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Ich nahm nicht oft an Beerdigungen von Menschen teil, deren sterbliche Überreste ich untersucht hatte. Zum einen, weil ich in der Regel – auch wenn ich mich intensiv mit ihrem Körper beziehungsweise ihren Knochen befasst, quasi das Gerüst ihres Lebens studiert hatte – in keinerlei Beziehung zu ihnen stand. In Novaks Fall hatte ich die Knochen nicht einmal angefasst; nur Garcia hatte leider über einen längeren Zeitraum in engem Kontakt mit Novaks sterblichen Überresten gestanden. Doch als mir bewusst wurde, dass Novak Garcia und in geringerem Ausmaß auch Miranda und mich der Gammastrahlung ausgesetzt hatte, hatten das Wissen und die Sorge und die Angst in mir etwas auflodern lassen, was emotional genauso mächtig war wie radioaktive Strahlung und was mich mit aller Macht in diesen Fall hineinzog. Ich wollte helfen, den Kerl zu fassen, der Novak ermordet hatte, vorausgesetzt, es war tatsächlich ein bizarrer Mord und kein noch bizarrerer Selbstmord. Vor allem aber wollte ich helfen, den Kerl zu fassen, der meine Freunde Eddie und Miranda in Gefahr gebracht hatte, wenn auch sicher nicht mit Absicht. Wie lautete der militärische Begriff für Schäden durch ungenauen oder überdimensionierten Waffeneinsatz? Kollateralschaden. Eddie Garcias Knochenmark und Hände und Mirandas Fingerspitzen – falls der von Sorensen geschilderte GAU eintrat – mochten in den Augen eines Mörders geringfügige Kollateralschäden sein. Doch für mich bedeuteten sie schmerzliche Verluste.

Der andere Grund, der mich zu Novaks Beerdigung nach Oak Ridge gelockt hatte, war anthropologische Neugier. Als physischer Anthropologe befasste ich mich jahraus, jahrein mit den elementarsten und ganz greifbaren Resten von Menschen, ihren Knochen. Die menschliche Kultur dagegen – die Strukturen, die nicht aus Kalzium oder Muskeln oder Backsteinen oder Brettern zusammengesetzt waren – war bei mir in den Hintergrund getreten, bis auf die finsteren Randbereiche, wo Mord und Totschlag lauerten. Ich wusste zum Beispiel, dass Männer beim Töten eine besondere Vorliebe für Schusswaffen hatten, wogegen Frauen Messer oder Gift bevorzugten (obwohl diese traditionelle Geschlechtertrennung in den letzten Jahren zu verschwimmen schien). Ich wusste, dass Homosexuelle, wenn sie einen Partner töteten, oft zu »Overkill« tendierten, exzessiver, schockierender Gewalt, weit über das hinaus, was notwendig war, um ein Leben zu beenden. Ich hatte gelernt, dass die Chancen, ein Kind lebend wiederzufinden, das von einem pädophilen Sexualstraftäter entfuhrt worden war, nach vierundzwanzig Stunden gegen null tendierten. Der bekömmlichere Teil menschlicher Kultur spielte sich jedoch größtenteils außerhalb meines Gesichtsfelds ab, da mein Gesichtsfeld in der Regel von Bildern ausgefüllt war wie der Kerbe, die ein Messer in den Rippen hinterlassen hatte, oder dem Muster von Brüchen auf einem Schädel, auf den wiederholt mit einem Baseballschläger eingedroschen worden war.

