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Ich war noch nicht so weit, Oak Ridge zu verlassen, ich wollte mich noch ein wenig länger in dem sepiafarbenen Gefühl für die Geschichte versenken, in das Novaks Beerdigung mich versetzt hatte. Daher fuhr ich an den Einkaufsstraßen vorbei, die die Oak Ridge Turnpike säumten, und bog zum American Museum of Science and Energy ab, einem klotzigen, schlammfarbenen Backsteingebäude neben der Polizeiwache. Den Gehweg vor dem Gebäude säumten spitze Maschinenteile aus dem Kohlebergbau und von Bohrtürmen. Drinnen – durch eine stacheldrahtgesäumte Tür und vorbei an einer als Wachposten aus dem Zweiten Weltkrieg verkleideten Schaufensterpuppe – erzählten Fotografien, Filmaufnahmen und Dokumente die Geschichte des Manhattan-Projekts. An einer Wand wurde ein zerkratzter Film von Albert Einstein gezeigt, den man mit seinem struppigen weißen Haar sofort erkannte, wie er einen Brief schrieb. Neben dem Videomonitor war eine vergrößerte Kopie des Briefes, den Einstein im August 1939 an Präsident Franklin D. Roosevelt geschickt hatte. Darin brachte er seine Sorge über das deutsche Atomprogramm zum Ausdruck und empfahl, die USA solle in die Atombombenforschung investieren. Obwohl in den ersten beiden Jahren danach noch nicht viel passiert war, hatte Einsteins Brief den ersten Anstoß gegeben und gehörte – zumindest aus historischer Perspektive – zum wissenschaftlichen Stammbaum der Bombe.
Was mich in dem abgedunkelten Raum jedoch am meisten interessierte, waren die Fotos aus der Kriegszeit, die die Entstehung und die Kriegsjahre der Stadt dokumentierten, die unter dem Namen Oak Ridge bekannt wurde. In drei kurzen Jahren war aus einer Handvoll ländlicher Siedlungen – Farmen, kleine Läden, rustikale Schulen – das größte wissenschaftliche und militärische Unternehmen der Weltgeschichte geworden.
Ein älterer Museumsführer kam herein, womöglich weil ich aussah wie eine zwielichtige Gestalt, wahrscheinlich jedoch weil ich der einzige Besucher war und er sich langweilte. »Diese Fotos sind unglaublich«, sagte ich.
»In der Stadtbücherei gibt es Kopien von allen und noch sehr viel mehr«, sagte er. »Im Oak-Ridge-Raum, in dem sich die heimatkundliche Sammlung befindet. Wenn es Sie interessiert, ist es einen Blick wert. Sie liegt den Hügel runter gleich gegenüber der Stadthalle.« Er zeigte auf die rückwärtige Wand des Raums, und ich erinnerte mich, dass ich in einem Park unterhalb der Polizeiwache zwei Gebäude gesehen hatte, verbunden durch einen Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte. Ich bedankte mich bei ihm und schlenderte weiter durch die Ausstellung, die in einem kurzen Schwarzweißfilm über den Flug der Enola Gay gipfelte, dem B-29-Bomber, der am 6. August 1945 lange vor der Morgendämmerung vom Flugplatz der Insel Tinian in die Luft gestiegen war. Viele Stunden später und viertausend Kilo leichter war die Enola Gay nach Tinian zurückgekehrt, nachdem sie eine einzige Bombe auf Hiroshima in Japan abgeworfen hatte. Fast wie ein Nachtrag enthielt der Film auch einen kurzen Beitrag über die Zerstörung von Nagasaki drei Tage später durch eine zweite Atombombe. Zwei Städte waren völlig dem Erdboden gleichgemacht und viele tausend Menschen von einem Augenblick auf den anderen getötet worden. Und obwohl die Bomben, die auf Hiroshima und Nagasaki fielen, klein waren im Vergleich zu den gewaltigen Wasserstoffbomben, die in den 1950er und 1960er Jahren entwickelt wurden, die reinsten Feuerwerkskörper, lasteten die Bilder dieser beispiellosen Zerstörung schwer auf meinem Herzen.
