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»Wo möchten Sie zu Abend essen?«

Die Frage überraschte mich. »Verzeihung?« Ich hielt das Handy ein Stück vom Ohr weg und linste in der Hoffnung auf rasche Erleuchtung auf das Display. Doch die Nummer war mir unbekannt, auch wenn ich an der 482 sah, dass der Anruf aus Oak Ridge kam. »Oh«, sagte ich, und auf meinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ich finde, Sie sollten wählen. Da ich vermute, dass Sie den Jackpot geknackt haben. Oder die Scheune gefunden.«

»Vielleicht«, sagte Isabella, die Bibliothekarin. »Wenn ich mich irre, erstatte ich es Ihnen zurück. Aber ich glaube nicht, dass ich mich irre.«

»Dann wählen Sie ein gutes Restaurant aus«, sagte ich. »Das beste in Oak Ridge.«

»Das beste in Oak Ridge? Das ist leicht.«

Neunzig Minuten später parkte ich meinen Pick-up auf dem Parkplatz neben dem Wildcat Stadion, dem Highschool-Football-Feld in Oak Ridge, einem der frühesten Wahrzeichen der Stadt. Das ursprüngliche Highschool-Gebäude war längst abgerissen und durch einen weitläufigen modernen Komplex ersetzt worden, der drei Kilometer von hier an der Turnpike lag, direkt gegenüber von Isabellas Stadtbücherei, doch das Stadion war noch da. In einer natürlichen Senke am Rand von Oak Ridge gelegen, kam einem das Stadion – das im Laufe der Jahre ziemlich viele Champions beheimatet hatte – vor wie ein typisches Kleinstadt-Amerika. Von da, wo ich parkte, konnte ich das Stadion sehen, die Kapelle auf dem Hügel und das Alexander Inn. So dicht zusammen wirkten sie wie eine Art architektonische Dreieinigkeit, die das menschliche Spiel, eine heilige Stätte und einen wissenschaftlichen Scheideweg verkörperte. Ein gewaltiges Erbe für eine so kleine Stadt.

Ich überquerte den Broadway, die zwei Blocks lange Straße, die das Football-Feld vom Jackson Square trennte, schlenderte unter Markisen den Bürgersteig entlang und betrat das beste Restaurant in Oak Ridge – und eines der besten im Osten von Tennessee: Big Ed’s Pizzeria.

Big Ed war die Schöpfung von Ed Neusel, und der Spitzname war eigentlich eine Untertreibung. Big Ed war – wie jeder, der ihn einmal auf einem Barhocker im hinteren Bereich der Pizzeria hatte hocken sehen, bestätigen konnte – ein Koloss von einem Mann gewesen. Er war längst in die große Pizzaküche im Himmel eingezogen, doch sein Erbe und sein Ebenbild lebten weiter. An der Glasfront des Restaurants prangte eine überlebensgroße Karikatur von Big Eds Gesicht. T-Shirts mit demselben Bild – und dem Zitat HIER KNETET DER CHEF – waren bei Touristen, die Oak Ridges Beitrag zur Geschichte und zur Kochkunst zu schätzen wussten, heiß begehrte Souvenirs.

Die Küche war offen und nahm eine Längshälfte des schmalen Restaurants ein. Hinter der Theke, die die Küche vom Speiseraum trennte, drängten sich acht oder zehn Highschool-Kids – alle in Big-Ed-T-Shirts – unter Leuchtstoffröhren, drehten Teigscheiben, verteilten Belag, schoben Pizzas in eine Wand voller Öfen und holten sie wieder heraus. Ed Neusel war immer bereit gewesen, einem jungen Menschen einen Job zu geben, und es freute mich, dass seine Grundsätze seinen Tod genauso überlebt hatten wie seine Pizzarezepte.

Im Speiseraum war es dunkel wie in einer Höhle – schwarze Decke, dunkler Holzfußboden, schmuddelige Zwischenwände, trübes Licht. Das war wahrscheinlich gut so, denn ich spürte, wie mir der Fuß ein wenig wegrutschte, auf Fett oder Tomatensoße oder einer Mischung aus beidem, bis mein Schliddern von einer klebrigen, halb eingetrockneten Bier- oder Limonadenpfütze gebremst wurde. Wahrscheinlich hing an irgendeiner Wand die Beurteilung eines Kontrolleurs vom Gesundheitsamt, aber ich wollte sie gar nicht sehen.

Ich suchte in dem düsteren Raum nach Isabella, doch ich konnte sie nirgendwo entdecken. Allerdings konnte ich auch kaum jemanden ausmachen, obwohl der Laden voll war. Sämtliche Tische hätten mit Mitgliedern des Lehrkörpers und mit Studierenden des anthropologischen Instituts besetzt sein können, und ich hätte keinen von ihnen erkannt.

