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Ich kam im Herbst 1943 in einem Zug aus New York nach Tennessee, so weit entspricht das, was ich Ihnen erzählt habe, der Wahrheit. Aber ich kam nicht nur heim nach Tennessee. Ich

wurde hergeschickt.

Ich habe Ihnen erzählt, dass mein Vater starb, bevor meine Mutter mich in New York verließ, auch das ist wahr. Aber ich habe Ihnen nicht erzählt, dass er Gewerkschafter war und zu Tode geprügelt wurde, weil er 1933 in einem Stahlwerk in Chattanooga einen Streik mit organisiert hat. Er hat für den Verband der Industriearbeiter der Welt gearbeitet, eine Gewerkschaft, die hauptsächlich sozialistisch und kommunistisch orientierte Arbeiter anzog.

Ich war erst zehn, als er umkam, aber ich erinnere mich noch daran, wie er sagte, wenn Jesus in unserer Zeit zur Welt gekommen wäre, hätte er das Evangelium des Kommunismus gepredigt. Er liebte die Bibelgeschichte, wo Jesus die Menschenmassen satt machte, indem er Körbe mit Brot und Fisch herumreichte. Immer wenn er diese Geschichte erzählte, endete er mit den Worten: »Jesus war bestimmt ein Genosse im Geiste.« Im tiefen Süden macht man sich mit so etwas nicht unbedingt

Freunde.

Heute glauben die meisten Menschen, die Vorstellung von einer Atombombe sei während des Zweiten Weltkriegs außer einer Handvoll genialer Physiker niemandem bekannt gewesen, aber das stimmt nicht. Nachdem das Manhattan-Projekt begann, wurde die Sache unter Verschluss gehalten, aber davor wusste jeder auch nur halbwegs aufgeweckte Physikstudent, dass es möglich war. Im Frühling 1939 hielt die Amerikanische Physikalische Gesellschaft in Washington, D. C, eine öffentliche Konferenz ab, auf der hitzig über Kernspaltung und Atombomben diskutiert wurde. Die New York Times berichtete über die Veranstaltung und schrieb unter anderem, es sei ziemlich leicht, eine Atomexplosion herbeizuführen, die Manhattan vollkommen zerstören würde. Schon Jahrzehnte vorher – bis zurück ins Jahr 1914 – hat H. G. Wells vorhergesagt, ganze Städte würden von Atombomben zerstört werden. Erstaunlicherweise hatte Wells großen Einfluss auf Leo Szilard, den Physiker, der Albert Einstein überredete, Roosevelt den berühmten Brief zu schreiben. Also hat Szilard im Grunde dazu beigetragen, die Prophezeiung von H. G. Wells wahrzumachen. Und, was das angeht, auch die Prophezeiung von John Hendrix.

Einige Jahre, nachdem meine Mutter mich verlassen hatte, machte ich mich auf die Suche nach meinem Vater – nicht im wörtlichen Sinne, aber spirituell und intellektuell –, und ich hatte das Gefühl, ihm näher zu sein, wenn ich Zeit mit Gewerkschaftern, Sozialisten und Kommunisten verbrachte. In dem Sommer, als ich in der Flugzeugfabrik arbeitete, stellte einer meiner sozialistischen Freunde mich einem Russen namens Alexander vor, der sich sehr für meine Arbeit zu interessieren schien. Das war 1939, als allmählich klar wurde, dass die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges gegen Deutschland tragen würde. Alexander sprach davon, wie hoffnungslos der Luftkrieg mit den primitiven sowjetischen Flugzeugen sein würde. Im Sommer stibitzte ich schon Teile für ihn. Gegen Ende des Sommers gab er mir eine kleine Kamera, und ich machte Fotos von technischen Zeichnungen. Alexander gab mir das Gefühl, wichtig zu sein und schlau und mutig – alles, was ich bis dahin nicht gewesen war. »Du bist eine wahre Weltbürgerin«, sagte er, und ich glaubte ihm. Oder ich tat jedenfalls so, denn ich kam mir wichtig und besonders vor, wenn ich so etwas für Alexander tat.

Im Sommer 1943 machte Alexander mich mit zwei Physikern bekannt, die nach Los Alamos gingen. Sie erklärten mir, ein Großteil der Uranspaltung würde in Tennessee passieren. Die drei redeten mir zu, nach Knoxville zu gehen, mir Arbeit zu suchen und so viel wie möglich über den Vorgang in Erfahrung zu bringen. Ich erklärte mich einverstanden, und Alexander kümmerte sich für mich um einen Kontakt in Knoxville.

Als ich in Knoxville aus dem Zug stieg, erkundigte ich mich nach Arbeit und sagte, ich hätte gehört, in der Gegend gebe es Rüstungsbetriebe, die Arbeitskräfte bräuchten. Ich wurde praktisch vom Gehweg geschnappt und in einen Bus nach Oak Ridge verfrachtet. Ich hatte ein zehnminütiges Vorstellungsgespräch, das gerade lange genug dauerte, um zu erzählen, dass ich in New York verwaist sei und mein Onkel in Tennessee mir erzählt habe, hier würde ich womöglich Arbeit finden. Ich ging davon aus, dass sie viel zu viel zu tun hatten, um mich richtig zu überprüfen, und ich sollte recht behalten.

