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Wir hatten unsere Dienstausweise damals überall dabei – nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im Lebensmittelladen, in der Post, sogar in der Kirche. Gott behüte, dass man versuchte, Zugang zu Jesus zu bekommen, wenn die Unbedenklichkeitsbescheinigung nur für Jehova galt. Überall ist Militärpolizei herumspaziert und hat Dienstausweise kontrolliert. Der schwarze Bereich der Stadt, Colored Town, war praktisch abgezäunt. Wenn das Gesicht auf deinem Dienstausweis nicht schwarz war, konnte ein Wachmann oder ein Militärpolizist, der in einem Jeep am Straßenrand nach Colored Town saß, dich zu sich winken und fragen, was du da zu suchen hattest.
Was ich dort zu suchen hatte, war eine Abtreibung.
Ein Jahr, nachdem ich Novak geheiratet hatte, merkte ich, dass ich schwanger war. Das war keine frohe Nachricht. Zum einen arbeitete ich mit radioaktiven Materialien.
Heute wissen wir sehr viel mehr über den Zusammenhang zwischen Radioaktivität und Geburtsfehlern als damals. Ich habe in einer Anlage gearbeitet, in der überall U-235 und U-238 herumflog. Theoretisch sollten die Calutrone das ganze Uran einsammeln, aber in Wirklichkeit ging es nicht so ordentlich und sauber zu. Es war wahrscheinlich wie bei diesen riesigen Popcornautomaten im Kino, wo der Topf ganz oben in einem großen Glaskasten hängt. Der Kasten soll das aus dem Topf quellende Popcorn auffangen, aber wenn man hinter den Tresen schaut, findet man immer verstreute Maiskörner, die irgendwo abgeprallt und durch eine Lücke in dem Ding gehüpft sind. Bei den Calutronen war es genauso. Am Ende der Schicht haben sie uns mit dem Geigerzähler abgetastet, wenn wir das Gebäude verließen, und manchmal fanden sie auf einem Overall ein oder zwei verirrte Uranpartikel, die haben sie dann mit einer Lupe und einer Pinzette entfernt. Das geschah allerdings nicht aus Sorge um unsere Gesundheit, vielmehr war das Uran so kostbar, dass sie es sich nicht leisten konnten, auch nur ein winziges Partikel durchs Tor schlüpfen zu lassen.
Heute wird man beim Arzt nicht mal geröntgt, wenn man schwanger ist. Aber damals haben tausende junger Frauen im gebärfähigen Alter in Bereichen voller Strahlungsquellen gearbeitet. Er wundert mich, dass in Oak Ridge 1944 und 1945 nicht unzählige Babys mit Geburtsfehlern auf die Welt gekommen sind.
Doch ich wollte nicht deswegen eine Abtreibung, weil ich mir Sorgen wegen eines möglichen Geburtsfehlers machte. Ich brauchte eine Abtreibung, weil das Baby nicht von Novak war. Nach zwölf Monaten hatten wir die Ehe immer noch nicht vollzogen. Leonard Novak war vieles – klug, witzig, ein exzellenter Wissenschaftler, ein toller Jazzpianist –, aber heterosexuell war er nicht. Wenigstens nicht bei mir.
Ich hatte alles versucht, um meinen Mann zu verführen. Zur Schlafenszeit zog ich mich vor ihm aus. Manchmal bürstete ich mir, nur im Slip vor dem Spiegel sitzend, die Haare mit hundert Bürstenstrichen. Ich hatte ihn betrunken gemacht und gehofft, das würde ihm die Hemmungen nehmen. Sobald das Licht aus war und wir unter der Decke lagen, schmiegte ich mich an ihn. Es hat alles nicht funktioniert.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie das für eine Frau ist, wenn ihr Mann nicht das geringste sexuelle Interesse an ihr zeigt? Wenn er nie versucht, sie zu berühren? Inzwischen wusste ich genug, um zu wissen, dass ich Sex mochte. Und auch brauchte. Vielleicht lag es daran, dass mein Vater gestorben war und meine Mutter mich verlassen hatte, als ich noch recht jung war. Aus welchem Grund auch immer, ich sehnte mich nach Zuwendung. Vielleicht wollte ich auch nur Sex, weil ich eine gesunde, fruchtbare junge Frau war, umgeben von gesunden, potenten jungen Soldaten und Bauarbeitern.