Im Rücken spürte ich einen kalten Windstoß, als die Tür zur Straße aufging. »Hi.« Wieder hörte ich ihre Stimme dicht hinter mir. Sie hatte eine Art, sich an mich heranzuschleichen, die mir allmählich gefiel. »Wir hatten nach Dienstschluss noch eine Mitarbeiterversammlung, die nicht enden wollte. Jemand hat die scharfen Gemälde aus den Kunstbüchern ausgeschnitten, und wir haben überlegt, wie wir ihn erwischen wollen.«

»Kunstdiebe in der Stadtbücherei von Oak Ridge«, sagte ich. »Wer hätte das gedacht? Ist denn nichts mehr heilig?«

»Vielleicht war es Diebstahl, vielleicht auch Zensur«, sagte sie. »Schwer zu sagen. Wie auch immer, den Büchern tut’s nicht gut. Sollen wir uns setzen?« Sie nickte zu einer Sitzecke in einer schmalen Nische direkt hinter der Tür, und wir schoben uns auf gegenüberliegende Bänke. Von den Leuchtstoffröhren aus der Küche drang ein wenig Licht in die Nische – nicht so gut für den Appetit, aber hilfreich, um mein Gegenüber anzusehen, während sie sprach. Sie reichte mir eine Speisekarte – eine einfache Karte, die verschiedene Größen und Beläge aufführte, das Papier durchscheinend vom Fett. »Was mögen Sie?«

»Ungefähr alles, außer Oliven«, sagte ich. »Peperoni, Würstchen, Schinken, was auch immer. Und Sie?«

»Ich bin Vegetarierin«, sagte sie. »Wie wäre es, wenn wir zwei bestellen? Eine für Sie und eine für mich?«

Eins von den Highschool-Kids, ein schlaksiger Rothaariger, der zu seinem T-Shirt zerrissene Jeans und rote, hohe Converse-Turnschuhe trug, kam unsere Bestellung aufnehmen. Ich bestellte eine Cola und eine kleine Pizza Hawaii mit gekochtem Schinken, Ananas und Zwiebeln. Sie verzog das Gesicht und bestellte für sich dann ein Bier und eine vegetarische Pizza Speziale. Der Junge notierte alles und wandte sich zum Gehen, drehte sich jedoch noch einmal um. »Die vegetarische auch klein?«

»Ähm, nein«, sagte sie. »Eine große bitte.«

Ich lachte. »Sie sind mir ja eine.«

»Hey, Sie bezahlen. Und die Reste will ich mit nach Hause nehmen.«

Ich rief die Bedienung zurück und änderte meine Bestellung ebenfalls in eine große.

»Also«, sagte ich dann zu ihr, »Sie haben etwas für mich, das eine große vegetarische Pizza Speziale und ein Bier wert ist?«

»Wenn Sie anderer Meinung sind«, sagte sie, »teilen wir die Rechnung.«

Sie zog eine Handvoll Servietten aus dem Spender, der an der Wand stand – dünne, hauchzarte Servietten, die eher geeignet waren, einen Brotkrümel von einer gepuderten Wange zu tupfen, als Fett und Soße aufzusaugen –, und wischte damit den Tisch ab. Dann griff sie in ihre Umhängetasche und holte eine Zeitschrift heraus, auf deren Umschlag ORNL Review stand. Ich hatte eine oder zwei Ausgaben davon gesehen; sie wurde vom Oak Ridge National Laboratory herausgegeben und enthielt eine bunte Mischung an Artikeln – einige oberflächlich, andere fachlich viel zu hoch für mich –, die einen Überblick darüber boten, was man heutzutage in den Bereichen Wissenschaft und Energie für eine Milliarde Dollar bekam. Deine Steuer-Dollar bei der Arbeit, dachte ich immer, wenn ich auf eine Ausgabe der Zeitschrift stieß. Aber lieber in Oak Ridge und lieber im Dienste der Wissenschaft als an vielen anderen Orten, die mir da spontan einfielen.

Sie schlug die Zeitschrift auf, und ich sah, dass zwischen den Seiten ein Abzug von Novaks Foto steckte. Sie drehte die Zeitschrift und das Foto zu mir hin, und zwar so, dass das Foto eine der Doppelseiten verdeckte – vermutlich, um es besonders spannend zu machen. Das war für mich in Ordnung, ich genoss das hier. Es kam mir vor wie ein Tanz, es war das Intimste, was ich getan hatte, seit ich Jess, die ich geliebt hatte, vor noch nicht mal einem Jahr verloren hatte.

»Das ist also Ihr Foto«, sagte sie. »Nicht viele Anhaltspunkte. Wald, Hügel, Scheune. Das hilft hier im Osten von Tennessee wenig, um die Sache einzugrenzen.« Bekümmert schüttelte ich den Kopf, um anzudeuten, dass ich wusste, dass die Sache hoffnungslos war, dass es eines Wunders oder eines Genies bedurfte, oder beides, um dieses Rätsel zu lösen. »Ich tue so, als würde ich nicht merken, dass Sie sich über mich lustig machen«, sagte sie. Ich lachte, und sie stimmte ein. »Egal. Nachdem Sie weg waren, habe ich mir das hier immer wieder angeschaut, und mir war, als hätte ich die Scheune schon mal gesehen. Klar, wenn man etwas nur lange genug anstarrt, spielt einem das Hirn solche Streiche, nicht?« Ich nickte, doch diesmal nicht neckend, denn ich hatte gemerkt, dass ich sie anstarrte, und mein Hirn spielte mir just in diesem Augenblick auch so seine Streiche. »Also. Ich habe einige Stammkunden, regelmäßige Besucher, die gern im Oak-Ridge-Raum herumhängen. Hauptsächlich alte Leute, Menschen, die all das miterlebt haben, was wir in den Regalen archivieren. Sie schwelgen gern in Erinnerungen.«

