12
Am Morgen nach der Beerdigung wachte ich frischer auf als seit Tagen. Vielleicht lag das daran, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen hatte, ungestört von irgendwelchen Spritzen, die mir Blut abzapften. Vielleicht lag es auch daran, dass ich einen schönen Traum von der Bibliothekarin in Oak Ridge gehabt hatte. Ich war um sieben auf dem Campus, schaute im Knochenlabor vorbei, um Miranda einige Notizen zu hinterlegen, und war dann zwei Stunden damit beschäftigt, die erste Klausur dieses Semesters über die menschliche Abstammung zu benoten.
Um elf rief Peggy an. »Vergessen Sie nicht Ihren Vortrag heute Mittag.«
»Welchen Vortrag halte ich heute Mittag?«
Selbst durch den Telefonhörer war ihr aufgebrachter Seufzer laut und deutlich zu vernehmen. »Rotary Club.«
»Oh, der Vortrag beim Rotary Club«, sagte ich. »Klar erinnere ich mich an den. Einen Augenblick habe ich schon befürchtet, Sie hätten mir den Termine heute Mittag mit zwei Vorträgen belegt.«
»Ich bin hier nicht diejenige, die zwei Termine gleichzeitig macht«, erwiderte sie in scharfem Ton.
Um halb zwölf verließ ich den Campus und fuhr zum Marriott-Hotel. Das Marriott war ein architektonisches Unikum – ein Betonkeil, der aussah wie eine Kreuzung zwischen einer Maya-Pyramide und einem völlig deplatzierten Staudamm – und stand auf einem Hügel über dem Fluss. Townes Osborn, die mich zu dem Vortrag eingeladen hatte, erwartete mich schon im Foyer, als ich das Hotel betrat. Trotz ihres fragwürdigen Geschmacks bei der Auswahl von Gastrednern war Townes, die eine bekannte Werbeagentur leitete, die einzige Frau, die je zur Präsidentin des Rotary Clubs Knoxville gewählt worden war.
Nachdem die Rotarier sich an Orangenhühnchen und Pilaw und irgendeinem Gemüsepotpourri, das bei feinen Leuten gerade in Mode war, gütlich getan hatten, zeigte ich Dias von einem Fall, an dem ich vor einigen Jahren in Nashville gearbeitet hatte. Der Sheriff in Williamson County hatte einen Anruf von einem besorgten Nachbarn bekommen, in dem es um eine wohlhabende Frau mittleren Alters ging, die alleine in einer Villa auf einem fünfzehn Hektar großen Grundstück lebte. Sie war über eine Woche lang nicht die Auffahrt hinunter zum Briefkasten gekommen, sagte der aufmerksame Nachbar, und obwohl ihr Auto vor dem Haus parkte, ging sie nicht ans Telefon. Ein Deputy wurde vorschriftsmäßig losgeschickt, um nach der Frau zu sehen. Sie kam nicht an die Tür, als er läutete, doch die Tür war unverschlossen, also drehte er den Knauf und öffnete sie, um nach der Frau zu rufen. In diesem Augenblick sprangen die drei großen Hunde der Frau – zwei Schäferhunde und ein Collie – an ihm vorbei in den Hof.
Die Frau war nirgends zu sehen, zumindest nicht in erkennbarer menschlicher Gestalt. Die Geschichte hatte sich, wie wir sie hinterher zusammensetzten, wohl folgendermaßen abgespielt: Die Frau, die eine schwere Herzerkrankung hatte, war gestorben, und da nichts anderes da war, hatten die Hunde die Leiche aufgefressen, um am Leben zu bleiben. Meine Studenten und ich hatten das ganze Haus durchkämmt und nur das Schädeldach, die gut abgenagten Knochenschäfte einiger langer Knochen und einen lackierten Zehennagel gefunden – nur einen, den die Hunde aus irgendeinem seltsamen Grund verschmäht hatten. Als die Rotarier kicherten, dachte ich an den Schiffbrüchigen, der gedacht hatte, er würde Albatros essen. Die Hundegeschichte hatte ein bizarres Postskript: Zwei Wochen später rief mich eine Frau von einer Bank in Nashville an und fragte: »Haben Sie in dem Haus zufällig einen Siebentausend-Dollar-Diamantring gefunden?« Ich versicherte ihr, dass dem nicht so gewesen sei. Die Bank hatte den Ring offenbar versichert, und wenn er nicht gefunden wurde, mussten sie die Summe an die Erben der toten Frau auszahlen. »Es gibt noch einen Ort, wo der Ring sein könnte«, sagte ich. Die Frau wurde ganz aufgeregt, als sie das hörte. »Sie wissen ja, dass sie von ihren Hunden aufgefressen wurde«, sagte ich. Sie keuchte auf, offensichtlich war dieses kleine Detail noch nicht zu ihr durchgedrungen. »Falls Sie jemanden dazu bringen, sämtlichen Hundekot einzusammeln und zu sichten, besteht die Chance, dass Sie den Ring finden.« Sie dankte mir überschwänglich und legte auf. Zwei Tage später kam ein Deputy aus Williamson County mit einem Sack mit sechs Kilo Hundekot in meinen Hörsaal. Der Deputy machte einen ziemlich unglücklichen Eindruck, und ich vermutete, dass er derjenige gewesen war, dem man die Aufgabe übertragen hatte, die … Beweismittel einzusammeln. Er strahlte jedoch übers ganze Gesicht, als ich ihm erklärte, jeder einzelne Haufen werde von meinen Studierenden sorgfältig zwischen den Fingern zerdrückt werden. Mit seinem Schmerz war wirklich keiner gern allein, schloss ich, als ich sein Grinsen sah. Sobald er sich verabschiedet hatte, schickte ich den Sack mit dem Hundekot zum Röntgen. Von dem Ring war nirgends eine Spur, allerdings entdeckte ich in dem Sack ein Knäuel unverdauter Nylonstrumpfhose, in der in einem Fuß ein weiterer Zehennagel hängen geblieben war. »Das nächste Mal, wenn Ihr Hund Sie mit Liebe und Hingabe ansieht«, schloss ich meinen Vortrag, »vergessen Sie nicht, dass er womöglich an etwas Leckeres zu futtern denkt.« Die Rotarier spendeten mir lachend Beifall.