Eine Woche nach der Hochzeit mit Novak wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte, und sechs Monate später war ich rastlos und fing an, mit anderen Männern zu flirten. Wahrend Novak im Graphitreaktor war und Plutonium produzierte, ging ich Tag für Tag um die Mittagszeit den Hügel runter zur Kulturhalle und fing mit irgendeinem Typ am Tresen ein Gespräch an. Manchmal unterhielten wir uns nur ein Weilchen, und dann nahm ich den Bus zu unsererY-12-Anlage, zur Spätschicht am Calutron. Manchmal nahm der Typ, wer auch immer er war, mich mit in ein Wohnheimzimmer, ein Auto oder einen Wohnwagen. Ich fühlte mich heimlichtuerisch und schmutzig, aber es half gegen die Einsamkeit. Ich hatte etwas, worauf ich mich während der langen Nachmittagsstunden in einer Fabrik voller Vakuumpumpen, unsichtbarer Atome und Magnetfelder, die mir die Spängchen aus den Haaren zogen, freuen und an das ich mich danach erinnern konnte. Und ich hatte etwas, woran ich mich in den langen, leeren Nachtstunden klammern konnte, wenn mein Ehemann mir ein Küsschen auf die Wange gab und sich auf die andere Seite der Matratze rollte.
Novak muss gewusst haben, dass ich ihm untreu war. Er war schließlich ein kluger Mann; ausgeschlossen, dass ihm nicht auffiel, dass die Frau, die sich ihm Nacht für Nacht an den Hals geworfen hatte, dies plötzlich nicht mehr tat. Machte es ihm die Erleichterung darüber, dass ich ihn in Ruhe ließ, erträglicher, über seine Beobachtungen, Vermutungen oder Befürchtungen zu schweigen? Ich kann nur annehmen, dass dem so war. Und ich wertete sein Schweigen gewissermaßen als stille Zustimmung.
Aber ein Baby … Ich wusste, dass ein Baby alles verändern würde. Ein Baby hätte uns gezwungen, uns der Sache zu stellen. Das konnte ich nicht. Und so fand ich mich eines Samstagabends – ich war schwanger, und Novak war nicht da – im Bus nach Colored Town wieder.
Ich war nicht allein. Bei mir war eine junge Schwarze aus derY-12-Anlage. Mary Alice war Putzfrau in meinem Gebäude. Das waren die einzigen Jobs, die sie Schwarzen während des Krieges gaben. Körperliche Arbeit oder Hausmeisteraufgaben. Ich hatte sie in den Rauchpausen kennengelernt, und ich mochte sie. Ihre Mutter war, wie sie sagte, so eine Art Hebamme, Krankenschwester und Heilerin. Und Engelmacherin. Als ich merkte, dass ich schwanger war, überlegte ich mir rasch einen Vorwand, warum ich zusammen mit Mary Alice nach Colored Town fuhr. Ich würde mir den Zutritt erschleichen, indem ich für die Kameras posierte.
