5
Sobald Miranda Eddie Garcia das kleine Metallpellet aus der Hand gerissen und in das Waschbecken geworfen hatte, waren sie, Garcia und ich aus dem Sektionssaal geeilt und hatten im Flur eine kurze Krisenkonferenz abgehal ten. Detective Emert, der vor Übelkeit immer noch aschfahl war im Gesicht, wurde noch eine Spur bleicher, als er uns über Radioaktivität und die Evakuierung des Krankenhauses diskutieren hörte.
Einerseits waren wir uns nicht sicher, ob das Pellet wirklich radioaktiv war, also wollten wir auch nicht unnötig Alarm schlagen. Andererseits wollten wir nicht Menschen in Gefahr bringen, und das Risiko schien zu bestehen, falls Novak tatsächlich an einer radioaktiven Vergiftung gestorben war.
Ich hatte weder das Pellet noch die Leiche berührt, zumindest nicht, nachdem die Obduktion begonnen hatte, also schien das Risiko der Kontamination bei mir geringer als bei Miranda oder Garcia. Ich ging zu einem Wandtelefon im Flur, nahm den Hörer und wählte die Nummer von Lynette Wilkins, der Empfangsdame an der Rezeption des Leichenschauhauses. »Lynette«, sagte ich so ruhig wie möglich, »hier ist Dr. Brockton. Ich bin zusammen mit Dr. Garcia und Miranda Lovelady und einem Polizeibeamten der Polizei von Oak Ridge im Flur vor dem Sektionssaal. Könnten Sie bitte alle Mitarbeiter des rechtsmedizinischen Instituts zusammentrommeln und mit ihnen zur Vordertür hinaus in den Keller des Krankenhauses gehen?«
»O Gott«, sagte sie. »Ist da hinten ein Spinner mit einer Waffe? Sie müssen nur ›Ja‹ sagen, dann rufe ich eine Spezialeinheit.«
»Nein, nein«, sagte ich, »nichts dergleichen. Die einzigen Verrückten hier hinten sind wir. Wir haben womöglich eine kontaminierte Leiche, und wir möchten sichergehen, dass wir niemanden sonst einer Verseuchung aussetzen.«
»Soll ich das Sonderabfall-Team vom Krankenhaus rufen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir es mit gefährlichen Stoffen zu tun haben«, sagte ich. »Miranda macht gerade einen Anruf, der uns helfen müsste dahinterzukommen. Sorgen Sie nur dafür, dass alle ruhig hinausgehen, ja?«
»Selbstverständlich, Dr. B.«
»Und, Lynette?«
»Ja?«
»Schließen Sie die Tür hinter sich ab. Und hängen Sie ein BETRETEN VERBOTEN-Schild auf.«
»Allmächtiger Gott. Seien Sie bloß vorsichtig.«
Miranda hatte Hank angerufen, den Strahlenschutzexperten, der zum DMORT-Team gehörte. Hank war auf dem Rückweg von Oak Ridge, aber er würde noch mindestens dreißig oder vierzig Minuten brauchen, bis er da war. Inzwischen, schlug er ihr vor, solle sie doch Duane Johnson anrufen. »Natürlich«, sagte Garcia, als sie uns von diesem Vorschlag erzählte. »Wenn ich nicht so nervös wäre, hätte ich gleich an Duane gedacht.«
»Wer ist Duane?«, fragte ich.