Während der Frage-und-Antwort-Runde am Ende des Vortrags fragte Townes mich nach Dr. Novaks Tod; die Geschichte einschließlich der wilden Spekulationen über »das Polonium«, das ihn angeblich getötet hatte, war schließlich durch alle Medien gegangen. »Ich kann eigentlich nicht über den Fall sprechen«, sagte ich, »denn es handelt sich um eine laufende Ermittlung. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich im Augenblick sehr viel Strom für Glühbirnen spare, denn ich glühe jetzt im Dunkeln.« Der Witz provozierte einige Aufstöhner, aber auch ein paar Lacher.
Als ich danach meinen Diaprojektor zusammenpackte, trat ein älterer Mann an mich heran, der ziemlich weit vorne gesessen hatte. »Ich habe während des Kriegs in Oak Ridge gearbeitet«, sagte er. Ich war überrascht, er hatte zwar schon ein paar Jährchen auf dem Buckel, wirkte aber immer noch stark und vital.
»Gab es damals kein Gesetz gegen Kinderarbeit? Sie sehen mir nicht aus, als wären Sie alt genug gewesen, um während des Kriegs in Oak Ridge zu arbeiten.«
Er ignorierte die durchsichtige Schmeichelei. »Ich war für die Sicherheit verantwortlich«, sagte er, und ich fuhr hoch. Schon komisch: Man sieht einen Neunzigjährigen bei einem Mittagessen des Rotary Clubs und neigt dazu, ihn nur als alten Kauz zu betrachten, der sich den ganzen Tag langweilt. Man denkt bei seinem Anblick nicht: Ich wette, dieser Mann hat mal geholfen, im weltgrößten Militärprojekt Atomgeheimnisse zu schützen. Das sagte ich natürlich nicht, ich sagte nur: »Das war eine gewaltige Aufgabe. Muss hart gewesen sein.«
Er schüttelte den Kopf. »War sicher um einiges besser, als auf irgendeiner japsenverseuchten Insel im Pazifik zu krepieren«, sagte er. »Ich wusste, dass ich das Ende des Krieges erleben würde. Und wir haben an etwas gearbeitet, was dazu beitragen sollte, den Krieg zu beenden, also war ich wahrscheinlich an einem der am besten geschützten Orte der Welt. Ich hab mich damals als Glückspilz betrachtet.« Ich nickte.
»Wussten Sie, worauf Sie aufgepasst haben?«
Er zuckte die Achseln. »Wir haben nicht darüber gesprochen«, sagte er. »Einer von der Militärpolizei hat geplaudert, und am nächsten Tag war er verschwunden, einfach so.« Er schnipste mit den Fingern. »Sie haben ihn in den Pazifik geschickt. Ihn nach Europa zu schicken haben sie nicht gewagt, denn sie wollten nicht das Risiko eingehen, dass die Deutschen ihn gefangen nehmen und ihm Informationen abpressen. Drei Monate später war der arme Kerl wahrscheinlich tot.« Er zögerte und musterte mich eingehend, als wollte er abschätzen, ob ich vertrauenswürdig sei. »Im Sommer ’45 hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was sie bauten. Aber ich hab den Mund gehalten, denn ich wollte hierbleiben.«
Wir plauderten noch ein wenig, dann entschuldigte er sich. Townes, die mit mehreren Frauen in Businesskosturnen gesprochen hatte, kam herüber, um mir zu helfen, mein Dia-Rundmagazin ins Auto zu tragen. »Haben Sie den Mann gekannt, mit dem ich mich unterhalten habe?«, fragte ich sie. »Er war während des Krieges für die Sicherheit in Oak Ridge verantwortlich.«
Sie lächelte. »Man kann wohl behaupten, dass ich ihn kenne«, sagte sie. »Das ist Bill Sergeant. Er hat zwölf Jahre lang an der Spitze der weltweiten Kampagne von Rotary International im Kampf gegen Polio gestanden. Im Krutch Park unten in der Stadt ist eine Statue von ihm.«
Auf dem Weg zurück zum Campus machte ich einen Umweg durch die Innenstadt und parkte kurz vor einem Hydranten am Krutch Park. In der südwestlichen Ecke stand tatsächlich eine lebensgroße Bronzestatue von einem glücklichen, bescheidenen alten Kauz mit einem Kind mit kräftigen, gesunden Beinen auf dem Schoß.