Als Calutron-Postergirl hatte ich mich mit dem Fotografen angefreundet, Ed Westcott. Daran war nichts Unschickliches, nicht mit ihm, doch immer wenn er in meinem Gebäude Fotos machte, schaute er bei mir vorbei, und wir plauderten ein Weilchen. Und als ich herausfand, dass Mary und ihre Mutter mir in meiner misslichen Lage helfen konnten, kam mir eine Idee. Westcott war immer auf Bilder aus dem richtigen Leben aus – Kinder, die an einer Badestelle spielten, Jungpfadfinder, die lernten, wie man ein Lagerfeuer macht, Autos, die im Schlamm stecken blieben. Einmal fotografierte er, wie Santa Claus von Wachleuchten gefilzt wurde. Gütiger Himmel, dachten wir, wenn sogar Santa Claus auf Schmuggelgut untersucht wird, können wir Normalsterblichen uns wohl kaum beschweren.
Westcott war berühmt, in gewisser Hinsicht. Als der Fotograf des Projekts konnte er kommen und gehen, wie es ihm beliebte, und er hat von Anfang an die ganze Stadt und die Anlagen durchstreift. Die meisten Wachleute winkten ihn an Kontrollpunkten nur lächelnd durch, einige hielten ihn gerade lange genug auf, um sich in Pose zu stellen und ihn zu fragen, ob er ein Bild von ihnen machen würde. Gelegentlich tat er das, was ihm ziemlich viel Wohlwollen eintrug.
Wie auch immer, ich schlug Westcott vor, ein Foto zu machen, wie ich Mary Alice und einigen anderen Mädchen in Colored Town das Lesen beibrachte. »Ich finde, das wäre ein schönes Bürgerprojekt«, sagte ich. »Wenn Sie ein Foto machen und die Zeitung es abdruckt, können wir vielleicht ein bisschen Aufmerksamkeit erregen und Freiwillige gewinnen.« Die Idee gefiel ihm, und wir verabredeten uns an der Kulturhalle der Schwarzen. Als der Busfahrer mich also fragte, wieso eine weiße Frau an einem Samstagabend nach Colored Town fuhr, erklärte ich ihm, Mr. Westcott werde kommen und ein Foto machen, wie ich den farbigen Mädchen das Lesen beibrachte. Das schien ein hinreichender Grund zu sein.
Colored Town wurde auf der Karte offiziell als das »Barackenlager der Farbigen« bezeichnet. Bei den Baracken handelte es sich um schäbige Sperrholzhütten in Fertigbauweise, fünf mal fünf Meter groß. Sie wurden zu Tausenden herbeigeschafft und mit einem Abstand von allenfalls drei Metern auf engstem Platz zusammengepfercht. Es gab auch eine Barackensiedlung für Weiße, aber dort waren die Hütten besser. Die Baracken der Farbigen hatten nicht einmal richtige Fenster, nur Öffnungen mit Fliegengitter und Sperrholzläden. Wenn die Leute drinnen Tageslicht haben wollten, mussten sie die Läden aufklappen und festhaken. Bei gutem Wetter mochte das ja noch angehen, aber wenn es kalt war, hatten sie die Wahl zwischen warm oder hell, und selbst wenn sie sich für die Wärme entschieden, war es nicht besonders warm: Zwar hatte jede Baracke mitten im Raum einen gusseisernen Kohleofen, doch die Kohlerationen waren so knapp, dass die Leute in den Baracken im Winter jämmerlich froren. Und dann waren die Barackenlager der Farbigen in Baracken für Männer und Baracken für Frauen aufgeteilt, je vier Personen pro Hütte. Schwarze Ehepaare wurden getrennt, damit die Armee in diesen schäbigen kleinen Hütten jeweils vier Personen unterbringen konnte.
Colored Town hatte auch seine eigene Kulturhalle, und hier war es genauso – sie war billiger und mieser als die der Weißen. Keine Tischtennisplatten und Billardtische, kein Klavier, nur ein paar Tische und Stühle. Trotzdem war die Bude an dem Abend, als Mary Alice und ich sie betraten, gerammelt voll. An einigen Tischen saßen Paare und spielten Bridge, an anderen Gruppen von Männern mit Pokerchips. An einem Ende des Raums hatte jemand ein Radio angestellt, und ein paar Paare tanzten zur Musik den Jitterbug. In dem Augenblick, als ich durch die Tür trat, erstarb aller Lärm, und sämtliche Köpfe drehten sich in unsere Richtung. Tausende von Schwarzen in einem schäbigen Getto zusammengepfercht, und herein spaziert eine lilienweiße Frau.