Vor vielen Jahren hatte ich im Hauptstudium an Seminaren in Kulturanthropologie teilgenommen. Ich war, bildlich gesprochen, mit Franz Boas gereist, als er Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die fließenden Grenzen und sozialen Einheiten von Indianerstämmen der nordwestlichen Pazifikküste erforscht hatte. Ich hatte Margaret Mead über die Schulter geschaut, als sie in den 1920er-Jahren die freizügige sexuelle Vereinigung von Teenagern auf der südpazifischen Insel Samoa erforscht hatte. Doch Oak Ridge war eine einzigartige kulturelle Schöpfung: eine kleine, geheime, streng hierarchisch organisierte Enklave, in der zehntausende junger Männer und Frauen fast wie Arbeitsameisen in einem Ameisenhügel behandelt worden waren – bis auf eine Handvoll militärischer und wissenschaftlicher Führungskräfte, die den sozialen Status und das geheime Wissen besaßen, das traditionellerweise einer elitären Kaste von Hohepriestern vorbehalten war. Dies war für mich eine Gelegenheit, Oak Ridge durch die forschende Brille eines Anthropologen zu betrachten.

Jetzt nahm mich die seltsame Fallstudie Oak Ridge fast vollkommen gefangen. Seit ich vor wenigen Tagen die Leiche des Physikers aus dem Eis des schlammigen Swimmingpools gesägt hatte, ging Oak Ridge mir in meinen wachen Stunden kaum noch aus dem Kopf und verfolgte mich sogar bis in meine Träume. Wirklich erstaunlich fand ich aber, dass es so viele Jahre gedauert und eine so dramatische Wendung persönlicher Ereignisse erfordert hatte, um mein Interesse zu entfachen. Es war unmöglich, im Osten von Tennessee zu leben und nicht zu wissen, dass Oak Ridge beim Manhattan-Projekt und bei der Entwicklung der Atombombe eine zentrale Rolle gespielt hatte. Genauso bekannt war, dass Oak Ridge in den Jahrzehnten nach Hiroshima und Nagasaki dazu beigetragen hatte, Atome für friedliche Zwecke nutzbar zu machen, etwa in Form von Atomkraft und Radioisotopen für die medizinische Forschung und Behandlung. Über dieses oberflächliche Wissen hinaus hatte ich mir jedoch nie die Mühe gemacht, viel über Oak Ridges Anfänge nachzulesen oder nachzudenken. Als ich jetzt darüber nachdachte, staunte ich ein ums andere Mal darüber, wie tiefgreifend diese kleine Stadt nicht nur die Nation verändert hatte, sondern die ganze Welt. Wie hatte der alte Archimedes noch gesagt? Gebt mir einen festen Punkt im All, und ich werde die Welt aus den Angeln heben. Größer und stärker als die Atomenergie konnte kein Hebel sein – obwohl ein Dichter vermutlich einwenden würde, Liebe oder Hass könnten stärker sein, aber als Wissenschaftler würde ich diese Behauptung als zu abstrakt und wenig überzeugend zurückweisen –, und Oak Ridge war der Ansatzpunkt gewesen, an dem der atomare Hebel angesetzt hatte, um die Erde aus den Angeln zu heben.

Oak Ridge war natürlich nicht die einzige Einrichtung des Manhattan-Projekts. Daneben gab es noch Los Alamos in New Mexico, wo hunderte von Physikern und anderen Wissenschaftlern sich der Aufgabe widmeten, theoretische Physik in praktische Bomben zu verwandeln. Und es gab noch Hanford in Washington, wo riesige Reaktoren – maßstabgerecht vergrößerte Versionen von Novaks Reaktor in Oak Ridge – die entsprechenden Mengen an waffenfähigem Plutonium ausstießen. Doch Oak Ridge war die größte Einrichtung, und alles, was in Los Alamos und Hanford geschah, gründete auf den Fundamenten von Oak Ridge. Das allein machte die Stadt zu einem faszinierenden Forschungsobjekt.

Doch da war noch mehr. Etwa der ganze heroische und herzzerreißende Hintergrund zur geheimen Schöpfung von Oak Ridge: der Zweite Weltkrieg. Ich war erst ein Jahrzehnt nach der Kapitulation Deutschlands und Japans zur Welt gekommen, also wusste ich nur, was ich gelesen, gehört und gesehen hatte, und das war nur ein winziger Bruchteil der historischen Aufzeichnungen, Archivbilder und Geschichten aus erster Hand. Doch nach dem, was ich wusste, lagen darin wirklich die besten Zeiten und die schlimmsten Zeiten, das Beste der Menschheit und das moralisch Verderbteste.