»Der Strahlenschutzbeauftragte des Krankenhauses«, sagte Garcia. »Das, was man auf der Medizinischen Fakultät Medizinphysiker nennt, glaube ich. Er bildet Assistenzärzte in der Abteilung für Nuklearmedizin aus. Er hat den Überblick über alle Radioisotope im Krankenhaus, und er unterrichtet Notärzte und Sanitäter darin, wie sie vorgehen sollen, wenn es einen Nuklearunfall oder einen atomaren Terroranschlag gibt. Sein Büro ist im Erdgeschoss, praktisch direkt über uns, und er hat alle möglichen Gerätschaften und eine Sicherheitsausrüstung.«
Dreißig Sekunden später sprach Garcia am Telefon mit Johnson und beschrieb ihm das kleine Metallpellet, das er gefunden hatte, und das zerfetzte Darmgewebe, das zu seiner Entdeckung geführt hatte. Drei Minuten nach dem Anruf hörten wir am hinteren Ende des Flurs ein Klappern, und dann erschien Johnson. Er zog ein Rollregal hinter sich her, das siebzig bis achtzig Zentimeter im Quadrat maß und fast zwei Meter hoch war. Eine Seite war mit einem geriffelten blauen Rollrollo versehen, das an die riesigen Rollläden vor Großstadtläden oder an ein altes Rollpult erinnerte. »Ihre Empfangsdame wollte mich nicht reinlassen«, sagte er zu Garcia. »Ich musste ihr in ziemlich derben Worten klarmachen, dass es in Ihrer aller Interesse ist, wenn sie mir die Tür aufschließt, damit ich herausfinden kann, was hier los ist.« Er schob das Rollo hoch, und dahinter kamen Fächer mit Einwegoveralls, Reinigungsmitteln, Plastiktüten und elektronischen Instrumenten zum Vorschein.
Johnson kramte in einem Kasten am Boden des Rollregals herum und holte einen Geigerzähler heraus, der genauso aussah wie der, den Hank bei der DMORT-Übung benutzt hatte. Ich hörte das langsame, summende Klicken – wie eine tickende Uhr oder ein Dieselmotor im Leerlauf –, das, wie ich inzwischen wusste, normale Umgebungsstrahlung anzeigte. Er hielt den Stab in Garcias Richtung. »Strecken Sie bitte mal die Hände aus«, sagte er, und als Garcia seiner Aufforderung nachkam, fuhr Hank mit dem Stab über Innen- und Außenseite. Das Instrument tickte im selben langsamen, beruhigenden Rhythmus weiter. Als Nächstes fuhr er mit dem Stab von Kopf bis Fuß über Garcias Körper, mit demselben gleichmäßigen, ruhigen Ergebnis, und dann über Miranda, Emert und mich. Ich merkte, dass ich mich allmählich ein wenig entspannte, und als Duane sagte: »Also, niemand von Ihnen ist kontaminiert«, entspannte ich mich noch mehr.
Dann trat er um die Ecke und öffnete die Tür des Sektionssaals, und plötzlich war die Hölle los. Der Geigerzähler schraubte sich zu einem grellen, unaufhörlichen Summen hoch, und an Duanes Hüfte begann ein kleines Gerät zu kreischen, das aussah wie ein Piepser. »Himmel, Arsch und Zwirn«, sagte Duane und machte rasch einen Rückzieher. Beide Instrumente beruhigten sich, sobald er von der Tür weg war, doch mein Herz und meine Nerven, die synchron mit den Messgeräten hochgejagt waren, rasten noch auf Hochtouren. »Da drin ist etwas, das so heiß ist wie ein Vulkan«, sagte er. Er wirkte erschüttert, und das trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich wieder beruhigte.
Ich sorgte mich ein wenig um meine persönliche Sicherheit, doch weit mehr um Garcia und Emert und besonders Miranda. Sie war eine junge Frau im gebärfähigen Alter, und wenn das Risiko radioaktiver Verseuchung bestand, war sie potenziell am meisten gefährdet. Außerdem war sie meine Studentin, und ich fühlte mich für ihre Sicherheit verantwortlich. »Duane«, sagte ich, »müssen wir hier raus? Und müssen wir das Krankenhaus evakuieren, oder zumindest einen Teil davon?«
