zur Seite stand, nicht gerade die Art von Arbeitsplatzbeschreibung, die Miranda sich normalerweise gefallen lassen würde. Manchmal tobte sie ja schon über ihren Titel als »Forschungsassistentin«. Ich trug, genau wie Emert, die volle OP-Montur, der Detective hielt sich allerdings so weit im Hintergrund, dass ihm sicher auch in einem weißen Leinenanzug nichts passiert wäre. »Rufen Sie mich, wenn es etwas gibt, was ich sehen muss«, sagte er. »Bis dahin bleibe ich hier hinten und bemühe mich, das Mittagessen bei mir zu behalten.«
Normalerweise hätte Garcia die Obduktion damit begonnen, dass er einen Y-förmigen Schnitt gemacht hätte, um den Brustkorb und den Bauchraum zu öffnen. Doch Novak hatte auf der linken Schädelseite, hoch oben links an der Stirn, eine Wunde. Sie sah nicht ernst aus – eine ovale Quetschung, rund fünf Zentimeter lang und zweieinhalb Zentimeter breit und eher eine Abschürfung als ein Schnitt –, doch es war die einzig sichtbare Verletzung am ganzen Körper, also kümmerte er sich zuerst darum. Der Körper des alten Mannes, nackt und dünn und aschgrau, sah irgendwie trauriger und verletzlicher aus als die meisten Leichen, mit denen ich es zu tun hatte.
Mit einem raschen Schnitt legte Garcia den Schädel frei, führte das Skalpell von hinter dem linken Ohr oben über den Kopf und wieder hinunter zum rechten Ohr. Dann legte er das Skalpell beiseite, schob die Finger unter den vorderen Lappen der Kopfhaut und zog kräftig daran. Mit einem nassen, reißenden Geräusch löste sich die Kopfhaut von Schädel und Stirn, und Garcia legte den Hautlappen über das Gesicht. Hinter mir hörte ich Emert aufkeuchen und »Gütiger Himmel« flüstern. Wie würde er dann erst auf das reagieren, was er später während der Obduktion noch zu sehen und zu riechen bekam? Garcia schälte die andere Hälfte der Kopfhaut nach hinten und faltete sie wie einen gruseligen Kragen um das Genick, sodass der Schädel jetzt vollständig freilag.
Er musterte den Knochen unter der Prellung und trat dann zurück, um Miranda und mich mit einer Geste aufzufordern, ebenfalls einen genaueren Blick darauf zu werfen. Der Knochen – das Stirnbein, etwa da, wo es auf das Scheitelbein traf- wies keinerlei Beschädigungen auf, nicht einmal den zartesten Hinweis auf Kompression. »Also, ich glaube nicht, dass er durch Einwirkung stumpfer Gewalt gestorben ist«, sagte ich.
»Nein, das glaube ich auch nicht«, sagte Garcia. »Vielleicht hat er sich nur den Kopf angeschlagen, als er gestürzt ist. Es findet sich kein Schorf, also ist es unmittelbar um den Todeszeitpunkt herum passiert. Aber da er im Wasser war, ist es schwer zu sagen, ob es vor dem Tod passiert ist oder hinterher.«
»Wie könnten Sie das sonst sagen?«, fragte Emert. »Ich meine, wenn er nicht im Wasser gewesen wäre?« Er beugte sich ein wenig vor, wenn auch nur um wenige Zentimeter.
»Hätte er noch gelebt, hätte die Wunde geblutet«, sagte Garcia. »Aber nicht, wenn das Herz schon aufgehört hätte zu schlagen, als er fiel.«
»Oder gestoßen wurde«, sagte Miranda.
»Oder gestoßen wurde«, wiederholte Emert. »Aber wenn er Wasser in der Lunge hat, heißt das wirklich, dass er im Pool ertrunken ist?«
»Oder woanders«, fügte Miranda hinzu.