Das Ausmaß von Grausamkeit, Leid und Verlust überstieg mein Begriffsvermögen. Die berühmteste Zahl war natürlich sechs Millionen: die Zahl der von den Nationalsozialisten im Zuge von Hitlers »Endlösung« ermordeten Juden. Doch weitere Zigmillionen waren gestorben: vierzig Millionen Zivilisten, hieß es, und fünfundzwanzig Millionen Soldaten. Obwohl rund vierhunderttausend US-Soldaten in dreieinhalb Jahren Krieg getötet worden waren – ein schrecklicher Tribut, sicherlich –, waren die amerikanischen Verluste nur ein winziger Bruchteil aller durch den Krieg zu beklagenden Toten. In China waren dem Krieg fast vier Millionen Soldaten und sechzehn Millionen Zivilisten zum Opfer gefallen, als die japanische Armee eine Schneise der Verwüstung durch das Land gezogen hatte. In der Sowjetunion waren ebenfalls mindestens zwanzig Millionen Menschen ums Leben gekommen, fast ebenso viele Soldaten wie Zivilisten, als die deutsche Armee sich auf ihrem langen und blutigen Russlandfeldzug aufrieb. Zweiundsiebzig Millionen Tote durch Bombardements, Feuerstürme, Massaker, Krankheiten, Verhungern. Wie war es möglich, überlegte ich, dass so viele Menschen in so kurzer Zeit starben, ohne dass das ganze Gefüge der Zivilisation aus den Fugen geriet? Und wie haben die zahllosen trauernden Überlebenden weitergemacht angesichts von so viel Leid?

Als mein Wagen diesmal über den Hügelkamm fuhr und ins Tal von Oak Ridge hinunterrollte, betrachtete ich den Ort mit neuen Augen. Vor einem globalen Hintergrund unerbittlichen, apokalyptischen Sterbens war dieser kleine Ort, der für moderne Augen so beliebig, provisorisch und gewöhnlich wirken mochte, Schauplatz der größten, komplexesten und dringlichsten Unternehmung gewesen, welche die Welt je gekannt hatte. Diese Unternehmung war umso erstaunlicher, als sie ohne Wissen der restlichen Welt vollbracht worden war. Bis ihr Ergebnis heller als tausend Sonnen über zwei Städten in Japan explodiert war.

 

Leonard Novaks letzte Ruhestätte war kaum einen Steinwurf vom Fundort seiner Leiche entfernt. Die Beerdigung fand in der United Church statt, in Oak Ridge nur Kapelle auf dem Hügel genannt, der kleinen historischen Kirche am Hang direkt oberhalb des Alexander Inns. Es schien ein passender Ort zu sein, um eines der zentralen Wissenschaftler des Manhattan-Projekts zu gedenken. Obwohl Novak schon vor langem in den Ruhestand gegangen war und obwohl Emert gesagt hatte, er sei kein Kirchgänger gewesen, war der Parkplatz neben der Kirche voll. Auch der verblasste Asphalt neben dem verlassenen Hotel füllte sich schnell, auch mit dem einen oder anderen Sendewagen eines Nachrichtensenders. Laut Emert hatte Novak nach seiner Pensionierung ein ruhiges, zurückgezogenes Leben geführt, doch sein bizarrer Tod hatte ihn posthum noch einmal mitten ins Rampenlicht befördert.

Ich parkte vor dem alten Hotel und ging einen Gehweg und eine lange Treppe zur Kapelle hinauf.