»Du bist am falschen Ort, weißes Mädchen«, sagte ein Mann gleich hinter der Tür, doch Mary Alice nannte ihn beim Namen und sagte, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. »Sie ist in Ordnung«, sagte Mary Alice. »Sie ist mit mir hier.« Sie ging voraus in eine hintere Ecke des Raums, wo ein Mann und eine Frau mittleren Alters auf Stühlen saßen, die im Winkel zueinander standen. »Mama, das hier ist Beatrice, von der ich dir erzählt habe.« Ihre Mutter betrachtete mich von oben bis unten. Der Mann wandte den Blick ab, als wollte er uns ein bisschen Privatsphäre gewähren, und ich war ihm dankbar dafür.
»Bist du dir auch ganz sicher?« Ich nickte. »Und hast du das Geld?«
»Ja, Madam«, sagte ich und nahm die zwei Zehn-Dollar-Scheine aus der Rocktasche. Sie strich sie glatt und faltete sie, bevor sie sie in ihre Bluse steckte.
»Mary Alice«, sagte sie, »du kommst mit mir und dem weißen Mädchen.«
Sie führte uns durch die Tür in die Damentoilette. Dort gab es ein Waschbecken und drei Toilettenkabinen, die alle keine Tür hatten. Es roch, als wäre lange nicht geputzt worden. Sie hatte wohl die Abscheu in meinem Gesicht bemerkt, denn sie sagte: »Wenn du eine hübsche Arztpraxis willst, dann bist du an den falschen Ort gekommen, weißes Mädchen. Willst du es dir noch einmal überlegen?«
»Nein, Madam«, sagte ich. »Ich habe nur Angst.«
»Das soll auch so sein«, sagte sie. »Denn das hier ist angsteinflößend. Und traurig. Wie kommt es, dass du das Kind nicht willst?«
»Ich kann nicht«, sagte ich. »Ich kann einfach nicht.«
»Klar kannst du, Schätzchen«, sagte sie. »Du willst nur nicht. Nicht können ist nicht dasselbe wie nicht wollen.« Sie zeigte auf die dritte Kabine. »Du musst den Slip ausziehen und den Rock hochheben. Setz dich auf die Toilette und rutsch ganz vorne auf die Brille. Du musst die Knie weit spreizen und den Po vorne über die Kante schieben, damit ich reinkomme. Aber zuerst solltest du pinkeln, falls du kannst.«
Ich wandte den Blick von ihr zu Mary Alice und zurück. »Es ist in Ordnung«, sagte Mary Alice. »Sie hat das schon hundertmal gemacht. Geh in die Kabine; ich komme, wenn du runterspülst.«
Ich setzte mich auf die Toilette und beugte mich vor, um das Gesicht zu verbergen, während ich pinkelte, dann griff ich nach hinten und betätigte die Spülung. Dann zog ich meine Unterhose ganz aus, und Mary Alice zwängte sich zwischen die Toilette und die Wand.
»Und jetzt rutsch vor und mach die Beine breit«, sagte Mary Alice’ Mutter. »Wie das geht, weißt du ja.«
»Mama!« Mary Alice war schockiert.
