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Von der Stadtbücherei fuhr ich auf die Oak Ridge Turnpike – nach Osten – und kurvte dann die gewundene Straße zu Beatrice’ Haus hinauf. In der Hoffnung, mehr über Leonard Novak in Erfahrung zu bringen, über ihre nicht ganz so glückliche Ehe mit ihm und über das Geheimnis, wegen dem er auf so bizarre Art ums Leben gebracht worden war, hatte ich einen weiteren Besuch bei ihr ausgemacht, den Miranda und Thornton gleich als »Verabredung« bezeichneten.

Ich rief sie vom Handy aus an, um sicherzugehen, dass sie mich auch wirklich erwartete. »Natürlich erwarte ich Sie«, sagte sie. »Meine Tanzkarte ist heutzutage nicht gerade voll. Ich lasse die Tür für Sie offen. Kommen Sie einfach rein und schenken Sie mir einen Wodka ein.«

»Ja, Madam«, sagte ich lachend.

Sie hatte wohl Tee gemacht und den Eiswürfelbehälter aufgefüllt, nachdem sie aufgelegt hatte, denn der Tee dampfte noch, und das Eis war noch nicht geschmolzen, als ich ihr einen Drink einschenkte und mich in den Sessel setzte, den ich inzwischen fast schon als »meinen« betrachtete.

»Ich bin heute auf dem Weg in die Stadt an derY-12-Anlage vorbeigefahren«, sagte ich. »Da habe ich an Sie gedacht, wie Sie da drin an der Steuerung des Calutrons gesessen haben.«

»Was für ein langweiliger Gedanke«, sagte sie. »Mein Calutron ist auch nur interessant wegen der späteren Einsicht der Geschichte. Es hat daran mitgewirkt, die Bombe zu bauen, folglich muss es wichtig und faszinierend gewesen sein. Aber die Arbeit daran war verdammt langweilig, das kann ich Ihnen sagen. Wie an einem Fließband in Detroit, aber ohne die Befriedigung, das Auto Form annehmen zu sehen. Ohne je mitzukriegen, dass das Fließband sich überhaupt bewegt. Soweit wir sehen konnten, haben wir überhaupt nichts produziert. Obwohl wir also jeden Tag durch patriotische Nachrichten am schwarzen Brett und Ansprachen über die Lautsprecheranlage angefeuert wurden, ließ die Begeisterung rasch nach, sobald man mal einige Stunden auf diese verdammten Skalen und Nadeln gestarrt hatte. Interessant wurde es immer nur dann, wenn mal was schiefging.« Bei der Erinnerung zuckten ihre Mundwinkel ein wenig nach oben.

»Was ging denn zum Beispiel schief?«

»Also«, sagte sie und warf mir einen schelmischen Blick zu, »eines Abends Ende 1943, als ich in der Schicht von drei bis elf arbeitete, gab es einen kleinen Aufruhr, und ich schaute mich um und sah General Groves und Colonel Nichols und zwei Männer in Zivil, ziemlich gut gekleidet. Die Offiziere begegneten den Zivilisten mit großem Respekt, besonders dem Gutaussehenden in dem teuren Anzug. Er schaute sich um und kam dann zu meinem Alkoven herüber – ich war an diesem Abend das hübscheste Mädchen in der Schicht – und fragte mich nach meinem Namen. Als ich ihn ihm nannte, sagte er: ›Beatrice, hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mir einen Augenblick Ihr Calutron borge?‹ Ich sah meinen Vorarbeiter an, der sich praktisch überschlug, um mich von der Steuerung wegzuzerren. ›Das ist viel zu niedrig‹, sagte der Mann. ›Bei den Einstellungen produzieren Sie im Leben nicht genug.‹ Er drehte an den Knöpfen herum, bis die Nadeln praktisch vom Ziffernblatt sprangen. ›So‹, sagte er, ›bei diesen Einstellungen bekommen Sie sehr viel mehr … Erzeugnisse.‹ Sie wandten sich ab und gingen wieder. Da fragte ich meinen Boss: ›Und wer war der schicke Kerl?‹ Mein Boss, der ganz hin und weg war, sagte: ›Das war Ernest Lawrence, der Erfinder dieser Anlage.‹ Fünf Minuten später gab es einen lauten Knall. Mein Calutron war explodiert.«