Die Kapelle auf dem Hügel war eines der ersten öffentlichen Gebäude, die beim Bauboom während des Krieges errichtet worden waren, und sie hatte ihren Beitrag zu den Kriegsanstrengungen geleistet, indem sie für Gottesdienste verschiedener Glaubensrichtungen und Konfessionen zur Verfügung gestanden hatte: Methodisten, Baptisten, Katholiken, Juden – alle hatten hier während des Krieges ihre wöchentlichen Gottesdienste abgehalten, hatten ihre Gebet- oder Gesangbücher kurz vor der entsprechenden Stunde im Gebäude ausgeteilt und sie nach dem Gottesdienst wieder eingesammelt. Oft sind Kirchen die meiste Zeit leer und ungenutzt, doch diese nicht. Während des Krieges hatte es kaum einen Augenblick am Tag gegeben, in dem nicht jemand gepredigt oder gebetet oder auf dem Harmonium geübt hatte. Ich hätte gern eine Aufnahme im Zeitraffer gesehen, die eine Woche Kommen und Gehen in, sagen wir, sechzig Sekunden zeigte, nur um zuzuschauen, wie das Kirchenportal auf und zu ging und das Gebäude rhythmisch Ströme von Kirchgängern ein- und ausatmete.

Die Kapelle war rappelvoll, drei Fernsehkameras standen auf Stativen hinten, und sämtliche Sitzplätze schienen besetzt zu sein. Ich überflog die Bänke und suchte einen freien Platz, doch ich fand keinen. Einen Augenblick später kam jedoch ein Platzanweiser von vorne den Mittelgang herunter und winkte mich nach vorn. Es waren keine Reihen für die Familie reserviert – Novak war als junger Mann kurz verheiratet gewesen, hatte es im Nachruf in der Zeitung geheißen, doch er hatte keine Kinder –, und so fand ich mich in der ersten Reihe auf einem Platz eingezwängt, der besser geeignet gewesen wäre für jemanden, der halb so breit war wie ich. Der ältere Mann zu meiner Linken, ich schätzte ihn auf siebzig, tat so, als bemerkte er mich nicht, während er sich gleichzeitig möglichst dünn machte und mit viel Getue, aber ohne merklichen Platzgewinn für mich, von mir wegrutschte. Zu meiner Rechten nickte eine noch ältere Frau – sie war sicher achtzig oder älter – leicht, als ich mich setzte, und wandte sich dann zu meiner Überraschung mir zu und sprach mich an. In einem Bühnenflüsterton, der wahrscheinlich noch drei Reihen hinter uns zu hören war, sagte sie: »Na, Gott sei Dank ist hier wenigstens einer unter sechzig. Wir haben Glück, wenn nicht drei oder vier von uns während des Gottesdienstes den Löffel abgeben.« Ich hätte am liebsten gelacht – sie mochte alt sein, doch sie war auf Draht und lustig –, aber es gelang mir, mich auf ein Lächeln zu beschränken, denn ein Lachen schien mir weder dem Ort noch der Gelegenheit angemessen zu sein.

Es gab keinen Sarg; stattdessen stand auf dem einfachen Holzaltar eine schlichte Messingurne. Wenige Stunden nachdem das FBI die Iridiumquelle aus Knoxville weggeschafft hatte, hatte Garcia im Gesundheitsministerium in Nashville angerufen, das daraufhin einen Medical Examiner geschickt hatte, um die Obduktion zu Ende zu bringen, sodass Novaks Leiche, die auch nicht frischer wurde, aus dem Leichenschauhaus weggebracht und eingeäschert werden konnte. Es hatte drei Personen erfordert – Garcia, Duane Johnson und Dr. Sorensen –, um den Rechtsmediziner aus Nashville davon zu überzeugen, dass Novaks von Radioaktivität zerfressener Körper nicht gefährlicher war als jede andere Leiche. Ich hatte gehört, wie Johnson ihm am Telefon die physikalischen Zusammenhänge erklärte. »Stellen Sie sich die Gammastrahlungsquelle als einen sehr starken Magneten vor, der auf Ihrem Tisch liegt«, hatte er gesagt. »Er strahlt ein starkes Energiefeld aus, bei einem Magneten ist es ein Magnetfeld, bei Iridium-192 Gammastrahlung. Wenn der Magnet Ihrem Computer zu nahe kommt, wird die Festplatte getoastet. Wenn die Gammastrahlungsquelle Ihrem Körper zu nahe kommt, nun …« Er verstummte, wahrscheinlich bedauerte er angesichts unserer Sorge um Garcias Hände das Wort »getoastet«. »Wie auch immer«, fuhr er fort, »sobald die Quelle weg ist, ist sie weg. Es bleiben keine Magnetschlieren auf Ihrem Tisch zurück, die nur darauf lauern, Ihre neue Festplatte zu zerstören. Weder im Waschbecken noch an der Leiche ist Radioaktivität.«