»Nicht unbedingt«, sagte Garcia. »Wasser kann auch nach dem Tod in die Lunge sickern. Oder nach dem Ertrinken von der Lunge absorbiert werden. Glauben Sie bloß nicht alles, was Sie im Fernsehen sehen.«
Emert seufzte, doch ich wusste nicht, ob er seufzte, weil die potenziellen Szenarien immer komplizierter wurden oder weil er Probleme mit dem Anblick des skalpierten Schädels hatte. Sein Blick huschte, wie mir auffiel, immer wieder zu dem abgeschälten Knochen und rasch wieder weg.
Als Nächstes nahm Garcia eine Stryker-Autopsiesäge vom Regal an der Wand. Der Motor der Säge war ungefähr doppelt so groß wie ein Stabmixer. Als er den Motor einschaltete, fing ein fächerförmiges Sägeblatt am Ende des Stabs an zu oszillieren, in so winzigen Bewegungen, dass man sie kaum sehen konnte. Ich musste immer wieder über die Genialität einer solchen Stryker-Säge staunen: Falls Garcia versehentlich mit dem Sägeblatt an seine Hand käme, würde seine Haut nur unter dem Blatt vibrieren, das kitzelte womöglich ein wenig, doch er würde sich nicht verletzen. Wenn er jedoch fest drückte – gegen seinen eigenen Finger oder einen Finger der Leiche –, schnitt das Sägeblatt in Sekunden durch Haut und Knochen.
Garcia senkte das Sägeblatt in der Mitte der Stirn in den Schädel, und zwar sehr langsam, um sicherzugehen, dass er nicht ins Gehirn schnitt. Als das Surren des Motors höher wurde, was ihm verriet, dass das Sägeblatt alle drei Knochenschichten durchschnitten hatte, machte er sich daran, horizontal zu schneiden, direkt über dem linken oberen Augenhöhlenrand, über die linke Schläfe und weiter bis zur Rückseite des Schädels. Sobald er fast dort angelangt war, zog er die Sägekante wieder zur Stirn und machte auf der anderen Seite des Schädels spiegelbildlich denselben Schnitt, sodass das Schädeldach – die Kalvarie – nur hinten noch durch eine zwei Zentimeter breite Knochenbrücke mit dem unteren Teil des Schädels verbunden war. Dann schnitt er diese Brücke mit zwei geschickten Schnitten zu einer V-förmigen Nase.
Ich hörte, wie Emert Miranda flüsternd fragte: »Warum macht er das?«
»Weil es so elegant ist«, antwortete Miranda. »Und weil es verhindert, dass das Schädeldach herumrutscht, wenn er die Stücke wieder zusammensetzt. Hilft, das Ganze zusammenzuhalten, das macht sich besonders gut, wenn es eine Beerdigung mit offenem Sarg gibt.«
»Ah«, sagte Emert. »Gute Idee.« Seine Bemerkung klang beiläufig, doch sein Tonfall war gezwungen.
Mit einer Hand packte Garcia das Gesicht der Leiche, umklammerte mit den Fingern die Jochbögen der Wangenknochen, und mit der anderen packte er die Kalvarie und zog daran. Als das Schädeldach sich löste, hörte ich ein nasses Schmatzen vom Sektionstisch und ein entsetztes Aufkeuchen aus Detective Emerts Richtung.
Garcia machte einige Schnitte mit dem Skalpell, um das Rückenmark und einige Membrane zu durchtrennen, dann holte er behutsam das Gehirn aus dem Schädel. Es überraschte mich immer, mit anzusehen, wie viel leichter sich so ein Gehirn abtrennen ließ als, sagen wir, ein Oberschenkelknochen oder eine Rippe, bei denen doch einige resolute Schnitte und viel Gezerre erforderlich waren. Nachdem er es auf der Fleischwaage, mit der die Organe gewogen wurden, gewogen hatte – die Waagschale neigte sich bei 1.773 Gramm –, legte er es auf ein Tablett und nickte Miranda zu. Miranda knotete eine Schnur um das Rückenmarkfitzelchen, das herunterhing, und hängte das Gehirn kopfüber in ein großes Glas mit Formalin, eine wässrige Formaldehydlösung. Wenn das Gehirn in dieser Lösung zwei Wochen marinierte, »präparierte« das Formalin das Gehirn, es konservierte und härtete das Gewebe. Garcia erklärte, Novaks Gehirn weise äußerlich keine Anomalitäten auf, doch aus dem wenigen, was ich über die Arbeit des Wissenschaftlers gehört hatte, schloss ich, dass sein Gehirn durchaus außergewöhnlich gewesen sein musste, zumindest während seines Berufslebens.
