23
Mein Vater starb, als ich zehn war. Meine Mutter arbeitete als Nachtportier in einem Hotel in Chattanooga, also war ich es von klein auf gewohnt, nachts allein zu sein. Sich an etwas zu gewöhnen ist jedoch nicht dasselbe, wie es zu mögen. Mein Vater war für immer weg, und manchmal kam es mir so vor, als wäre meine Mutter es auch.
Als ich dreizehn war, fuhren meine Mutter und ich an Weihnachten mit dem Zug nach New York. Meine Tante Rachel und mein Onkel Isaac wohnten dort – Tante Rachel war die Schwester meines Vaters –, und meine Mutter sagte, sie wolle sie besuchen und mir New York zur Weihnachtszeit zeigen. Wir stiegen an einem Freitag um die Mittagszeit in Raleigh um und fuhren die ganze Nacht, um nach New York zu gelangen. Wir teilten uns eine Koje in einem Schlafwagenabteil, und ich weiß noch, dass ich einschlief, während meine Mutter mich im Arm hielt, was seit Jahren nicht mehr vorgekommen war.
Wir kamen am späten Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags an der Penn Station an – das war, wohlgemerkt, die alte Penn Station, die wirklich spektakulär war, viel eindrucksvoller als der Grand Central. Von dort nahmen wir ein Taxi durch die Stadt zum Rockefeller Center. Die Eislaufbahn unter freiem Himmel dort war an diesem Tag eröffnet worden. Es war der 25. Dezember 1936. Es war so schön, dass mir das Herz wehtat – der ganze Weihnachtsschmuck und die Kerzen, und alle trugen ihre besten Wintersachen.
Das Land fing gerade an, die Große Depression hinter sich zu lassen, und ich glaube, an diesem Weihnachtsabend auf dem Rockefeller Square haben die Menschen nicht nur Jesu Geburt gefeiert, sondern auch die Wiedergeburt Amerikas. Meine Mutter und ich warteten stundenlang in der Schlange, um eislaufen zu können, und schleiften unsere ramponierten kleinen Koffer mit. Mir machte das Warten nichts aus, ich war ganz berauscht von dem Anblick und den Geräuschen und dem Zauber des Ganzen. Als wir schließlich ganz vorne in der Schlange waren, meinte meine Mutter, sie würde nicht eislaufen, sie würde bei unseren Koffern bleiben und mir zuschauen. Sie fragte einen Jungen in der Schlange hinter uns, ob er mir ein bisschen helfen könnte. Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Alt genug, um interessant für mich zu sein, aber nicht so alt, dass er mich eingeschüchtert hätte. Er hielt mich an der Hand und zog mich wankend, kreischend und lachend hinter sich her. Jedes Mal, wenn wir eine Runde an der Stelle vorbeizogen, wo meine Mutter hinter der Bande stand, winkte sie und rief mir etwas Ermutigendes zu.
Und dann ließ der Junge meine Hand los, und ich lief allein. Es war entsetzlich und aufregend – ich bin bestimmt nur zentimeterweise vorangerutscht, aber ich kam mir so wagemutig und erwachsen vor, und ich konnte es kaum erwarten, die Bahn zu ziehen und das Gesicht meiner Mutter zu sehen, wenn sie merkte, dass ich ohne Hilfe unterwegs war. Doch ihr Gesicht war nicht da. Der dicke Mann mit dem roten Schal, der direkt neben ihr gestanden hatte, war noch da, und auch die Nonne, die auf ihrer anderen Seite gewesen war. Doch sie war weg, und die Lücke, wo sie gestanden hatte, schloss sich schon wieder hinter ihr.
Ich glitt an dem dicken Mann und der Nonne vorbei – ich war durcheinander, und ich wusste auch nicht, wie ich anhalten sollte – und fuhr noch eine Runde auf der Eisbahn. Als ich zum zweiten Mal an der Stelle vorbeikam, fuhr ich an die Bande, um zu bremsen. Ich war immer noch ein Stückchen von den mir bekannten Gesichtern entfernt, also zog ich mich mit den Händen an der Bande entlang, während mir die Füße immer wieder wegrutschten. Ich weiß noch, dass die Leute lachten und mit dem Finger auf mich zeigten, sooft ich die Bande packte und mich wieder hochzog. Als ich vor dem dicken Mann und der Nonne stand, gefror mein Herz zu Eis, und ich spürte, wie mir Tränen über die Wangen liefen – nicht weil die Leute über mich lachten, sondern weil ich wusste, dass etwas nicht stimmte.
Unsere Koffer waren noch da, an die Bande gezwängt, da, wo sie die ganze Zeit gestanden hatte. Die Nonne erzählte mir, meine Mutter hätte auf die Toilette gemusst und wäre in ein paar Minuten wieder da. Aber irgendwie wusste ich, dass das nicht stimmte.