Ich wanderte aus dem abgedunkelten Ausstellungsraum in die helle Vorhalle und hob die Hand, um mich von dem Museumswärter zu verabschieden. »Wir haben noch andere Ausstellungen«, rief er hinter mir her. »Atomkraft, Erdöl, Erneuerbare Energien, Neutronenforschung.«
»Ein andermal«, sagte ich. »Heute ist mir nach Geschichte.« Ich ging durch die Glastüren, an Bergbau- und Bohrgerätschaften vorbei und spazierte gemächlich den langen, sanften Hügel hinunter in Richtung Stadthalle und Bücherei. Im Vordergrund war eine Freiluftbühne, darüber ein schimmerndes weißes Zelt aus irgendeinem Hightech-Gewebe. Ein Stück weit entfernt stand ein zweiter, kleinerer Pavillon, dieser jedoch eine rustikale Holzkonstruktion. Neugierig beschloss ich, ihn mir näher anzusehen. Das Giebeldach und die schweren Balken erinnerten mich an einen japanischen Tempel, und im Näherkommen entdeckte ich, dass im Balkenwerk eine riesige Glocke hing, lang und zylindrisch, statt unten breiter. Neben der Glocke war ein Schild mit der Aufschrift FRIEND-SHIP BELL. Sie war 1993, zum fünfzigsten Jahrestag der Gründung von Oak Ridge, in Japan gegossen worden. SYMBOL DER FREUNDSCHAFT UND DER WECHSELSEITIGEN ACHTUNG, DIE SICH ZWISCHEN OAK RIDGE UND JAPAN IN DEN VERGANGENEN FÜNFZIG JAHREN ENTWICKELT HAT, hieß es weiter. FREUNDSCHAFT, DIE UMSO BEDEUTSAMER IST WEGEN DES SCHRECKLICHEN KONFLIKTS DES ZWEITEN WELTKRIEGS, BEI DESSEN BEEN-DIGUNG OAK RIDGE EINE WICHTIGE ROLLE GESPIELT HAT. Besonders beeindruckten mich jedoch die abschließenden Worte auf dem Schild: DARÜBER HINAUS STEHT DIESE GLOCKE FÜR UNSERE SEHNSUCHT UND UNSER BESTREBEN, UNS FÜR WOHLERGEHEN, GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN FÜR ALLE MENSCHEN AUF ERDEN EINZUSETZEN. Oak Ridge hat sich ganz schön entwickelt, überlegte ich und wandte meine Schritte der Stadtbücherei zu.
Wie ihr Pendant, die Stadthalle, war die Bücherei ein modernes Gebäude – wohl in den 1970er Jahren erbaut – aus Schüttbeton, von Lichtgarden gekrönt. Die Verschalung hatte aus grob zugesägten senkrechten Schalbrettern bestanden, deren Maserung im Beton noch sichtbar war. Vielleicht lag es nur an meiner nachdenklichen Stimmung, doch mir gefiel die Vorstellung, dass der Beitrag des Holzes – kurz, aber wichtig – in der Außenhaut des Gebäudes für die Nachwelt erhalten war.
Drinnen blieb ich am Ausleihtisch stehen, um nach dem Raum für Regionalgeschichte zu fragen. »Ja, der Oak-Ridge-Raum«, sagte die junge Frau an dem Tisch. »Der ist gleich da hinten.« Sie zeigte in eine hintere Ecke des Gebäudes. Ich dankte ihr und ging in die angegebene Richtung.
Der Raum war vom Hauptraum durch Glaswände und Glastüren abgetrennt. Drinnen standen randvolle Bücherregale, hohe Aktenschränke, flache Kartenschränke und eine mit dicken, schwarzen Aktenordnern vollgestopfte Regalwand. Für jemanden, der Appetit auf Regionalgeschichte hatte, schien im Oak-Ridge-Raum ein wahres Festmahl aufgetischt zu sein. Ich zog am Griff einer Glastür. Sie klapperte, ging jedoch nicht auf. Ich zog am Griff der anderen Tür. Auch sie rührte sich nicht.