Als Garcia wieder zum Skalpell griff, um den Y-förmigen Schnitt zu machen, mit dem er Brustkorb und Bauchhöhle öffnen würde, drehte ich mich zu Emert um. »Geht es Ihnen gut? Sind Sie bereit?«
»Bereit«, sagte er, doch es klang nicht so, als meinte er es ernst. Als Garcia mit dem Rippenspreizer die Rippen vom Brustbein trennte, hörte ich den Detective bei jedem Knirschen leise stöhnen. Als Garcia die Bauchhöhle aufschnitt und sich an die Darmexenteration machte, wie Rechtsmediziner das nennen, nahm die Sache eine interessante Wendung. Genauer gesagt, zwei.
Darmexenteration bedeutet, die Eingeweide herauszunehmen, um sie dann zu zergliedern und aufzuschneiden, um den Inhalt und die Auskleidung zu untersuchen. Ich hatte Garcia von dem Durchfall berichtet, und er hatte nur genickt, doch ich wusste, dass er dem Verdauungstrakt besondere Aufmerksamkeit widmen würde. Wer sich je übergeben hat oder Durchfall hatte, weiß, dass der Inhalt des Verdauungstrakts nicht der appetitlichste Teil des menschlichen Körpers ist. Die verwesten Leichen auf der Body Farm rochen ja in der Regel ziemlich schlecht, besonders in der Sommerhitze, doch im Vergleich zu dem, was aufstieg, wenn ein Rechtsmediziner sich an die Untersuchung der Därme machte, waren sie absolut wohlriechend.
Doch bei Novaks Darm war das anders. Sobald Garcia den Darm gefiedelt hatte, um Dünn- und Dickdarm als Ganzes zu entnehmen, fing dieser an, in Garcias Händen zu lecken. Als Erstes breitete sich der Gestank nach Erbrochenem und Magensaft aus, der aus dem noch in der Bauchhöhle befindlichen Magen sickerte. Ich habe keinen besonders gut entwickelten Geruchssinn, was bei meinem Beruf wahrlich ein Glück ist, doch der Gestank des Mageninhalts war selbst für mich schwer zu ertragen. Dann rissen die Därme in Garcias Händen auseinander, und der Gestank nach Erbrochenem wurde von Fäkaliengestank überlagert. Doch da war noch eine Geruchsnote, die ich als Verwesungsgestank erkannte. Leonard Novak, erkannte ich, war von innen nach außen gestorben. »Jesus, Maria, José«, flüsterte Garcia auf Spanisch mit mehr Akzent, als ich je aus seinem Mund vernommen hatte. »Miranda, helfen Sie mir hier bitte mal.« Miranda eilte an seine Seite, und zusammen – mit vier hohlen Händen, die die Därme hielten – senkten sie die Därme des Toten ins Waschbecken.
Der Anblick und der Gestank reichten aus, um selbst den stoischsten Menschen umzuhauen.
Und Detective Emert war nicht besonders stoisch. Dicht hinter meiner Schulter hörte ich ein Stöhnen und ein Würgen. Gefolgt – mit unglücklicher und unausweichlicher Schnelligkeit – von einem Gurgeln und dem Klatschen von Erbrochenem, das sich über meine rechte Schulter und meinen Arm ergoss.
»Vielen Dank«, sagte Miranda. »Für meinen Geschmack war es hier fast schon ein wenig zu angenehm.«
Ich half Emert aus dem Raum, wischte seine Sauerei auf und suchte mir eine saubere Garnitur OP-Kleidung. Als ich in den Sektionssaal zurückkehrte, beugte sich Garcia verwirrt über die Eingeweide und stocherte mit Schere und Zange darin herum. »Hmm«, sagte er in regelmäßigen Abständen. Nach einem halben Dutzend »Hmms« dachte ich, es könnte nicht schaden, ihn zu fragen, was er damit meinte.