Am Ende jedoch war es wahrscheinlich nicht der Vergleich mit dem Magneten, der den nervösen Rechtsmediziner aus Nashville überzeugte, sondern Sorensens Angebot, ihm im Leichenschauhaus zu assistieren. Es war eine Sache, »Es ist vollkommen sicher« zu sagen, doch eine ganz andere, »Ich bin dabei, während Sie es machen« zuzusichern. Und für Sorensen, ging mir auf, war der Rest der Obduktion wahrscheinlich eine interessante Gelegenheit, mehr über die spezifischen Auswirkungen einer tödlichen Gammastrahlendosis zu lernen.

Die Leiche war von meiner Freundin Helen Taylor in einem der schimmernden Einäscherungsöfen im East-Tennessee-Krematorium eingeäschert worden. Auch Helen hatte die Vorstellung nervös gemacht, mit der Leiche umzugehen. Ich war Sorensens Beispiel gefolgt und hatte ihr angeboten, die sterblichen Überreste persönlich zu ihr rauszubringen. Sie hatte mir für das Angebot gedankt, aber gesagt, das sei nicht notwendig. Ich wusste, dass Novaks sterbliche Überreste und auch seine Asche vollkommen sicher waren. Trotzdem war mir beim Anblick der Messingurne auf dem Altar ein wenig gruselig. Nach und nach ging mir auf, dass das nicht an dem lag, was in der Urne war, sondern an einer Spur von Aberglauben in meinem Herzen, einer Angst, die in einer dunklen Ecke meiner Psyche keimte. Angst um Garcia und Miranda vielleicht. Das Gefühl, als läge schlechtes Karma in der Luft oder spiritueller Fall-out aus der Vergangenheit, der sich jetzt niederschlug.

Ich schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte mich auf das Lesepult, wo ein alter Mann eine Geschichte über Novaks Zerstreutheit erzählte, die anscheinend legendär war. »Und so steckten wir ihm einen Bleiklotz in die Aktentasche, um zu sehen, wie lange es dauern würde, bis er ihn bemerkte. Es ist ihm nie aufgefallen. Er hat das verdammte Ding monatelang mit sich herumgeschleppt.« Er lachte, und die Gemeinde fiel in sein Lachen ein, freute sich über seine Freude und darüber, dass der Mann die Kühnheit besaß, in einer Kirche »verdammt« zu sagen. Eine der wenigen tröstlichen Seiten des Alters, dachte ich: Man kann so ziemlich alles sagen, was man will, auch Ungeheuerlichkeiten, und die Leute lassen es einem durchgehen oder finden es sogar charmant. Neben mir spürte ich eine leichte Gewichtsverlagerung, dann merkte ich, dass meine Banknachbarin etwas auf ihr Programm kritzelte, mich anstupste und mir ihr Programm augenzwinkernd hinhielt. »Stimmt nicht«, stand da in krakeliger Schrift. »Es war Richard Feynman, der den Bleiklotz durch die Gegend geschleppt hatte, und es war in Los Alamos.«

Ich lächelte. Ich mochte sie. Sie war geistreich und hatte dazu etwas Subversives. Ihr Gesicht sagte achtzig, genau wie ihre Handschrift, doch das Weitergeben von kleinen Nachrichten sprach von einem schelmischen Schulmädchen.