Ich lachte. »Eine tolle Geschichte«, sagte ich. »Ist sie wirklich wahr?«

»Größtenteils«, sagte sie. »Neunundneunzig Prozent der Zeit war es geisttötende Arbeit. Sie sollten sich nicht vorstellen, wie ich am Calutron sitze. Sie sollten sich lieber vorstellen, wie ich singe oder male, Beethoven spiele oder Gedichte schreibe.«

»Das können Sie alles? Ich bin beeindruckt.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich das alles kann, Bill. Ich habe nur gesagt, Sie sollten sich vorstellen, wie ich all das tue. Wo bleibt Ihre Phantasie, Mann?« Ich lachte. »Leonard konnte all das. Und zwar hervorragend.«

»Doch ein hervorragender Ehemann konnte er Ihnen nicht sein.«

Bei diesen Worten fuhr ihr Kopf hoch. »Sind Sie deswegen hier? Um mich über Leonards Schwächen auszuquetschen?«

»Beatrice, wir versuchen dahinterzukommen, warum er mit einem Iridium-192-Pellet im Darm gestorben ist«, sagte ich, »und ob womöglich noch andere Menschen in Gefahr sind. Es geht nicht um seine Schwächen. Vielleicht um seine verwundbaren Stellen.«

Sie schaute eine ganze Weile aus dem Fenster. »In Ordnung«, sagte sie schließlich, den Blick immer noch nach draußen gerichtet. »Ich nehme an, es hat keinen Sinn mehr, sein Geheimnis länger zu hüten.« Sie wandte sich um und sah mich an. »Leonard war schwul. Ein warmer Bruder, wie man so schön sagt. Warm wie der Dschungel im Kongo.« Ich weiß nicht, was mich mehr überraschte, die Tatsache an sich oder die Grobheit, mit der sie darüber sprach. Sie hatte wohl meinen verdatterten Gesichtsausdruck bemerkt. »So etwas galt damals als Perversion. Wenn sie es gewusst hätten, hätte er seine Unbedenklichkeitsbescheinigung niemals behalten.«

In dem Punkt hatte sie wahrscheinlich recht. »Ich möchte nicht taktlos sein«, sagte ich, »aber wieso haben Sie das vor Ihrer Hochzeit nicht gemerkt?«

»Ich redete mir ein, er wäre der perfekte Gentleman«, sagte sie. »Dass er mich auf ein Podest gestellt hätte und meinen Ruf nicht beflecken wollte.« Sie senkte den Blick. »Vielleicht war ich auch so begeistert, dass ich mir einen so großen Fisch geangelt hatte, dass ich es vorzog, die Warnsignale zu ignorieren.«

»Wenn er homosexuell war, warum hat er Sie dann gebeten, seine Frau zu werden?«

»Vielleicht, um sein Geheimnis zu wahren«, sagte sie. »Vielleicht hatte er auch gehofft, darüber hinwegzukommen. Das dachten die Leute damals, wissen Sie. Aber das war natürlich unmöglich. In unserer Hochzeitsnacht hat er mir einen Kuss auf die Lippen gedrückt, aber das war ein Kuss, wie man ihn einer Schwester oder einer alten Freundin gibt – ein kurzes Küsschen mit spitzen Lippen. Dann zog er sich zurück und sah mich an, und sein Blick war voller Scham und Traurigkeit. ›Oh, Beatrice‹, sagte er. ›Was habe ich dir nur angetan?‹ Dann wandte er mir den Rücken zu und weinte. Mein Bräutigam – der geniale, geistsprühende Wunderknabe des Manhattan-Projekts – weinte, weil er mich nicht begehrte und nie begehren würde. Wir haben nie darüber geredet. Das hat man damals einfach nicht gemacht, außer man war Oscar Wilde. Wir schlossen einen Pakt des Schweigens, ohne je darüber zu sprechen. Selbst der Pakt war ein Geheimnis. Er hat seine Bürde getragen und ich meine. Nach dem Krieg, nach der Bombe, habe ich ihn um die Scheidung gebeten.« Sie schwieg, und ich ließ sie eine Weile mit ihren Gedanken allein.