»Komm mir jetzt nicht so, Mary Alice«, sagte sie. »Ich weiß, dass du auch schon eine Weile die Beine breit machst. Seit dem Sündenfall kriegen Frauen gesagt, sie sollten die Beine breit machen. Das gehört zum Fluch des Herrn. Genau wie das hier.«
Sie holte eine kleine Flasche aus der Schürzentasche, entkorkte sie und reichte sie mir. »Hier, kipp das runter. Absinth. Hilft dir zu entspannen.« Die Flüssigkeit in der Flasche schmeckte nach Lakritze, doch sie brannte in der Kehle wie Whiskey. Innerhalb von Sekunden spürte ich die Hitze im Magen, dann breitete sie sich in meinem Bauch aus und in den Armen und Beinen, und mein Kopf fing an zu brummen. Als Nächstes nahm sie ein Taschentuch aus ihrer Schürze und machte einen festen Knoten hinein. »Mach dem Mund auf«, sagte sie, und als ich tat, wie mir geheißen, zwängte sie mir den Knoten zwischen die Zähne. »Und jetzt beiß fest zu. Das tut ein bisschen weh.« Ich biss zu, bis ich merkte, dass der Knoten unter dem Druck flacher wurde. »Mach dich bereit, Mary Alice.«
Obwohl es in der Toilettenkabine sehr eng war, brachte Mary Alice es irgendwie zustande, sich umzudrehen und ein Bein über mich zu schwingen; sie setzte sich quasi auf meinen Schoß, mit dem Gesicht zu mir, ein Bein auf jeder Seite der Toilette, ihre Brust auf Höhe meines Gesichts. Sie nahm meine Hände und verschränkte ihre Finger mit meinen. Ich spürte, wie ihre Mutter sich zwischen meine Beine kniete. »Gut, und jetzt ganz sachte«, sagte sie. »Es wäre gut, wenn du dich entspannen könntest. Wenn nicht, dann halt ganz still. Bevor du es merkst, ist es auch schon vorbei.«
Ich spürte, wie etwas Kaltes und Scharfes tief in mich hineinstach, und ich hörte einen Schrei, der sich den Weg aus meiner Kehle durch den Stoffknoten bahnte. Meine Knie zuckten hoch, und meine Schultern krümmten sich nach vorn; mein ganzer Körper wollte sich zu einer Kugel zusammenrollen. »Gütiger Himmel, weißes Mädchen, halt still«, sagte sie. »Du musst sie gut festhalten, Mary Alice.«
Die Tränen verstopften mir die Nase, und in meinem Mund steckte das Taschentuch. Ich bekam keine Luft, ich fing an zu keuchen und zu würgen. Alles wurde schwarz – alles, außer der weiß glühenden Flamme des Schmerzes. Gerade als ich überzeugt war, ich würde gleich sterben, wurde mir der Stoff aus dem Mund gerissen, und ich konnte wieder atmen und sehen. »Fertig«, hörte ich Mary Alice’ Mutter sagen. »Fertig. Herr, vergib uns, wir sind fertig.« Ich spürte, wie mein Bauch krampfte, und bei jedem Krampf fühlte es sich so an, als würde ich tief in mir Glassplitter oder Eisenspäne zusammenpressen. »Ich muss die Lappen hier in dich reinstopfen«, sagte sie. »Die fangen das Blut auf. Warte bis morgen Abend, bevor du sie rausholst.« Ich keuchte, als sie wieder in mich hineinstieß, doch diesmal war der Schmerz dumpfer.
Mary Alice ließ meine Hand los und schwang das Bein über mich, sodass sie wieder neben mir stand. Sie drückte mir die Schulter. »Das hast du gut gemacht«, sagte sie. »Jetzt wird alles gut.« Ich schüttelte den Kopf und weinte.
Ich hörte Wasser ins Waschbecken laufen, und einen Augenblick später trat Mary Alice’ Mutter mit zwei feuchten Lappen in der Hand wieder in die Kabine. Einen reichte sie Mary Alice, die mir damit das Gesicht abwischte, mit dem anderen bückte sie sich und wischte mir die blutverschmierten Beine und den Po ab.
Plötzlich klopfte es mehrmals an der Tür. Ich schrie beinahe auf vor Angst, und die beiden schwarzen Frauen tauschten rasche, ängstliche Blicke. Wieder klopfte es, lauter jetzt. »Mary Alice? Miss Beatrice?«
»Ja, was ist?«, fragte Mary Alice.
