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Beatrice schmetterte alle Fragen ab, die ich nach Novak stellte. »Ich bin müde«, sagte sie. »Es ist zu traurig, jetzt darüber zu reden.« Und dann fügte sie hinzu: »Wie heißen Sie noch mal?« Der plötzliche vage Anflug von Senilität mochte eine Masche sein, doch wenn ich sie in diese Ecke drängte, ließ sie sich womöglich nie wieder herauslocken. Angesichts der Tatsache, dass Emert und Thornton bei ihr gar nichts erreicht hatten, fand ich, dass jetzt ein strategischer Rückzug angezeigt war.
Ich schaute auf meine unzuverlässige Armbanduhr. »Ich habe Ihre Gastfreundschaft lange genug in Anspruch genommen«, sagte ich, »und ich mache mich besser auf den Weg zurück zur Universität. Es war sehr schön, mit Ihnen zu plaudern, Beatrice. Was meinen Sie, kann ich irgendwann mal wiederkommen?«
Sie beäugte mich scharf, als wollte sie meine Absichten einschätzen oder beurteilen, ob ich aufrichtig war. Da lächelte ich sie an, und es war ein ehrliches Lächeln – sie war wirklich eine bemerkenswerte Frau –, und dieses Lächeln schien die Waagschale zu meinen Gunsten zu neigen. »Selbstverständlich, Bill«, sagte sie, »wenn Sie sich lange genug von Ihren attraktiven Studentinnen losreißen können, um dem Gerede einer alten Frau zuzuhören.«
Ich reichte ihr die Hand, um mich zu verabschieden, doch sie ignorierte sie und hielt mir eine Wange für einen Abschiedskuss hin. Ich streifte die faltige Haut leicht mit meinen Lippen. Sie duftete nach Gesichtspuder und Wodka, und für einen kurzen Augenblick stellte ich mir eine andere Beatrice vor, eine schöne, junge Beatrice, die einem Soldaten oder Wissenschaftler ihre Wange oder ihre Lippen darbot. Sie war zweifellos unwiderstehlich gewesen.
Ich war auf halbem Weg zurück zur Uni, als mein Telefon klingelte. Auf dem Display stand THOMPSON FOTO. Es war Rodney Satterfield, und ich hoffte, er hatte gute Nachrichten über den Film aus Novaks Gefrierschrank. »Also«, sagte ich, »was haben Sie auf dem ältesten unentwickelten Film der Welt gefunden? Heiße Fotos einer jungen Calutron-Anlagenbedienerin aus dem Jahr 1944?« Sobald mir der Witz über die Lippen gekommen war, tauchten vor meinem geistigen Auge zwei Bilder von Beatrice auf – der jungen Beatrice und der alten Beatrice –, und ich schämte mich.
»Eigentlich«, sagte er, »haben wir gar nicht viel gefunden. Ein nahezu klarer Filmstreifen, der aussieht, als wäre er gar nicht belichtet worden. Bevor alle auf Digitalfotografie umgestiegen sind, haben wir jede Woche zwei oder drei unbelichtete Filme reinbekommen. Die Leute haben den Film eingelegt und die Kamera weggeräumt, ohne sie zu benutzen. Wenn sie die Kamera dann ein halbes Jahr später wieder rausgeholt haben, um zu fotografieren, konnten sie sich nicht mehr erinnern, ob eine alte Rolle drin war oder eine vollgeknipste. Also haben sie den unbelichteten Film zurückgespult und zu uns gebracht. Und waren dann sauer auf uns, wenn nichts drauf war.«
»Oh, na ja«, sagte ich, »ist ja nicht so, als hätte an dem Päckchen ein Zettel geklebt, auf dem stand: ›Wenn Sie wissen wollen, wer mich getötet hat, dann entwickeln Sie das hier.‹ Wir dachten nur, es würde sich lohnen, den Film zu überprüfen, denn er hatte ihn sorgfältig eingepackt und all die Jahre im Gefrierschrank aufbewahrt. Wie auch immer, vielen Dank, dass Sie es versucht haben. Ich muss den Film wieder zur Polizei bringen, damit sie ihn in Verwahrung nehmen kann, auch wenn er ihr nichts nützt. Ich bin gerade auf dem Weg zur Uni, wie wäre es, wenn ich kurz reinschaue und ihn abhole?«
»Eigentlich habe ich gesagt, es hat ausgesehen, als wäre er nicht belichtet«, berichtigte Rodney sich. »Aber er war belichtet. Die Bilder sind alle ziemlich schwach. Entweder ist er schrecklich unterbelichtet, oder der Film ist durch Strahlung verblasst.«
»Sie meinen, weil der Mann, in dessen Gefrierschrank er war, ein wandelndes Röntgengerät war?«
»Ja, vielleicht«, sagte er. »Vielleicht auch nur ganz normale jahrzehntelange Sonneneinstrahlung. Sonneneinstrahlung kann die Bilder im Lauf der Zeit auflösen, selbst wenn der Film in einem Gefrierschrank liegt. Ich habe es mit Überentwicklung versucht und ihn eineinhalb mal so lange wie üblich in der Entwicklerlösung liegen lassen. Normalerweise hilft das bei alten Filmen. Doch hier scheint es kaum etwas gebracht zu haben. Aber ich bin noch nicht bereit, die Sache verloren zu geben«, sagte er. »Schon möglich, dass die Abzüge statt schwarz-weiß einfach nur schwarz werden, aber ein Versuch kann ja nicht schaden. Wo sind Sie denn jetzt?«
»Ich bin kurz vor der I-40«, sagte ich. »Zehn Minuten? Vielleicht zwanzig.«
»Wollen Sie mit in die Dunkelkammer kommen? Wenn Sie Zeit haben, warte ich, bis Sie hier sind.«
Fünfzehn Minuten später fuhr ich auf den Parkplatz vor Thompson Photo Products. Rodney erwartete mich an der Ladentheke und führte mich in eine Dunkelkammer im hinteren Teil des Gebäudes. Ich fühlte mich privilegiert, denn obwohl ich im Laufe der Jahre hunderte von Filmpatronen mit Fotos von Leichenfundorten hergebracht hatte, war ich noch nie in das innerste Heiligtum, die Dunkelkammer, vorgedrungen.