»Hier passiert uns nichts«, sagte Duane und schaute, während er das sagte, auf sein Messinstrument. »Die Wände sind aus Beton, und hier unten im Keller sind sie ziemlich dick, sie bieten also guten Schutz. Ich würde gern herausfinden, was für eine Strahlung das ist und wie heiß sie ist, bevor wir zu so drastischen Mitteln wie der Evakuierung von Patienten greifen. Wenn man Kranke hin und her schafft, kann das ihren Zustand dramatisch verschlechtern. Aber als Erstes will ich mich davon überzeugen, dass die Station über uns nicht in Gefahr ist. Wo ist das nächste Telefon?« Garcia zeigte auf die Wand hinter Johnson, und Johnson wählte eine fünfstellige Nebenanschlussnummer. »Hi, hier ist Duane«, sagte er. »Hören Sie, ich habe eine seltsame Frage. Ich bin im Augenblick gerade eine Etage unter Ihnen. Könnten Sie mit einem Strahlungsmessgerät da oben die Büros und Labore überprüfen, um sicherzugehen, dass nichts durch den Fußboden dringt?« Ich hörte leise Fragen aus dem Hörer dringen. »Im Leichenschauhaus«, sagte Duane. »Ich bin hier unten im Leichenschauhaus.« Ich hörte weitere leise Fragen. »Hören Sie, tun Sie einfach, worum ich Sie bitte, ja? Und zwar jetzt gleich? Und sollte Ihr Dosimeter nicht eingeschaltet sein, dann schalten Sie es ein, bevor Sie irgendetwas anderes tun.« Ich sah Ungeduld in seiner Miene aufscheinen, und er unterbrach sich so lange, dass ich das Drängen in der Stimme seines Gesprächspartners hörte. »Wir haben hier unten womöglich einen Vorfall«, meinte der Arzt, »und ich habe jetzt keine Zeit zu reden. Überprüfen Sie die ganze Abteilung und scheuchen Sie die Leute raus, wenn es sein muss. Und falls Sie irgendetwas sehen, weswegen man sich Sorgen machen muss, piepsen Sie mich an. Ich rufe Sie in ein paar Minuten wieder an, aber jetzt muss ich.« Er legte auf und wandte sich zu uns um. »Wir sind direkt unter dem Zyklotronraum«, sagte er, »wo wir Radiopharmaka für PET-Scans herstellen. Der Fußboden ist wirklich dick, in dem Bereich halten sich keine Patienten auf, und das Personal weiß, wie man sich vergewissert, dass es da oben sicher ist.« Er linste um die Ecke des Flurs. Dahinter lag die Tür zum Leichenschauhaus, in dem die Gefahr lauerte. Er holte tief Luft. »Okay, schauen wir, womit wir es hier zu tun haben.«
Er ging zurück zu seinem Rollregal und holte ein abgepacktes Kleidungsstück heraus. Als er es auseinanderfaltete, sah ich, dass es ein Schutzanzug war, wie das DMORT-Team sie getragen hatte. Das DMORT-Team nannte die Dinger Mondanzüge, doch Duane bezeichnete ihn als »Häschenkostüm«, denn mit den eingebauten Stiefeln und Handschuhen und der Kapuze sah es aus wie ein Osterhasenkostüm, natürlich ohne die Ohren. Angesichts von Johnsons besorgter Miene war »Häschenkostüm« jedoch ein seltsam unschuldiger Spitzname. Sobald er alle Reißverschlüsse geschlossen hatte, nahm Johnson ein rotgelbes Instrument aus dem Kasten in dem Rollregal und schaltete es ein. Dieses Gerät ähnelte dem Geigerzähler- kastenförmig und ungefähr halb so groß wie eine Autobatterie, mit einem Stab an einer biegsamen Schnur –, doch statt einer Skala mit einer Nadel hatte dieses ein digitales Display. »Und was ist das?«, fragte Miranda. »Der funkelnagelneue, voll ausgestattete Geigerzähler Deluxe 2009?«
»So in der Art«, versetzte er. »Es ist eine Ionisationskammer. Bei einem Geiger-Müller-Indikator bekommt man eine Ja-oder-Nein-Antwort, er zeigt an, ob es erhöhte Radioaktivität gibt oder nicht, aber sehr viel mehr kann er auch schon nicht. Der hier kann anzeigen, ob es sich um Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung handelt, und er misst akkurat die Wellenlänge und die Strahlungsintensität.«
»Klingt nach einem klasse Ding«, sagte sie. »Warum nimmt man nicht gleich so eins?«
»Die Dinger kosten ungefähr viermal so viel«, erwiderte er. »Und normalerweise reicht ein Geiger-Müller-Indikator vollkommen aus, denn normalerweise verrät er einem, dass da nicht mehr ist als normale Umgebungsstrahlung.«
»Aber nicht immer«, bemerkte Emert, der aussah wie ein verängstigtes Reh im Licht eines Autoscheinwerfers, seit er sich im Leichenschauhaus übergeben hatte.