Nachdem der alte Kollege noch einige Anekdoten erzählt hatte – einige heiter, andere eher ernst, übernahm ein Pfarrer das Feld, um Novaks Leben und Arbeit in einen philosophischen und theologischen Kontext zu stellen. Er sprach über Wissenschaft und Entdeckungen, über Galileo und Leonardo da Vinci – mit dem Novak sich den Vornamen geteilt hatte –, Kopernikus und Darwin. Er erinnerte uns daran, dass die Neugier unsere Vorfahren einst aus dem Meer aufs trockene Land gelockt hatte. Ich hatte den Verdacht, dass der oben erwähnte Darwin ihm da womöglich widersprochen hätte; ich konnte mich nicht erinnern, in Der Ursprung der Arten viel über Neugier gelesen zu haben. Doch dies war eine Predigt, keine Vorlesung, also genoss ich sie, wenn auch mit wissenschaftlicher Skepsis. Der Geistliche sprach noch eine Weile darüber, dass das Streben nach Wissen den Menschen auszeichnete. »Der göttliche Funke«, nannte er es. »Es gibt keinen helleren Funken als die Atomenergie«, fuhr er fort, um endlich den Bogen zu Oak Ridge und Novak zu schlagen. Er erzählte, wie Novak die Konstruktion und den Betrieb des Graphitreaktors geleitet hatte, wie er im Reaktorkern Plutonium hergestellt hatte, wie er den Schritt gemeistert hatte, der notwendig war, um dieses neue Element zu isolieren. »Die Kraft des Atoms entfesseln«, sagte er dramatisch. »Das Feuer im Herzen des Universums. Wie ein Prometheus des zwanzigsten Jahrhunderts hat Leonard Novak den Göttern das Feuer gestohlen.« Die Frau neben mir atmete scharf aus; es klang überraschend wütend. »Den Göttern das Feuer gestohlen«, wiederholte der Geistliche, und seine Stimme stieg an, als er sich von dem Mythos mitreißen ließ. »Ein kühner Diebstahl, der die ganze Welt verändert hat. Ein gefährlicher Diebstahl. Das Geschenk des Feuers, der Fluch des Feuers.« Er ließ den Blick über die Gemeinde schweifen und streckte die Arme aus, wie um uns zu umfassen. »Mögen diejenigen unter uns, die in dem Licht und der Wärme dieses prometheischen Feuers leben …«, jetzt hob er die Hände zur Decke und den Kronleuchtern dort, die wahrscheinlich mit Atomstrom brannten, »… mögen wir die Weisheit erlangen, dieses Feuer zum Guten nutzbar zu machen. Immer nur zum Guten.« Er stand schweigend da, die Arme immer noch hochgereckt.

»Oh, bitte.« Wieder im Bühnenflüsterton und überraschend laut in dem Schweigen, das dem großen Finale des Geistlichen gefolgt war. Ich sah, wie sich einige Köpfe zu meiner älteren Banknachbarin wandten, darunter auch der des Geistlichen. Bestürzung und Verärgerung huschten über sein Gesicht, dann sammelte er sich wieder und sagte den Schlussgesang an. Der Text war im Programm abgedruckt, das außer mir alle bekommen zu haben schienen. Unter Füßescharren und Geräusper erhoben wir uns, während der Organist eine Strophe spielte, um uns mit der Melodie vertraut zu machen.