Mit ein bisschen Gerissenheit bekam ich einen Job am Calutron – mitten im Herzen derY-12-Anlage. Doch es war reines Glück, dass mir in jener Nacht, in der er Klavier spielte und sang, Leonard Novak über den Weg lief. Sie haben mich gefragt, wieso ich nicht wusste, dass Leonard homosexuell war. Ich wusste es. Ich wusste auch, dass Leonard mich heiratete, um jeglichen Verdacht bezüglich seiner sexuellen Orientierung zu zerstreuen. Doch Leonard wusste nicht, dass ich ihn heiratete, um Informationen über seine Arbeit zu erhalten. Ich bekam nicht viel aus ihm heraus, aber vielleicht waren seine Lippen bei seinen Liebhabern nicht so verschlossen.

Doch bei Jonah hatte ich einen Haupttreffer gelandet. Er war an dem Tag, als ich Calutron-Postergirl wurde, mit dem Fotografen Westcott unterwegs. Wenn Jonah nicht gewesen wäre, hätte ich nach zwei Jahren Arbeit nicht viel mehr vorzuweisen gehabt als Ablesungsdaten und die Geschichte, wie Lawrence das Calutron in die Luft jagte. Doch wie es der Zufall wollte, flirtete Jonah mit mir, während Westcott die Kamera und die Scheinwerfer für die Calutron-Fotos aufbaute, und prahlte damit, er sehe das geschäftige Treiben und die Genialität des Ganzen aus der Vogelperspektive. Da ging mir auf, dass er mein Auge in Oak Ridge sein konnte. Da ging mir auf, dass ich Jonah in mich verliebt machen musste.

Sobald er sich in mich verliebt hatte, war es nicht schwer, ihm die Idee einzugeben, dass wir mehr Zeit füreinander hätten, wenn er mir seine Geschichte des Projekts diktierte und ich sie tippte.

Ich wagte nicht, Durchschläge zu machen; stattdessen fotografierte ich Jonahs Manuskriptseiten, genau wie ich die Konstruktionszeichnungen in der Flugzeugfabrik fotografiert hatte. Meine Ablieferungsstelle für die Filme war auf dem Friedhof der presbyterianischen Kirche in der Innenstadt von Knoxville, ein Block hinter den Bars in der Gay Street. Es war nicht schwer, am Wochenende eine Mitfahrgelegenheit nach Knoxville zu finden – Leonard arbeitete achtzig Stunden die Woche, und solange ich mich nicht in Schwierigkeiten brachte, ließ er mich vor lauter Schuldgefühlen tun und lassen, was ich wollte. Alle machen ein großes Theater darum, Oak Ridge sei die Stadt hinter dem Zaun gewesen, doch die Wachleute durchsuchten hauptsächlich die Männer nach Waffen oder Fusel. Aber Wagenladungen voller junger, süßer Frauen, die in die Stadt fuhren, um sich zu amüsieren? Die Wachmänner beäugten uns ziemlich genau, aber sie suchten wahrlich nicht nach Filmspulen.

Im Sommer 1945 produzierten die Gasdiffusionskaskaden in der K-25-Anlage endlich merkliche Mengen von leicht angereichertem Uran, und die Calutrone in derY-12-Anlage taten das ihre, um daraus bombenfähiges Material zu machen. Leonards Chemiker im Graphitreaktor hatte herausgefunden, wie man Plutonium erzeugte und anreicherte, und die Produktion in den riesigen Reaktoren draußen in Hanford kam allmählich auf Touren. In den zwei Jahren, seit ich aus dem Zug gestiegen war, war alles zusammengekommen. Groves hatte die ganzen theoretischen Physiker und Chemiker zusammengetrommelt und um ihre Ideen herum riesige Fabriken errichtet, und verdammt wollten sie sein, wenn es nicht so funktionierte, wie sie es ausgetüftelt hatten.

Und Jonah Jamison schrieb alles nieder, verfasste die epische Saga von Oak Ridge. Er war ein guter Geschichtenerzähler, ein viel besserer, als ich es je war. Ich las jedes Wort, das er schrieb, und fotografierte alles ab.

Bis zu dem Tag, da er mich, kurz bevor wir uns dem Ende der Geschichte näherten, erwischte.