Als sie sich schließlich umwandte, um mich anzusehen, sagte ich: »Es tut mir leid. Das muss sehr schmerzlich gewesen sein für Sie beide. Ich weiß nicht, ob es ein Licht auf seinen Tod wirft, aber ich weiß es zu schätzen, dass Sie mir so weit vertrauen, dass Sie es mir erzählt haben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Was spielt es jetzt noch für eine Rolle? Er ist tot, und ich bin es auch bald. Wen sollte es jetzt noch interessieren?« Sie atmete tief durch. »Doch Leonard hat noch eine Last getragen.« Von dem kleinen Tisch neben ihrem Sessel nahm sie ein zerknittertes, vergilbtes Blatt Papier. »Dies ist ein Eintrag aus seinem Labortagebuch vom November 1943«, sagte sie. »Er schrieb es, unmittelbar nachdem der Graphitreaktor kritisch wurde. Dann hat er sich Sorgen gemacht, dass man ihn für unpatriotisch halten könnte, wenn es dem militärischen Nachrichtendienst unter die Augen käme, und hat die Seite herausgetrennt.« Sie reichte mir das Blatt. Als ich es auseinanderfaltete, befürchtete ich, das dünne Papier würde an den Falzstellen ganz durchreißen. Die Tinte war verblasst, doch die Worte, in kleiner, exakter Handschrift, schienen vom Papier zu springen, während ich sie las.

 

4. November 1943

Es ist aufregend. Und es ist grauenhaft.

Wir haben den ersten Plutonium-Produktionsreaktor der Welt gebaut, und er funktioniert. Technisch gesehen ein Riesenschritt, weit über den Chicago Pile hinaus. Er ist viel größer und viel komplexer als Fermis einfaches Kriegen-wir-es-hin?-Experiment. Er wurde nicht erbaut, um damit ein paar Experimente zu fahren, sondern um viele Jahre lang zu arbeiten.

Und er wurde aus dem einzigen, zielstrebigen Wunsch heraus gebaut, Werkzeuge zur massenhaften Tötung herzustellen.

Fermis behelfsmäßigem Reaktor haftete die Rationalisierung der Forschung an. Es war ein wissenschaftliches Spiel, und niemand wusste, ob er einer Spaltungsreaktion standhalten würde. Wir waren in der luxuriösen Situation, gespannt und aufgeregt sein zu können, als es gelang.

Heute wissen wir zweifelsfrei, dass kontrollierte Kernspaltung möglich ist, und wir wissen, dass wir sie noch größer und tödlicher machen können. Wir wissen, dass wir sie in Gang setzen, anhalten, beschleunigen oder verlangsamen könnten, genau nach unseren Wünschen. Wir wissen jetzt, dass wir sie nutzen können, um langsame Hitze zu erzeugen oder sofortige Explosionen oder exotische neue Elemente. Einschließlich Plutonium, das, wie exakte Berechnungen ergeben, eine genauso gute Bombe ergibt wie Uran.

»Eine genauso gute Bombe«, was für eine ironische, widersprüchliche und nihilistische Formulierung. Genauso gut könnte man von »einem schönen Mord« oder »hervorragender Folter« sprechen.

Groves und seine Armee von Konstrukteuren bauen bereits an dem gewaltigen nächsten Stadium – gigantischen Versionen unseres Reaktors – im Columbia River Valley in irgendeiner gottverlassenen Ecke im Osten von Washington. Sie schicken mich hin, um dafür zu sorgen, dass es funktioniert, und das wird es. Und innerhalb weniger Monate nachdem sie die Reaktoren anfahren, werden sie genügend Plutonium produzieren, um in Japan ganze Städte auszulöschen.

Wenn ich den Reaktor betrachte, den wir hier gebaut haben – eine sechs Meter hohe Betonmauer, durchstoßen von hunderten von sorgfältig platzierten Löchern, wo Brennstoffe bestrahlt werden, um Plutonium zu erzeugen –, ist der Techniker in mir von Stolz erfüllt. Durch das Herz des Reaktors gräbt sich in einem von akribischer Wissenschaft diktierten Muster ein dichtes, ordentliches Netzwerk aus Rohren.

Doch der Mensch in mir schreit »Nein!« angesichts dessen, was wir getan haben und warum wir es getan haben, besonders aber angesichts dessen, was wir als Nächstes vorhaben. Ich habe keinen Gott, zu dem ich beten kann, aber wenn ich einen hätte, würde ich für ein Ende dieses schrecklichen Bemühens beten und für ein Ende des Krieges, der einen solchen Wahnsinn als etwas Vernünftiges erscheinen lässt. Und meiner eigenen konfliktbeladenen Mittäterschaft. L. N.