Die Musik klang altertümlich und steif, wie etwas aus einem anderen Jahrhundert. Ich war noch nie ein großer Sänger gewesen, also machte es mir nichts aus, dass ich nicht mitsingen konnte. Doch es verunsicherte mich ein wenig, mit geschlossenem Mund und leeren Händen mitten in der singenden Menschenmenge zu stehen. Da spürte ich ein sanftes Stupsen am rechten Ellbogen. Meine Nachbarin schob ihr Programm ein wenig näher. Sie hielt die untere rechte Ecke mit einem knochigen Daumen und dem Zeigefinger gepackt, die Haut papieren und von blauen Adern durchzogen. Sie zuckte leicht mit dem Programm, um anzudeuten, ich sollte die linke untere Ecke festhalten. Es war sicher nicht nötig, dass wir es zu zweit hochhielten, doch das Blatt war wie eine Art Brücke, ein Band zwischen zwei Fremden, die zusammen auf einer Holzbank eingezwängt waren. Es war eine seltsam intime Geste. Zwei Fremde, verbunden durch ein Bindeglied und eine Geschichte mit einer Messingurne und der Asche darin, die einst Leonard Novak gewesen war. Zusammen sangen wir:

 

Lass Licht uns werden, Herr der Heeresscharen,

lass uns auf Erden Weisheit offenbaren.

Lass Menschlichkeit die Welt hernach regieren,

statt Prahlerei lass Taten dominieren.

 

In unsere bewegten Herzen pflanze ein,

den Gleichmut, der den Frieden bringt allein.

Mach zu Gesandten uns des neuen Lebens,

zu Advokaten deines hehren Strebens.

 

Lass Freundlichkeit und Sanftmut jetzt erblühen,

dass wir das Gute auch im andern sehen.

Lass Freundschaft wachsen, die für immer bleibt,

lass Liebe blühn, die alle Angst vertreibt.

 

Lass Leid und Kriege heut für immer enden

und uns ein neues Los auf Erden hier begründen.

Lass Lieb und Freundlichkeit nun sein hienieden,

schenk deinen ungeratnen Kindern endlich Frieden.

 

Während der Text des Kirchenliedes in mein Bewusstsein drang, beschloss ich, dem Geistlichen seinen erhitzten Vortrag nachzusehen. Der Beginn des Liedes passte zu seinem Bild vom »göttlichen Funken«, und das Ende, nun, ich fand, es erforderte Mut, die Beerdigung eines an der Entwicklung der Atombombe beteiligten Wissenschaftlers mit einem Appell gegen den Krieg zu beenden.

Halb rechnete ich mit einem Schnauben oder einem zynischen Rippenstoß, als das Lied in so viel Gutherzigkeit endete, doch nichts geschah. Und als die letzten Töne verklangen, schaute ich nach rechts und sah, dass der Frau neben mir, derselben Frau, die eben noch »Oh, bitte« gesagt hatte, die Tränen über die Wangen liefen.

Als der Gottesdienst vorüber war, wandte ich mich ihr zu. »Vielen Dank, dass Sie die Bank und das Programm mit mir geteilt haben.«

»Sehr gern«, sagte sie. »Sie sind Brockton, nicht wahr.« Ich nickte überrascht. »Sie sind der Typ, der den Leichen beim Verwesen zuschaut?«

Ich lachte. »Sie haben eine Art, sich auszudrücken. Woher wissen Sie das? Rieche ich schlecht?«

»Ich habe vor zwei Tagen im Oak Ridger ein Foto von Ihnen gesehen. Kommen Sie, wir gehen zur Hintertür raus. Ich will dem Prediger nicht die Hand schütteln müssen – das wäre uns bloß beiden peinlich.« Sie lotste mich durch eine Tür, die durch eine vollgestopfte Sakristei hinaus in den blassen Sonnenschein führte. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Keine fünfzig Meter vor uns ging eine Frau die Stufen hinunter und entfernte sich von der Kapelle … Jess Carter, meine tote Geliebte. Jedenfalls glaubte ich, sie wäre es. Ich sah eine auffallende Frau, die Jess’ schwarzes Haar und Jess’ geschmeidigen Körper hatte und sich bewegte wie Jess. Dann drehte sie den Kopf so weit, dass ich erkennen konnte, dass es nicht Jess war. Natürlich nicht: Es war fast ein Jahr her, dass Jess ermordet worden war. Ich hatte in Chattanooga an dem Gedenkgottesdienst für sie teilgenommen, hatte gesehen, wie ihre Asche auf einem Friedhof beigesetzt worden war, und ich hatte auf dem Gelände der Body Farm, da, wo ihr Mörder ihre Leiche hingeschafft hatte, eine Gedenkplatte für sie aufgestellt. Wie hätte Jess in Oak Ridge vor mir einen Hügel hinuntergehen können?