»Nein, nicht immer«, räumte Johnson ein. Er überprüfte das Display der Ionisationskammer und schien zufrieden mit dem, was er dort sah, reichte das Instrument kurz Emert und kramte noch einmal in dem Rollregal herum. Zuerst holte er zwei nach Spielzeug aussehende Plastikringe heraus, die er sich über den Zeigefinger schob. »Fingerringdosimeter«, erklärte er und zeigte uns ein kleines quadratisches Stück Metallfolie im breitesten Teil des Rings, wo bei echtem Schmuck ein Edelstein gesessen hätte. Er drehte beide Ringe so, dass die Sonde zur Innenseite der Hand zeigte. »Um zu messen, wie viel Strahlung meine Hand ausgesetzt wird.« Dann holte er eine Bleischürze heraus, wie Patienten sie bei Röntgenaufnahmen anlegen müssen, und zog sie an. »Die Körpermitte ist durch Strahlung verletzlicher als Arme und Beine«, sagte er. »Besonders der Verdauungstrakt und das Knochenmark.«
Er nahm Emert die Ionisationskammer wieder ab und ging um die Ecke. Ich sah, wie er die Tür zum Leichenschauhaus öffnete und den Stab in die Öffnung steckte. Er stieß ein leises Pfeifen aus, als das Kästchen mit dem Display, das er an seinen Gürtel geklemmt hatte, wieder anfing zu kreischen, dann eilte er zurück um die Ecke und kam wieder zu uns. Er betrachtete unsere besorgten Gesichter. »Es gibt eine gute Nachricht und eine schlechte«, sagte er. »Die gute Nachricht ist die: Die Anzeige an meinem Gerät und das, was Sie mir von Ihrem Fund in der Leiche geschildert haben, bestätigen, dass es nichts ist, was kontaminiert.«
Niemand schien die nächste logische Frage stellen zu wollen, also tat ich es. »Und die schlechte Nachricht?«
»Die schlechte Nachricht ist die, dass die Quelle, was auch immer es ist, heftig strahlt. Ich muss es der TEMA melden, der bundesstaatlichen Katastrophenschutzbehörde, und die Mediziner in Oak Ridge anrufen. Sie sind die weltweit führenden Experten für die Behandlung von Strahlenexposition.«
»Also«, sagte Miranda, »kurz bevor Sie kamen, habe ich mit Hank Strickland gesprochen, einem Strahlenschutzexperten bei REAC/TS, den ich kenne. Er ist auf dem Weg hierher.«
Johnson wirkte verdutzt, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff. »Während ich die TEMA anrufe, sollten Sie noch einmal Kontakt mit Hank aufnehmen. Sagen Sie ihm, wir haben es mit einer starken Gammastrahlungsquelle zu tun. Fragen Sie ihn, ob einer ihrer Notärzte sich mit Ihnen oben in der Notaufnahme treffen könnte.« Ich sah die Besorgnis in den Gesichtern von Miranda, Garcia und Emert, und wenn sie mich anschauten, sahen sie in meiner Miene gewiss dasselbe. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Johnson. »Triage. Wir müssen wissen, wie hoch die Dosis war, die Sie abbekommen haben, und dazu müssen wir anfangen, Blut- und Urinproben zu nehmen.«
Genau in diesem Augenblick stöhnte Eddie Garcia vor Schmerz, beugte sich vor und übergab sich. Von der DMORT-Übung vor kurzem wusste ich, dass Übergeben eines der Symptome für Strahlenkrankheit war. Und je eher ein Opfer nach der Strahlenexposition anfing, sich zu übergeben, desto schlimmer war sein Zustand.
Auch Miranda wusste das. Das Handy zitterte in ihren Händen, und sie hatte Mühe, die Wahlwiederholungstaste zu treffen.
Nach einigen schnellen Überschlagsrechnungen schätzte Duane Johnson, dass das radioaktive Pellet aus Novaks Darm eine Strahlungsintensität von um die hundert Curie hatte, und es sandte reine Gammastrahlung aus, eine besonders durchdringende Form von Strahlung. »Wie panzerbrechende Röntgenstrahlen«, sagte Miranda, und Johnson nickte grimmig. Der Vergleich war anschaulich, doch er war alles andere als beruhigend.