Leonard war – wie Sie wissen – in Hanford, und Jonah und ich waren unvorsichtig geworden. Er hatte seine Schreibmaschine mit zu mir gebracht, weil es in seinem Wohnwagen im Sommer heiß war wie in einem Backofen. Er hatte mir gesagt, er wäre den ganzen Vormittag weg, also legte ich, als das Licht gut war, einige Seiten des Typoskripts auf dem Küchentisch aus und machte mit meiner kleinen Minox-Kamera Aufnahmen davon. Vermutlich hatte ich vergessen, die Tür abzuschließen, denn sie ging ganz plötzlich auf, und Jonah stand da. Das Licht fiel hinter ihm herein, und er starrte mich an, starrte auf die Blätter auf dem Tisch, starrte auf die winzige Kamera in meinen Händen. Wir standen sicher mehrere Minuten nur so da und starrten einander an, dann trat er ein, schloss die Tür und packte mit der linken Hand mein Handgelenk. Sie haben übrigens recht, Bill – sein linker Arm und sein Griff waren sehr stark. Er verdrehte mir das Handgelenk, bis ich dachte, es würde knacken, und nahm mir mit der anderen Hand die Kamera ab.

Es war ein heißer Tag Anfang August, in einem Haus ohne Klimaanlage. Ich hatte nicht viel an, nur ein kurzärmeliges Hemd von Leonard, das nicht mal zugeknöpft war. Als Jonah mir den Arm verdrehte, öffnete sich das Hemd vorne, und Jonah betrachtete meinen Körper. Und obwohl er wusste, dass ich ihn verriet – wusste, dass ich alles verriet, worüber er schrieb –, sah ich, dass er mich trotzdem begehrte, zumindest in diesem Augenblick. Als ich diese Begierde sah, wusste ich, dass ich eine Chance hatte. Vielleicht sah er auch die Begierde in meinen Augen, vermischt mit Angst und Verzweiflung.

Wir stehen also da, er hat mein Handgelenk fest umklammert und nach hinten gedreht, mein Hemd steht weit offen, und Jonah nimmt mir die Kamera ab und legt sie auf den Tisch. Dann fährt er mir mit der Hand über die Kehle und am Körper hinunter. Ich zittere, und ich sehe, dass ihm das gefällt. Er hat die Zähne zusammengebissen, und seine Nasenflügel beben, sein Atem geht stoßweise, und er fängt auch an zu zittern, und dann fummelt er an den Knöpfen seines Overalls herum, in dem er dauernd herumlief.

»Ins Bett«, sage ich. »Bitte. Ins Bett.«

Er hebt mich hoch und trägt mich ins Schlafzimmer und wirft mich aufs Bett. Er reißt sich den Overall vom Leib und schmeißt sich auf mich und dringt in mich ein, beißt mich in den Hals, zieht mich an den Haaren. Ich weiß genau, dass er nicht lange brauchen wird, also drücke ich den Rücken durch und strecke die Arme über dem Kopf aus und greife unter das Kissen, wo Leonard, wie ich weiß, eine Pistole aufbewahrt. Und in dem Augenblick, als Jonah aufstöhnt, feuere ich die Waffe ab, und dann wird alles still.

Leonard kam am nächsten Tag nach Hause. Ich begrüßte ihn mit einem Drink an der Tür und erzählte ihm, dass etwas Schreckliches passiert war. Dann gestand ich ihm, dass ich untreu gewesen war – was keine Überraschung war – und dass Jonah mich gebeten hatte, mich scheiden zu lassen, damit ich ihn heiraten könnte. Als ich ihn abwies, habe Jonah mich bedroht, sagte ich. Ich zog die Waffe heraus, um mich zu schützen, doch Jonah riss sie mir aus der Hand und erschoss sich.

Ich flehte Leonard an, der Militärpolizei nichts zu sagen. Es würde uns beide ruinieren, sagte ich, und das stimmte. »Er ist wahrscheinlich schon ›unerlaubt von der Truppe entfernt‹ gemeldet«, sagte ich. »Was wäre denn, wenn er einfach verschwunden bleibt?« Er dachte darüber nach und stimmte mir zu, das sei womöglich das Beste. Am Abend wickelte er Jonahs Leiche und Jonahs Manuskript in eine Armeedecke und verstaute das Bündel im Kofferraum seines Autos.

Er hat mir nie erzählt, wohin er in jener Nacht fuhr. Er hat sich nie mit mir ausgesprochen und meine Geschichte nie in Zweifel gezogen. Aber so, wie er mich ansah, wusste ich, dass alle Zuneigung, wie verquer sie auch gewesen sein mochte, dahin war. Vergiftet, genau wie die Reaktoren in Hanford mit Bor vergiftet gewesen waren. Der Unterschied war nur, dass es keine Möglichkeit gab, die Sache zwischen uns zu bereinigen.

Eine Woche später merkte ich, dass ich schwanger war. Einen Monat danach hatte ich die Abtreibung, und sechs Monate später bat ich Leonard um die Scheidung. Ich musste ihm nicht erklären, warum, und er musste mich nicht danach fragen. Wir kannten inzwischen zu viele Geheimnisse des anderen, er und ich. Genug, um einander zu zerstören. Unser eigenes häusliches Gleichgewicht des Schreckens. Und wie den Supermächten gelang es auch uns, auf Zehenspitzen um Armageddon herumzuschleichen.

So, jetzt wissen Sie alles, Bill. Keine Cliffhanger mehr, aber auch kein Happyend. Nur eine alte Frau, die am letzten Kapitel ihrer Geschichte angekommen ist.