Jemand zupfte mich am Ärmel. Meine Begleiterin musterte mich scharf. »Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen«, sagte sie.

»Das dachte ich auch eben«, sagte ich. »Oder ich hoffte es. Tut mir leid. Sie haben gerade etwas über die Zeitung gesagt.«

»Oh, nichts Wichtiges. Nur, dass ich in dem Artikel über Novak Ihr Foto gesehen habe. Übrigens, wenn ich es richtig verstanden habe, haben Sie ein Souvenir dagelassen, als Sie die Leiche geborgen haben, nicht wahr, in ungefähr zweieinhalb Meter tiefem Wasser versenkt.« In ihren Augen blitzte der Schalk, als sie mit gekrümmtem Finger auf den Swimmingpool zeigte, der hundert Meter unter uns lag.

»Die haben über meine Kettensäge geschrieben?« Ich wollte seufzen, doch was herauskam, war ein Lachen. »Ich wünschte, sie würden sich beeilen und den Pool ablassen.«

»Das wird wohl noch ein Weilchen auf sich warten lassen«, sagte sie.

»Oh, es wird allmählich wärmer«, sagte ich, obwohl mir aufgefallen war, dass die rechteckige Öffnung, die ich ins Eis gesägt hatte, wieder zugefroren war. »Wahrscheinlich hat es in zwei Tagen so viel getaut, dass man ihn ablassen kann.«

»Es liegt ja nicht nur am Eis«, meinte sie. »Es wäre ein Wunder, wenn der Ablauf noch funktionieren würde. Das ganze Ding ist doch völlig marode.«

Selbst aus der Entfernung waren die abblätternde Farbe und das durchhängende Dach des Hotels gut zu erkennen. Genau wie das trübe Eis. »Es hat wahrlich bessere Tage gesehen.«

»Haben wir das nicht alle?«, sagte sie. »Haben wir das nicht alle? Dieses zerfallene Hotel ist ein ziemlich gutes Symbol für Oak Ridge und uns alle, die wir seit seiner Entstehung hier sind. Wir waren jung, klug und wichtig, standen am Scheideweg der Welt, wenigstens der Welt der Atomphysik. Und sehen Sie uns jetzt an. Die glorreichen Tage sind längst vergangen. Noch ein paar Jahre, und das Hotel ist Staub. Genau wie all die berühmten Menschen, die vor fünfzig Jahren auf seiner Veranda saßen und austüftelten, wie man die Bombe baut. Nein, vor sechzig Jahren. Nein, fünfundsechzig, verdammt. Oppenheimer, Fermi, Lawrence – sie sind alle längst tot. Novak war einer der Letzten. Solche gibt’s heute nicht mehr.«

»Sie haben ihn also gekannt?«

»Vor sehr langer Zeit«, sagte sie. »Ja, ich habe ihn gekannt. Da steckt eine Geschichte dahinter. Würden Sie sie gern eines Tages hören?«

»Ich glaube schon«, sagte ich. »Ich wette, Sie erzählen ziemlich gute Geschichten.«

»Kommen Sie mich besuchen«, sagte sie, »dann finden wir es heraus.«

Sie kramte in ihrer kleinen Handtasche herum und holte einen Stift heraus. Dann faltete sie das Programm des Gedenkgottesdienstes zusammen, damit es steifer wurde, schrieb ihren Namen, ihre Adresse und ihre Telefonnummer darauf und reichte es mir.

»Beatrice Novak« lautete ihr Name.

Ich machte große Augen. Sie lächelte ein wenig. »Ich war mit ihm verheiratet«, sagte sie. »Vor langer, langer Zeit.«