»Seid ihr fertig da drin? Seid ihr so weit, dass man euch fotografieren kann?«
Ich wollte rufen – keine Ahnung, was ich sagen wollte –, doch zum Glück legte Mary Alice mir eine Hand auf den Mund. »Gleich«, sagte sie. »Eine Minute noch.« Sie zog mich hoch. »Spritz dir ein bisschen Wasser ins Gesicht, kämm dir die Haare und trag den Lippenstift hier auf«, sagte sie. »Dann gehen wir raus und tun so, als wäre alles in Ordnung.«
Benommen – unter brennenden Krämpfen und mit brummendem Kopf- wusch ich mir das Gesicht und trug Lippenstift auf. Dann nahm Mary Alice mich bei der Hand und führte mich aus der Toilette. Es war, als würde ich in einem Theaterstück die Bühne betretent: Vor uns schimmerte in einem Lichtkreis ein Kartentisch, und als Mary Alice und ich näher traten, sahen uns Dutzende Gesichter dabei zu. Die meisten Gesichter waren schwarz, aber es waren auch einige weiße darunter, und ich erkannte die Uniformen und schwarzen Armbinden der Militärpolizei.
Auf dem Tisch lagen ein paar Bücher, eines war aufgeschlagen, sein Rücken gebrochen. Es war die Bibel, und sie war bei der Geschichte von Adam und Eva geöffnet. Westcott trat auf uns zu und schob uns auf zwei Stühle, die über Eck am Tisch standen. »Meine Damen, Sie sehen wunderbar aus«, sagte er, obwohl er mich, wie es mir schien, ein wenig besorgt näher in Augenschein nahm. »Beugen Sie sich über das Buch, Beatrice. Sie auch, Mary Alice, und zeigen Sie auf ein Wort, als wollten Sie Beatrice fragen, was das Wort heißt.«
Mary Alice’ Zeigefinger – blauschwarze Haut mit rosafarbenem, perlmuttartigem Fingernagel – zog eine zittrige Linie über eine Seite und kam unter einem Vers zum Stillstand. »Wie lautet dieser Bibelvers hier, Miss Beatrice?« Ihre Stimme war die Parodie eines Singsangs – wie ein Nigger in einem Hollywoodfilm –, und ich überlegte, ob sie mich verhöhnte oder Wèstcott oder die isolierte Stadt und die Nation, in der wir lebten und arbeiteten.
Ich schaute auf die Stelle und las den Vers laut vor: »›Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon isst, wirst du des Todes sterben.‹«
»Amen«, sagte Mary Alice, als der Blitz mich blendete.
Die Militärpolizisten – die offensichtlich der Busfahrer geschickt hatte, damit die weiße Frau nicht von sexbesessenen Schwarzen belästigt wurde – blieben, bis Westcott seine Kamera und seine Scheinwerfer einpackte und wieder in seinen Jeep lud. Mary Alice und ich waren sitzen geblieben, während die Ausrüstung verstaut wurde. Als alles verladen war, stand ich auf, um zu gehen, und dabei merkte ich, dass mein Kleid an dem metallenen Klappstuhl klebte. Ich schaute hinunter und sah, dass die ganze Sitzfläche mit Blut verpappt war. Mary Alice warf einen Blick auf den Stuhl, trat rasch neben mich und legte mir einen Arm um die Hüfte. Mit der freien Hand winkte sie ihrer Mutter, die näher kam und sich dicht hinter mich stellte. So gingen wir, die zwei schwarzen Frauen und ich, aus dem Gebäude hinaus in die Nacht. Mary Alice half mir in den Bus, und als ich in die schützende Dunkelheit des Busses trat, hörte ich einen Militärpolizisten etwas zu dem anderen sagen. »Niggerliebchen.«