Hank kam just in dem Augenblick, da Miranda, Garcia, Emert und ich nach oben in die Notaufnahme gehen wollten. Er erbot sich, Johnson zu helfen, die Strahlungsquelle zu bergen und abzuschirmen. Dr. Chris Sorensen, ein auf Strahlenunfälle spezialisierter Notarzt, war ebenfalls von Oak Ridge unterwegs zu uns, sagte Hank, und würde in der Notaufnahme zu uns stoßen. Inzwischen telefonierte Dr. Sorensen mit Dr. Al Davies, einem Notarzt der University of Tennessee, den Johnson angepiepst, kurz in Kenntnis gesetzt und gebeten hatte, sich mit uns in der Notaufnahme zu treffen.
Niemals in der Geschichte der Notaufnahme des Universitätskrankenhauses wurden vier Menschen so schnell durchgeschleust wie wir. Dr. Davies schob uns in einen Behandlungsraum und teilte jedem von uns eine Krankenschwester zu. Im Nu hatten wir alle vier einen Stauschlauch um den Oberarm, und die Schwestern machten sich daran, uns Blut abzunehmen.
Drei von uns wurden fast gleichzeitig gestochen, und das Blut schoss dick und dunkel in eine Reihe von fünf Röhrchen. Garcias Venen blieben unberührt. Er hielt sich mit dem rechten Arm den Bauch, und sein Gesicht war angespannt vor Schmerz. Seine Krankenschwester, eine untersetzte, ergraute Frau von etwa Mitte fünfzig, trat einen Schritt zurück. Dr. Davies eilte zu ihr. »Gibt es ein Problem, Schwester?«
»Ich …« Die Stimme versagte ihr. »Ich habe gehört, es ist etwas Radioaktives. Stimmt das?«
»Wir sind uns nicht sicher, aber wir halten es für möglich, ja«, sagte Davies. »Deswegen brauchen wir Blutproben, um zu sehen, wie hoch die Strahlenbelastung ist.«
»Mir ist nicht wohl dabei«, sagte sie. »Ich habe Angst. Ich möchte nicht kontaminiert werden.«
»Oh, um Gottes willen«, fuhr der Arzt auf. Doch als er die Panik in ihren Augen sah, wurde sein Tonfall sanfter. »Das ist nichts Übertragbares«, sagte er. »Nicht wie bei einem Virus oder einer Chemikalie. Es ist eher wie ein Sonnenbrand, obwohl man noch nichts sieht. Sie können sich bei ihm genauso wenig anstecken, wie Sie sich an einem Sonnenbrand anstecken können.« Er legte Garcia eine Hand auf die Schulter und ließ sie dort liegen, um ihr zu zeigen, dass sie sich nicht zu fürchten brauchte. »Ich würde ihm ja selbst Blut abnehmen, aber es ist zwanzig Jahre her, dass ich es das letzte Mal gemacht habe, und es wäre grausam und unmenschlich, Dr. Garcia meinen eingerosteten Künsten auszusetzen.« Sie zögerte immer noch und rührte sich nicht, bis auf den Kopf, den sie vehement schüttelte: Nein.
Gerade als Davies sich zu seiner autoritärsten Arztpose aufblähte, trat meine Krankenschwester, eine junge Frau, die meine Blutabnahmeröhrchen unaufgeregt und effizient gefüllt hatte, vor und nahm der zögernden Kollegin die Spritze aus der Hand. »Schon gut«, sagte sie. »Ich mach’s.« Mit dem Zeigefinger tippte sie Garcias Armbeuge an, damit die Vene sich zeigte, und stach die Nadel hinein.
Garcia hob den Kopf und musterte ihr Gesicht. »Wie heißen Sie?« Seine Stimme klang dünn und gezwungen.
»Darcy«, sagte sie. »Darcy Bonnett.«
»Vielen Dank, Darcy.«
»Gern geschehen«, erwiderte sie, und als sie fertig war, drückte sie kurz Garcias Hand.