Rodney hatte den Film in mehrere dreißig Zentimeter lange Streifen geschnitten und an dem fotografischen Äquivalent einer Wäscheleine aufgehängt. Jetzt holte er einen Streifen herunter und hielt ihn so, dass ich hindurchschauen konnte. Die Dunkelkammer wurde von einer einzelnen roten Birne beleuchtet, also war es in dem Raum – wenig überraschend – ziemlich dunkel. Trotz des trüben Lichts sah ich rasch, dass der Fall hoffnungslos war.
»Sie haben nicht übertrieben«, sagte ich. »Das sieht aus wie Variationen eines einzigen Themas: durchsichtig, durchsichtiger, am durchsichtigsten. Wo wollen Sie denn da überhaupt ansetzen? Welche Stelle ist am wenigsten schlecht?«
»Nach unserem Telefonat habe ich mir die Negative noch einmal auf einem Lichtkasten angesehen«, sagte er. »Ich musste einige Blatt Papier auf das Glas legen, um das Licht zu dimmen, damit es nicht alles vollständig auslöscht. Aber sobald ich es abgedimmt hatte, konnte ich ein wenig mehr erkennen, nicht viel, aber genug, um zu sagen, dass mehrere Negative in der Mitte einen ähnlichen Fleck zu haben scheinen. Dieses hier …«, er zeigte auf die Mitte des Negativstreifens, »… scheint ein Millionstel Prozent weniger schlecht zu sein als die anderen.«
»So gut?« Er nickte düster. »Also, wenn Ihnen das ein wenig den Druck nimmt, die Messlatte meiner Erwartungen liegt im Augenblick etwa anderthalb Meter unter der Erde. Enttäuschen können Sie mich gar nicht.«
Rodney legte den Filmstreifen in die Bildbühne eines Vergrößerers – eines nach unten zeigenden Geräts der Marke BESELER, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einer Arbeitsleuchte und einer altmodischen Balgenkamera – und schob das Negativ zwischen die Lampe und die Linse. Dann nahm er aus einer Blechkiste ein Blatt Fotopapier, 20 x 24 cm, und klemmte es an der Grundplatte fest. »Ich kann jetzt nur schätzen«, sagte er, »aber es sollte so wenig Licht wie möglich hier durchgehen, also habe ich das Objektiv ganz abgeblendet. Oh, und ich habe einen starken Filter eingeschoben, um jeden noch so geringen Kontrast, auf den wir mit ein wenig Glück stoßen, ordentlich zu verstärken.« Er betätigte einen Schalter, und Licht fiel nach unten durch die Linse und durch den Film und beleuchtete das weiße, leere Papierrechteck. Lass Licht uns werden, dachte ich, das Lied von Novaks Beerdigung hallte mir noch im Kopf nach.
Das Licht verlosch nach wenigen Sekunden, und ich war einen Augenblick blind während auf meiner Retina ein Negativbild zurückblieb, ein schwarzes, 20 x 24 cm großes Rechteck, das vor einem weißen Hintergrund schwebte, bis meine Augen sich wieder an das rote Sicherheitslicht gewöhnt hatten.
»Verdammt«, sagte ich. Das Blatt war leer.
»Immer langsam mit den jungen Pferden«, meinte Rodney. »Wahrscheinlich wollen Sie das in einer Minute noch mal sagen, aber noch sind wir nicht so weit. Das Bild erscheint erst, wenn wir das Fotopapier ins Entwicklerbad legen.« Er zeigte auf eine flache Metallschale, in der zwei, drei Zentimeter hoch eine klare Flüssigkeit stand. »Blass, wie das Bild war, zeigt es sich wahrscheinlich ziemlich schnell, falls etwas da ist. Dann muss ich es schnell ins Stoppbad tauchen, um den Entwicklungsprozess zu unterbrechen. Und dann wird es fixiert und gewässert.«
Schon komisch, dachte ich: Vor einer Woche – kurz bevor die Ereignisse im Leichenschauhaus ihre dramatische Wende genommen hatten – hatte Miranda die Fixierung von Leonards Gehirn vorbereitet. Jetzt sprach Rodney davon, dieses gespenstische Bild, das Novak hinterlassen hatte, zu fixieren.
Er nahm das Fotopapier und tauchte es behutsam ins Entwicklerbad.
Ich beugte mich vor. Ich wusste, dass ich auf nichts hoffen durfte, doch ich hoffte trotzdem.
Zehn Sekunden verstrichen, und das Papier blieb leer. Nach weiteren zehn Sekunden tauchte ganz allmählich ein Bild auf, wie etwas, was sich langsam aus dichtem Nebel materialisiert.
Als dreißig Sekunden verstrichen waren, konnte ich sagen, was dieses Etwas war. Ein junger Mann, ein junger Soldat, tauchte auf aus dem Nebel der Zeit. Er lag in einem flachen, frischen Krater in der Erde. Sein Kopf war zur Seite gedreht, und an seiner rechten Schläfe sah ich einen dunklen Kreis. Ich hatte eine Vermutung, was der dunkle Kreis war, obwohl ich mir nicht sicher sein konnte.
Eines war jedoch unverkennbar. Die offenen, stieren Augen waren die eines Toten.