Also fragte ich: »Was meinen Sie mit ›hmm‹?«
»Im Darm sind sehr viel Blut und Nekrosen«, sagte er. Ich nickte. Nekrosen – totes Gewebe – passte zu dem Verwesungsgeruch, der mir aufgefallen war. »Auch im Magen ist einiges, aber bei weitem nicht so viel wie in den Därmen. Fast, als wären die Eingeweide verbrannt.«
»Wie? Gift? Säure?«
Garcia schüttelte den Kopf und studierte das Innere einer Darmschlinge. »Wir haben hier Folgendes«, erklärte er. »Während Sie draußen waren, habe ich mir Mund und Speiseröhre angesehen. Beides völlig unauffällig. Wenn der Kerl so viel Säure geschluckt hätte, dass diese so etwas hier hätte anrichten können, wären auch Mund und Speiseröhre in Mitleidenschaft gezogen worden.«
Dann sagte er noch einmal »Hmm«, diesmal mit tieferer Stimme – mehr im Tonfall von »aha« als von »Was zum Teufel?«.
»Haben Sie etwas gefunden?« kam Miranda mir mit ihrer Frage zuvor.
»Vielleicht«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher.« Mit der Zange holte er etwas aus dem Waschbecken und legte es in die behandschuhte Handfläche seiner linken Hand. Er legte die Zange zur Seite und rollte das kleine Objekt mit dem rechten Zeigefinger herum, dann hob er es hoch und betrachtete es genauer. Es war klein und zylindrisch, etwa sechs Millimeter lang und drei Millimeter im Durchmesser, an einem Ende abgerundet, am anderen eher abgeflacht. Es hatte etwa die Größe einer getrockneten Bohne oder – ein Vergleich, der mir näherlag – einer Made, die vor vier oder fünf Tagen aus dem Ei einer Schmeißfliege geschlüpft war. Ich glaubte, stumpfes Metall aufschimmern zu sehen, als Garcia die Oberfläche sauber rieb.
»Miranda, haben Sie die Leiche geröntgt, bevor Sie ihr die Kleider ausgezogen haben?«
»Ja«, sagte sie, »aber entweder ist der Röntgenapparat im Eimer, oder wir haben eine Partie schlechter Filme bekommen. Die Bilder sind alle verschleiert.«
Mein Hirn arbeitete auf Hochtouren. »Eddie, legen Sie das weg und treten Sie zurück«, sagte ich. »Alle zurücktreten.«
Garcia schaute zu mir auf, verdutzt, erstarrt, das kleine Pellet noch zwischen Daumen und Zeigefinger. Seine Hand war höchstens dreißig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt und von Mirandas Gesicht auch nicht viel weiter. In Mirandas Augen sah ich die Erkenntnis dämmern, und hinter der OP-Maske sah ich den ovalen Umriss ihres offenen Mundes, als sie nach Luft schnappte. Bevor ich sie daran hindern konnte, streckte Miranda die Hand aus, nahm Garcia das Pellet aus der Hand und warf es in das Edelstahlwaschbecken. Dann trat sie vom Arbeitstisch zurück und zog Garcia mit sich. Sie zerrte so lange an ihm, bis wir den Sektionssaal verlassen hatten und im Flur waren, wo ein aschfahler Jim Emert auf einem metallenen Klappstuhl saß. Emert stand auf und sah in unsere Gesichter. Was er dort sah, veranlasste ihn dazu, sich umzudrehen und in den Sektionssaal zu blicken. Während sich die Stahltür schloss, starrten wir vier weiterhin auf das Waschbecken, als lauerte darin etwas Unheilvolles. Ein Monster. Eine Bombe. Ein radioaktives Bröckchen, so stark, dass es unsere Röntgenfilme zerstört hatte. Radioaktivität, so tödlich, dass sie in den Stunden oder Tagen, die dieses winzige Pellet gebraucht hatte, um durch seinen Magen und seine Eingeweide zu wandern, Leonard Novaks innere Organe verbrannt und ihn getötet hatte.