Nachdem man uns also Blut abgenommen hatte, wurden wir mit Plastikbechern auf die Toilette geschickt. Als ich mit dem warmen Becher in der Hand wieder herauskam, sah ich einen großen, sonnengebräunten, grauhaarigen Mann in Zivilkleidung – Khakihose, blaues Hemd und rote Krawatte – im Gespräch mit Dr. Davies. Er stellte sich als Chris Sorensen vor, Arzt für Strahlenmedizin von REAC/TS. Nachdem Miranda, Garcia und Emert aus den anderen Toiletten gekommen waren und ihren Urin abgegeben hatten, versammelten wir uns alle instinktiv um Davies und Sorensen. »Ich habe mich von Hank gerade auf den neuesten Stand bringen lassen«, sagte Sorensen. »Er und Duane Johnson glauben, sie können die Strahlungsquelle bergen und in einen Schutzbehälter tun. Die gute Nachricht ist also, dass sie bald sichergestellt sein wird.«
»Ich wette, Sie erzählen uns gleich auch die schlechte Nachricht«, versetzte ich.
»Die ist nicht besonders toll«, sagte er. »Es ist eine Gammastrahlungsquelle, so viel ist sicher. Zum Glück scheint es eine verschlossene Punktquelle zu sein, dieses kleine Pellet, das aus Dr. Novaks Eingeweiden stammt. Gammastrahlungsquellen verbreiten keine Kontamination, sie strahlen nur. Wie Licht aus einer Glühbirne im Gegensatz zu Wasser aus einem Gartenschlauch.« Das klang, als entstammte es einem Vortrag an der Highschool, den er schon oft gehalten hatte. »Doch diese Strahlungsquelle ist Iridium-192, das sehr intensiv strahlt.«
»Sie meinen gefährlich«, sagte Miranda.
Er zögerte, doch nur kurz. »Ja«, bestätigte er, »gefährlich. Diejenigen von Ihnen, die das Pellet angefasst haben …«, er richtete den Blick direkt auf Garcia und Miranda, was mir verriet, dass Hank ihn in Kenntnis gesetzt hatte, »… werden womöglich Verbrennungen an den Händen erleiden. Meine andere Sorge ist, wie viel Ganzkörperexposition Sie alle abbekommen haben. Wir müssen herausfinden, ob sie ausreicht, um Ihr Knochenmark oder die Auskleidung Ihrer Eingeweide zu schädigen. Wir müssen nach zwölf und nach vierundzwanzig Stunden noch einmal ein Großes Blutbild machen, um zu sehen, ob die Zahl Ihrer Lymphozyten zurückgeht.«
»Verzeihen Sie, Doktor«, sagte Emert. »Die Zahl unserer was?«
»Lymphozyten«, sagte er. »Sie gehören zu den weißen Blutkörperchen. Wenn ihre Zahl merklich sinkt, bedeutet das, dass die Stammzellen in Ihrem Knochenmark schwer getroffen wurden. Es bedeutet auch, dass Sie anfällig sind für Infektionen.«
»Eine Art strahleninduziertes Aids«, fügte Miranda hinzu. Allmählich wünschte ich mir, sie besäße keine so ausgeprägte Vorliebe für grausige Analogien.
»Gewissermaßen«, stimmte Sorensen ihr zu. »Veränderungen der Lymphozytenzahl zu beobachten ist eine Möglichkeit, uns ein Bild davon zu machen, welcher Strahlendosis Sie ausgesetzt waren. Eine zweite liegt in der Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs des Vorfalls. Ich möchte Sie also alle bitten, gut nachzudenken und mir möglichst exakt zu sagen, wie viel Zeit Sie in der Nähe von Dr. Novaks Leiche verbracht haben, insbesondere, wie nah Sie dem Bauchraum waren, wo sich die Strahlungsquelle befand, zum Beispiel dreißig Minuten lang in einem Abstand von einem Meter und eine Stunde lang im Abstand von drei Metern. Der zeitliche Ablauf und die Blutwerte zusammen geben uns eine ziemlich genaue Vorstellung von der Strahlungsdosis, die jeder von Ihnen abbekommen hat.«
»Sie haben von Verbrennungen gesprochen«, sagte ich, »aber ihre Hände sehen doch gut aus.« Wie aufs Stichwort streckten Miranda und Garcia die Hände aus.