»Versuchen Sie’s mal mit Drücken«, sagte eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drückte. Immer noch nichts. »Oh. Dann funktioniert das Schloss ja doch«, sagte die Stimme. Ich drehte mich um und sah eine Frau mit schwarzem Haar und lachenden Augen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich konnte nicht widerstehen. Sie haben so ernst ausgesehen.« Ich starrte sie an, und ihre Belustigung verwandelte sich in Besorgnis. »Es tut mir ehrlich leid«, sagte sie. »Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich dachte nur …«
»Nein, nein«, sagte ich rasch. »Es ist nicht wegen der Tür. Die Tür … die Sache mit der Tür war lustig. Sie haben mich nur für einen Moment an jemanden erinnert.« Die Bibliothekarin – Isabella Morgan, verriet ein Namensschildchen an ihrem Pullover – war die Frau, bei deren Anblick ich beim Verlassen der Kapelle gedacht hatte, ich hätte einen Geist gesehen. »Waren Sie nicht bei Dr. Novaks Beerdigung?«
Sie wirkte verdutzt. »Ja«, sagte sie. Es gab eine Pause, und dann fügte sie verlegen, wie ich fand, hinzu: »Von wegen Regionalgeschichte.« Ich stellte mich vor und erzählte ihr, dass ich Novaks Leiche aus dem Eis des Swimmingpools gesägt hatte. »Oh, richtig«, sagte sie. »Ihr Foto war im Oak Ridger. Sie sind der mit der Kettensäge.«
Ich lachte. »Genau genommen bin ich der ohne die Kettensäge, woran mich alle ständig erinnern. Wie auch immer, ich interessiere mich für die Geschichte der Stadt. Ich hatte gehofft, mich ein wenig im Oak-Ridge-Raum umsehen zu können.«
Sie griff in eine Tasche ihres Pullovers und holte einen Schlüssel heraus. »Sehen Sie sich ruhig um«, sagte sie. »Kann ich Ihnen helfen, irgendetwas Bestimmtes herauszusuchen?«
»Hm. Also, ein Mann oben im Museum hat gesagt, Sie hätten hier einen ganzen Haufen Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg. Die würde ich mir gern anschauen, falls sie leicht zugänglich sind.«
Sie zeigte auf die Regale mit den dicken Aktenordnern. »Die sind sehr leicht zu finden«, sagte sie. »Und es ist tatsächlich eine beachtliche Sammlung.«
»Was ich im Museum gesehen habe«, sagte ich, »deutet darauf hin, dass der Fotograf schon anfing, Fotos zu schießen, bevor die Armee überhaupt einen Fuß hierher setzte.«
»So etwa«, sagte sie. »Fast als hätte er zeigen wollen, wie die Prophezeiung wahr wurde.«
»Die Prophezeiung? Was für eine Prophezeiung?«
»Sie haben noch nie von der Prophezeiung gehört?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich. »Was für eine Prophezeiung?«
»Um 1900«, sagte sie, »hat ein ortsansässiger Mystiker die Schöpfung von Oak Ridge und die Rolle, die die Stadt im Zweiten Weltkrieg spielen würde, vorhergesagt.«
»Irgend so ein Hinterwäldler vor hundert Jahren wusste etwas über Urananreicherung und Plutoniumproduktion? Also, da haben Fermi, Oppenheimer und Einstein die Idee her?«
Sie lächelte. »Also, was Physik und Chemie betrifft, ist er nicht ins Detail gegangen«, sagte sie. »Er hieß John Hendrix, war Prediger und galt ein wenig als Spinner. Angeblich soll er auch getrunken haben.«
»Da kommt einem die Predigt doch gleich viel flüssiger über die Lippen«, versetzte ich. »Und vielleicht weiß man als Trinker auch mehr über das Sündigen.«
»Man erzählt sich«, fuhr sie fort, »dass John Hendrix von einer Stimme aufgefordert wurde, vierzig Tage und Nächte im Wald zu schlafen und zu beten.«
»Demnach hätte er ja ganz schön viel gebetet«, meinte ich.
Sie nickte. »Am einundvierzigsten Tag ist er wieder aufgetaucht und hat einigen Leuten in einer kleinen Gemischtwarenhandlung erzählt, er hätte eine Vision gehabt.« Sie nahm ein abgenutztes Buch aus dem Regal, Back of Oak Ridge, und schlug es recht weit vorne irgendwo auf. »Folgendes hat er gesagt: ›Eine Stadt wird errichtet auf dem Black Oak Ridge‹ – das ist der Bergrücken, auf dem während des Zweiten Weltkriegs die Wohnhäuser errichtet wurden – ›und das Zentrum der Macht wird auf einem Platz in der Mitte zwischen Sevier Tadlocks Farm und Joe Pyatts Haus liegen.‹« Gerade wollte ich fragen, wer Sevier Tadlock und Joe Pyatt waren, doch als könnte sie meine Gedanken lesen, hob sie einen Finger, um mich zum Schweigen zu bringen. »Er sagte: ›Eine Eisenbahnlinie wird von der Hauptstrecke zwischen Louisville und Nashville abzweigen, nach Robertsville hinunterführen und sich dann noch einmal verzweigen und in Richtung Scarboro wenden. Gewaltige Maschinen werden große Gräben graben, und tausende von Menschen werden geschäftig hin und her laufen. Sie werden mancherlei erbauen, und es wird viel Lärm sein und Durcheinander, und die Erde wird beben.‹ Aber jetzt kommt der beste Teil; er spricht über das Bear Creek Valley, wo die Y-12-Anlage errichtet wurde: ›Das Bear Creek Valley wird eines Tages voller riesiger Gebäude und Fabriken sein, und sie werden dazu beitragen, den größten Krieg zu gewinnen, den es je geben wird.‹«
»Sie machte eine kurze Pause, um die Worte wirken zu lassen. Dann las sie noch eine Zeile:« ›So habe ich es gesehen. So wird es sein.‹«
Langsam schloss sie das Buch, schaute mich über ihre Brille hinweg an und zog die Augenbrauen hoch, als wollte sie fragen: Und?
