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Vierundzwanzig Stunden nachdem wir die Fahrtrage im Sektionssaal abgestellt hatten, war die Leiche immer noch halb gefroren, doch die Kleidung war immerhin schon aufgetaut. Wasser tropfte langsam durch den Ablauf am Fuß der Fahrtrage in den Spülstein, in den ich das untere Ende der Fahrtrage eingehakt hatte. Als Vorsichtsmaßnahme hatte ich über den Ablauf der Fahrtrage ein feines Drahtgeflecht gelegt, um Haare oder Fasern oder andere Fragmente aufzufangen, die sich beim Auftauen von der Kleidung lösten. Ich warf einen Blick auf das Geflecht und sah nur einige Bruchstückchen verwelkten Laubs, die vermutlich im Pool getrieben hatten, bevor er zugefroren war.
Detective Emert hatte Miranda und mich gefragt, ob wir der Leiche die Kleider abnehmen und sie im Leichenschauhaus aufhängen könnten. »Die Sachen müssen trocken sein, damit ich mit Klebeband darübergehen kann«, erklärte er, obwohl ich mir schon gedacht hatte, dass das der Grund für seine Bitte war.
»Klar«, sagte ich. »Deswegen müssen Sie nicht extra herkommen.« Es war nicht leicht, die gefrorene Leiche zu entkleiden, doch wir kriegten es hin. Als wir ihr die Hose auszogen, fiel mir auf, dass die Unterhose beschmutzt war. Der Mann hatte, wie es schien, Durchfall gehabt, die Flecken waren rötlichbraun, möglicherweise auch blutig. Ich machte mir eine Notiz, Garcia am nächsten Tag darauf hinzuweisen, wenn er die Obduktion durchführte.
Als Miranda und ich zum anthropologischen Institut zurückfuhren, rief ich Emert an. »Hallo, Detective, hier ist Dr. Brockton.«
»Hi, Doc«, sagte er. »Nennen Sie mich doch Jim.«
»Gern. Wir haben ihm die Kleider ausgezogen, bis morgen sind sie sicher trocken. Aber die Leiche selbst ist noch halb gefroren. Erinnert mich ans Thanksgiving-Dinner.«
Emert lachte. »Wie das?«
»Also, meine Frau – meine verstorbene Frau, sie starb vor einigen Jahren – hat immer einen tiefgefrorenen Truthahn gekauft, und dann vergaß sie jedes Mal, dass das Ding im Kühlschrank zwei Tage braucht, um aufzutauen. Also geriet sie am Morgen von Thanksgiving regelmäßig in Panik, wenn ihr einfiel, dass der Truthahn noch tiefgefroren war. Es lief Jahr für Jahr darauf hinaus, dass ich den dämlichen Vogel in der Badewanne in warmem Wasser badete, um ihn aufzutauen.«
»Hmm«, meinte Emert. »Und Sie haben auch nie daran gedacht, ihn rechtzeitig in den Kühlschrank zu tun?«
»Wenn ich ehrlich bin«, sagte ich lachend, »fand ich’s irgendwie lustig. Nach den ersten beiden Malen gehörte es schon so gut wie zur Familientradition. Gut möglich, dass Kathleen auch nur zum Spaß so getan hat, als hätte sie’s vergessen. Um mich zum Lachen zu bringen. Oder damit ich mich nützlich fühle.«
»Manche Frauen sind da unglaublich klug«, sagte er. »Meine Frau lässt mich jetzt an Thanksgiving und Weihnachten den Truthahn zubereiten. Ich frittiere ihn. Schon mal probiert?«
»Nein, aber ich habe gehört, dass es gut sein soll. Stimmt’s?«
»Wenn man es einmal probiert hat, will man nie wieder Truthahn aus dem Backofen.«
»Aber es ist anders als gebackenes Hähnchen, oder? Man tunkt ihn nicht in Teig, oder?«
»Nein, nein«, sagte er. »Man spritzt Marinade direkt ins Fleisch – meine Lieblingsversion ist eine ziemlich scharfe Cajun-Marinade –, und wenn man den Truthahn ins Öl gibt, bräunt das heiße Öl die Haut ziemlich schnell, und der ganze Saft bleibt drin. Dagegen ist ein Truthahn aus dem Backofen trocken wie eine Schuhsohle.«
»Klingt lecker«, sagte ich. »Ich wünschte, es wäre nicht noch zehn Monate bis Thanksgiving.«
»Wissen Sie was«, meinte er. »Wenn wir diesen Fall lösen, bereite ich Ihnen zur Feier des Tages einen frittierten Truthahn zu.«
»Abgemacht«, sagte ich. »Dr. Garcia hat die Obduktion auf morgen Mittag ein Uhr angesetzt. Passt Ihnen das?«
»Das ist das einzige Tötungsdelikt, an dem ich zurzeit arbeite«, sagte er. »Selbstverständlich passt mir das. Wie wäre es, wenn ich gegen halb eins komme, damit ich mir vorher noch die Kleider vornehmen kann?«
»Dann treffen wir uns an der Laderampe unter dem Universitätskrankenhaus«, sagte ich.