Sorensen und Davies schüttelten den Kopf. »Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, meinte Davies. »Normalerweise zeigt sich die Rötung frühestens am nächsten Tag. Gelegentlich ist so etwas auch bei Patienten zu beobachten, die sich einer Strahlentherapie unterziehen. Rötung. Es kann auch zu Juckreiz, Anschwellen der Hände oder Taubheit in den Händen kommen. Die Rötung erreicht ihren Höhepunkt im Allgemeinen vierundzwanzig Stunden nach der Exposition, dann geht sie wieder zurück. Dasselbe gilt für die Symptome der Ganzkörperexposition – Übelkeit, Durchfall, Müdigkeit –, sie tauchen auf, verschwinden, und alles scheint gut zu sein. Auch wenn dem nicht so ist.«
»Dieses Stadium erster Symptome wird als ›Prodromalstadium‹ bezeichnet«, fügte Sorensen hinzu. »Wenn die Symptome verschwinden, beginnt das, was wir ›Latenzstadium‹ oder ASS, ›akutes Strahlensyndrom‹, nennen. Wenn es ASS ist, können die Symptome jederzeit zurückkommen, auch Tage oder Wochen nach der Exposition. Dieses Stadium nennt man dann ›manifeste Erkrankung‹. Radioaktive Strahlung kann seltsame Dinge mit dem Körper anstellen. Sie zerstört die DNA in den Zellen, und zuerst und am schlimmsten betroffen sind Zellen, die öfter ersetzt werden, wie zum Beispiel das Knochenmark und die Auskleidung der Därme.«
»Dann hilf Ihnen das Blutbild also, die Dosis einzuschätzen und die Schäden zu diagnostizieren«, sagte ich. »Aber was ist mit einer Behandlung? Was können Sie für uns tun? Was können Sie tun, um die Auswirkungen der Strahlung rückgängig zu machen oder zu minimieren?«
»Leider nicht viel«, sagte Sorensen. »Wenn die Zahl Ihrer Lymphozyten deutlich fällt, geben wir Ihnen Wachstumsfaktoren, um das Knochenmark zu stimulieren. Wir können örtliche Verbrennungen behandeln, um die Schmerzen zu lindern und Sie vor Infektionen zu schützen. Wenn Ihr Immunsystem in Mitleidenschaft gezogen ist, können wir Sie isolieren.« Er zögerte. »Wir können psychologische und psychiatrische Betreuung empfehlen, um beim Umgang mit Angst oder Zorn zu helfen. Darüber hinaus ist es dem Körper überlassen, sich zu reparieren und zu heilen.«
»Mist«, sagte Emert. »Das klingt nicht gut.«
»Ich weiß«, sagte Sorensen. »Ich wünschte, ich hätte eine Zauberpille, die ich Ihnen geben könnte.«
Der Detective stieß frustriert einen tiefen Seufzer aus. »Erklären Sie mir Folgendes«, sagte er. »Novak war Physiker in Oak Ridge vom ersten Augenblick an, da Oak Ridge existierte. Er hat vierzig, fünfzig Jahre lang mit Kernreaktoren und radioaktivem Material gearbeitet. Können dies bizarre Nebenwirkungen der jahrelangen Strahlenbelastung sein?«
Sorensen schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Die Gammastrahlung kommt von diesem kleinen Pellet, das in seinem Darm war. Iridium-192 ist ein sehr instabiles Isotop mit einer sehr kurzen Halbwertszeit. Man muss es hart bearbeiten, um es radioaktiv zu machen, und sobald einem das gelungen ist, zerfallt es schnell. Während es die ganze Gammastrahlung ausstrahlt, wechselt es kontinuierlich von radioaktivem Iridium zu gewöhnlichem Platin. In ein oder zwei Jahren ist der Umgang damit relativ sicher.«
»Dann ist dieses heiße kleine Pellet«, sagte ich, »kein gefährliches Überbleibsel oder Strandgut des Manhattan-Projekts?«
»Es wurde wahrscheinlich in den vergangenen sechs Monaten hergestellt«, sagte er, »und Dr. Novak hätte nicht länger als ein oder zwei Tage überleben können, nachdem er es aufgenommen hatte. Er war innerhalb von Minuten dem Tod geweiht. Innerhalb weniger Stunden war er das, was wir einen wandelnden Geist‹ nennen.«