Zu meiner Überraschung hatten mir die Worte ein Frösteln über den Rücken gejagt. In diesem Stadium meines Lebens war ich, was metaphysische Angelegenheiten betraf, ein rechter Skeptiker geworden. Ich hatte jeden Tag mit wissenschaftlichen und forensischen Fakten zu tun, grausamen Fakten obendrein, und die tröstlichen Worte der organisierten Religion ignorierten viel Leid. Mein Glaube war auch durch das unverdiente Leiden und den Tod meiner Frau Kathleen vor einigen Jahren arg erschüttert worden. Trotzdem musste ich zugeben, dass ich gelegentlich Phänomenen begegnete, die die Wissenschaft nicht erklären konnte. Diese Prophezeiung schien so ein Phänomen zu sein.
»Das hat er 1900 gesagt? Vierzig Jahre bevor die ersten Bulldozer angerückt sind?«
»Etwa um die Zeit. Und er ist 1915 gestorben, es ist also nicht so, als hätte er erlebt, wie es sich entwickelte, und wäre dann vorgetreten und hätte behauptet: ›O ja, ich hatte vor langer Zeit eine Vision.‹ Es ist ziemlich gut dokumentiert, dass er mit irrem Blick aus dem Wald kam und über Fabriken und Maschinen und den Sieg in einem großen Krieg sprach.«
»Und das mit Tadlock und Pyatt?«
»Ihre Farmen lagen auf dem kleinen Hügel, wo das Hauptquartier des Manhattan-Projekts erbaut wurde«, sagte sie. »Während des Krieges war es ein riesiges Holzgebäude, das den Spitznamen ›Schloss auf dem Berg‹ trug. In den 70er-Jahren hat das Energieministerium dann an derselben Stelle ein Gebäude aus Glas und Beton errichtet. Es ist also immer noch das, was Hendrix das ›Zentrum der Macht‹ genannt hat, selbst heute.«
»Und die Eisenbahnlinie?«
»Die führt keine zwei Kilometer von der Y-12-Anlage entfernt direkt an seinem Grab vorbei.«
Ich nickte. »Klingt, als hätte Hendrix alles richtig vorhergesehen«, sagte ich. »Viel genauer als die Psychos, die bei der Polizei anrufen und sagen: ›Ich sehe eine Leiche an einem dunklen, feuchten Ort.‹ Hat er auch die Freundschaftsglocke vorhergesagt?«
Sie lachte ein musikalisches Lachen, das mich an Glockenläuten erinnerte, und ich spürte erneut ein Prickeln im Rücken. »Nein, so weit hat er nicht in die Zukunft gesehen«, erklärte sie, »obwohl man meinen möchte, er hätte so weit schauen sollen, schließlich hat er von großen Kriegen gesprochen.« Sie bemerkte meinen verdutzten Blick. »Es gab eine ziemliche Kontroverse um die Glocke«, erklärte sie. »Die meisten Menschen nennen sie die Friedensglocke. Einige Ortsansässige empfanden sie jedoch als Schlag ins Gesicht für all jene, die am Manhattan-Projekt mitgearbeitet haben. Zu sehr wie eine Entschuldigung. Ein paar sind sogar mit der Behauptung vor Gericht gezogen, es wäre ein religiöser Schrein und so etwas dürfe nicht auf öffentlichem Grund stehen. Doch inzwischen scheint die Kontroverse sich gelegt zu haben.«
»Vielleicht, weil die, die an der Bombe mitgebaut haben, allmählich aussterben«, sagte ich. Sie warf mir einen seltsamen, scharfen Blick zu, und ich wünschte, ich wäre taktvoller gewesen.
»Falls Sie etwas brauchen, ich bin am Auskunftstisch«, sagte sie und zeigte ans andere Ende des Lesesaals. Sie überließ mich den Fotos von Bulldozern und Kränen und LKWs, die bis zu den Achsen im Schlamm versunken waren. Doch das Bild, das mich am meisten beschäftigte, war das der schwarzhaarigen, braunäugigen Bibliothekarin, die mir von den Prophezeiungen über Oak Ridge und seine Rolle beim Sieg im »größten Krieg, den es je geben wird« erzählt hatte.
Ich hoffte, die Zukunft würde beweisen, dass John Hendrix’ Prophezeiung im letzten Punkt genauso exakt war wie in den anderen.