»Hey«, rief ich, als er am nächsten Tag den Kofferraum des weißen Crown Victoria öffnete. »Haben Sie meine Kettensäge da drin?«
»Tut mir leid«, meinte er, holte ein Beweismittelsicherungs-Set heraus und schloss den Kofferraumdeckel. »Wir konnten den Pool noch nicht leeren. Das Abflussrohr ist zugefroren, genau wie der Absperrhahn. Wir brauchen einige Tage über null Grad, damit es so weit taut, dass wir das Wasser ablassen können.«
»Können Sie nicht einfach eine Pumpe anschließen und es von oben rauspumpen?«
»Könnten wir, aber da hängt die dicke Eisschicht oben am Rand des Pools. Wenn wir das ganze Wasser darunter abpumpen, könnte eine Tonne Eis auf Ihre Kettensäge krachen und sie zerstören. Das wollen Sie doch nicht, oder?«
»Kaputt oder verrostet«, seufzte ich. »Ich weiß nicht, was das größere Übel ist.«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass sie rostet, solange sie unter Wasser ist«, sagte er. »Ich glaube, Rost bildet sich erst, sobald sie aus dem Wasser kommt – damit Stahl oxidieren kann, ist neben Feuchtigkeit auch Luft erforderlich.«
Das klang vollkommen logisch, wie er das so sagte. Bei Leichen gab es ein ähnliches Phänomen, nur um einiges gruseliger, das ich oft genug gesehen hatte. Weichgewebe, das normalerweise rasch verweste, verwandelte sich in einer feuchten Umgebung, etwa einem Keller oder einer Höhle, in eine wachsartige oder seifige Substanz namens Adipocire. Vor einigen Jahren hatte ich einen Fall in den Bergen von Cooke County gehabt, bei dem die Leiche einer jungen Frau – für Jahrzehnte in einer feuchten Höhle versteckt – sich in eine bemerkenswerte Adipocire-Mumie verwandelt hatte. War jedoch gar kein Sauerstoff vorhanden, verwandelte sich eine vollständig unter Wasser getauchte Leiche nicht in Adipocire.
»Wenn wir die Säge rausholen«, fuhr Emert fort, »legen wir sie sofort in einen mit Wasser gefüllten Mülleimer, damit kein Sauerstoff drankommt, bis Sie damit zu jemandem gehen können, der sie auseinandernimmt und trocknet.«
In einer Ecke der Laderampe bemerkte ich einen leeren Plastikmülleimer, der auf der Seite lag. Ich holte ihn und reichte ihn Emert. »Passen Sie gut auf mein Baby auf«, sagte ich. Er lachte und legte ihn in den Kofferraum.
Emert klebte die Kleidung sorgfältig mit Klebeband ab. Die Klebeseite des Bands würde Haare und Fasern aufnehmen, genau wie die Fusselrolle, die ich zu Hause hatte. Ich hatte schon oft dabei zugesehen, doch Emerts Klebeband hatte eine Plastikrückseite, die ich noch nie gesehen hatte. »Das ist eine ziemlich neue Sorte«, sagte er. »Die Oberseite ist wasserlöslich. Sobald ich fertig bin, gebe ich das Ganze in warmes Wasser, dann löst sich das Band auf. Haare und Fasern bleiben im Wasser. Man schüttet das Wasser durch eine Filtertüte und hat, voilà, alles hübsch beisammen.«
Sobald Emert gründlich über die Kleider gegangen war, machte er sich daran, die Hosentaschen zu überprüfen. Er schob eine behandschuhte Hand in beide Vordertaschen und brachte einen Schlüsselbund und einige Münzen zum Vorschein. Dann tastete er den Hosenboden ab, links und rechts, um die Gesäßtaschen zu überprüfen. Die linke war leer, doch als er die rechte abtastete, sah ich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Vorsichtig knöpfte er sie auf, schob eine Hand hinein und holte eine abgewetzte Lederbrieftasche heraus. Er legte sie auf ein saugfähiges Wattepad und schlug sie behutsam auf.
Und machte große Augen. Ich richtete den Blick darauf, um zu sehen, was er entdeckt hatte, und sah hinter einem klaren Plastikfenster in einer Seite der Brieftasche etwas, was verdächtig nach einem Führerschein des Staates Tennessee aussah. »Wow«, sagte Emert. »Kein Wunder, dass er mir irgendwie bekannt vorkam.«
»Wer ist er?« Statt einer Antwort hielt Emert die Brieftasche hoch, damit ich einen Blick darauf werfen konnte. LEONARD M. NOVAK stand in kleinen Druckbuchstaben auf dem Führerschein. »Novak«, sagte ich. »Da klingelt etwas im Hinterkopf, aber nur ganz leise.«
»In Oak Ridge ist Dr. Leonard Novak eine lebende Legende«, sagte er. »Oder war es jedenfalls. Er war einer der Top-Wissenschaftler damals beim Manhattan-Projekt und hat eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Atombombe gespielt. Das letzte Foto, das ich von ihm gesehen habe, wurde wahrscheinlich vor zwanzig Jahren aufgenommen. Damals war er noch ein Youngster von knapp siebzig Jahren.«
»Ein großer Fisch«, sagte ich, »in so einem kleinen, gefrorenen Gewässer.«
»Ein sehr großer Fisch«, sagte er.
»Aber niemand hat ihn als vermisst gemeldet?«
»Nein«, sagte er. »Der Einzige, der in den letzten sechs Monaten als vermisst gemeldet wurde, ist ein Teenager, der von zu Hause weggelaufen ist.«
»Den Kerl kann man wohl kaum mit einem Teenager verwechseln. War er verheiratet?«
»Ich weiß nicht«, sagte Emert. Wir richteten beide den Blick auf die linke Hand des Toten, die keinen Ehering trug. »Vielleicht nicht. Vielleicht war er auch Witwer. Es hat wohl niemand regelmäßig nach ihm geschaut.« Sanft drückte er in den Oberschenkel und in den Bauch der Leiche. »Sind Sie sicher, dass unser Vogel hier genug aufgetaut ist, um ihn zu obduzieren?«
»Wenn er ein Truthahn wäre«, sagte ich, »würde ich allmählich den Backofen vorheizen.«
Er sammelte die Asservatenbeutel mit den Münzen, den Schlüsseln und der Brieftasche sowie das Klebeband zusammen und brachte alles hinaus zu seinem Auto an der Laderampe.