Nachdem ich eine halbe Stunde weinend am Geländer gestanden hatte, half die Nonne mir, die Schlittschuhe aus- und meine Schuhe wieder anzuziehen, dann ging sie mit mir zu einem Polizisten, der in der Nähe des Eingangs zur Eisbahn stand. Ich erzählte ihm, was passiert war, und ich sah, wie er mich taxierte – ein mageres Mädchen aus der Provinz mit tränenverschmiertem Gesicht, Triefnase und einem billigen Pappkoffer. Er bekam einen traurigen, müden Gesichtsausdruck, und da wusste ich, dass ich meine Mutter nie wiedersehen würde.
Auf der Taxifahrt vom Bahnhof zum Rockefeller Center hatte meine Mutter mir mit viel Getue einen großen Umschlag in die Manteltasche gesteckt, in dem Tante Rachels Adresse und Telefonnummer waren, zusammen mit einem Fünf-Dollar-Schein und einer Weihnachtskarte für Rachel und Onkel Isaac. »Pass gut für mich darauf auf«, hatte sie gesagt. »Du bist jetzt ein großes Mädchen, und du weißt ja, dass ich dauernd was verliere. Wenn wir in das Taxi nach Brooklyn steigen, dann sind die Adresse und das Taxigeld gleich zur Hand, sicher in deiner Tasche verwahrt.« Das hatte sie gesagt und dabei auf meine Manteltasche geklopft.
Als ich dem Polizisten von Tante Rachel und dem Briefumschlag erzählte, ließ er mich ihn herausnehmen und öffnen. In der Weihnachtskarte steckten zwei Briefe. Einer war an Tante Rachel gerichtet, und meine Mutter erklärte ihr darin, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, den sie liebte und mit dem sie zusammen sein wollte, doch der Mann – sie nannte nicht einmal seinen Namen – wollte sich nicht mit einer Dreizehnjährigen belasten. Sie schrieb, sie würde mit ihm nach Südamerika gehen, wo er an einem großen Bauvorhaben arbeiten werde. Sie entschuldigte sich für das unerwartete Weihnachtsgeschenk – mich – und bat Rachel, bitte nett zu mir zu sein.
Der andere Brief war an mich gerichtet. Sie schrieb, sie liebe mich und werde mich immer lieben und hoffe, ich könnte sie eines Tages verstehen und ihr verzeihen. Das konnte ich nie, und das habe ich nie.
Ich weiß nicht, wie meine Mutter sich die Zugfahrkarten leisten konnte, doch Jahre später kamen mir zwei Möglichkeiten in den Sinn. Vielleicht hatte sie in dem Hotel, wo sie arbeitete, Geld unterschlagen. Vielleicht hatte auch der Mann, wegen dem sie mich im Stich ließ, ihr das Geld gegeben.
Ich weiß nicht, ob sie mit diesem Mann tatsächlich nach Südamerika gegangen ist. Das hatte sie vielleicht nur geschrieben, um uns von ihrer Spur abzulenken. Vielleicht haben sie und der Mann sich in Schenectady oder Cincinnati ein neues Zuhause geschaffen. Was das angeht, ich weiß nicht einmal, ob es wirklich einen Mann gab, vielleicht hatte sie sich den auch nur aus den Fingern gesogen, als plausiblen Grund, sich von ihrem Kind abzuwenden. Alles, was ich weiß, ist, dass ich nie wieder etwas von ihr sah oder hörte.
Tante Rachel half mir, für nachmittags, nach der Schule, einen Job bei Woolworth in Brooklyn zu bekommen. Viel kam dabei nicht herum, aber meine bescheidenen Lohnschecks gaben mir das Gefühl, ihnen nicht ganz so sehr zur Last zu fallen. In dem Sommer, nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte, bekam ich Arbeit in der Flugzeugfabrik Grumman auf Long Island. Grumman hat Jagdflugzeuge für die Kriegsmarine gebaut – die Wildcat und die Hellcat, die berühmt wurden wegen ihrer Belastbarkeit gegen die Japaner –, und ich war am Bau der Instrumentenbretter beteiligt.
Tante Rachel hat nie etwas gesagt, aber ich spürte, dass ich ihre Gastfreundschaft reichlich überstrapaziert hatte, also erwähnte ich irgendwann im Sommer, es sei vielleicht an der Zeit, dass ich mir etwas Eigenes suchte. Aber New York war teuer, und ich machte mir Sorgen, ob ich zurechtkommen würde. Sie sprach von ihrem anderen Bruder – dem Bruder meines Vaters, den meine Mutter nie gemocht hatte. Dieser Onkel, Onkel Jake, lebte in Knoxville, und er hatte Rachel geschrieben, sämtliche jungen Frauen in Tennessee würden in der Kriegsindustrie in der Nähe von Knoxville Arbeit finden.
Und so kam es, dass ich im September 1943 in Knoxville aus dem Zug stieg und schon eine Woche später half, Atom für Atom, die Bombe zu bauen.