»Klar«, sagte ich. »Mich fasziniert es auch, dabei ist es nicht mal meine Geschichte.«

»Genau«, sagte sie. »Also, zu meinen Stammkunden, oh, hören Sie bloß auf«, schalt sie mich und versetzte mir einen sanften Tritt, weil ich schon wieder mit den Augenbrauen wackelte, »zu meinen Stammkunden gehörte auch Ed Westcott, der Fotograf, der die ganzen Fotos in den Aktenordnern gemacht hat. Seine Aufgabe war es, alles zu dokumentieren, das Manhattan-Projekt für die Nachwelt auf Film zu bannen. Im Gegensatz zu anderen – mit Ausnahme vielleicht von General Groves und Colonel Nichols – konnte Westcott sich überall frei bewegen, sich ansehen, was ihn interessierte, und nach Lust und Laune alles fotografieren. Ziemlich erstaunlich, wenn man darüber nachdenkt. Er hatte vor zwei Jahren einen Schlaganfall, und er hat Probleme mit dem Sprechen, also kommt er nicht mehr oft in die Stadtbücherei. Aber er ist vollkommen klar im Kopf, und er schreibt E-Mails. Also habe ich ihm Ihr Foto per E-Mail geschickt. Und Ray Smith, der für zwei Zeitungen Kolumnen über die Geschichte von Oak Ridge schreibt. Ich dachte, wenn jemand die Scheune wiedererkennt, dann entweder Ray oder Ed.« Sie machte eine Pause und lehnte sich zurück, um meine Reaktion auf das, was sie bislang gesagt hatte, abzuwarten.

Vielleicht lehnte sie sich auch nur zurück, damit der Highschool-Junge unsere Getränke auf den Tisch stellen konnte. Meine Cola wurde in einem Pappbecher serviert, ihr Bier in einem beschlagenen Glaskrug. Big Ed oder seine Nachfolger fanden offensichtlich, Bier stehe in der Getränkerangliste höher als Cola. Sie hob den Krug, also hob auch ich meinen Becher zum Toast. »Auf die historische Detektivarbeit«, sagte ich, und wir stießen an. Der Pappbecher brachte weder ein zufriedenstellendes Geräusch noch ein solches Gefühl zustande, doch die Geste kam mir trotzdem feierlich vor. »Und war einer dieser Stammgäste in der Lage, Licht auf das Geheimnis der Scheune zu werfen?«

Sie legte die Hand auf das verschwommene Foto und schob es, ohne den Blick von meinen Augen zu nehmen, von der Zeitschrift. Ich schaute darauf, und da war es, auf der Seite abgedruckt. Vor dem Hügel stand eine schlichte, fensterlose Holzscheune mit einem hohen, schlanken Silo an einem Ende. Doch hier hatte ich kein Foto vor mir, sondern eine Illustration, eine Art architektonische Zeichnung. Als ich den Artikel dazu las, hörte ich mich wiederholt »Hmm« und »Hmm« sagen. Die »Scheune«, las ich, war gar keine Scheune, obwohl sie mit Bedacht so gestaltet worden war wie eine. Es war der getarnte Zugang zu einem unterirdischen Lagerbunker für bombenfähiges Uran-235, das kostbare Produkt, das Beatrice von Tonnen von Uran-238 zu trennen geholfen hatte. Sämtliches U-235, das während des Zweiten Weltkriegs in Oak Ridge produziert worden war, hätte – leicht tödlich, aber leicht – in zwei Schuhkartons gepasst. Doch zur Produktion dieses Urans waren hunderte von Wissenschaftlern, zehntausende von Arbeitern und hundert Millionen von knappen Kriegsdollars erforderlich gewesen. Die Nation hatte – auch wenn nur eine Handvoll Menschen davon wussten – ziemlich viel auf den Wurf dieses wissenschaftlichen Würfels gesetzt. Kein Wunder also, dass General Groves das U-235 gut verstecken wollte.

Das Silo neben der Scheune war in Wirklichkeit ein Wachturm aus Stahlbeton, wusste der Artikel zu berichten. Bei genauerer Betrachtung der Zeichnung entdeckte ich unter dem überhängenden Blechdach des Silos versteckte Fenster mit kugelsicherem Glas, wie es in dem Artikel hieß. Unter den Fenstern waren dünne Schlitze in Fächern aus dickem Stahl: Schießöffnungen für Maschinengewehre.

Ich nahm Novaks Foto zur Hand. Die Qualität war miserabel, aber nicht so miserabel, als dass ich nicht hätte erkennen können, dass die Proportionen des Gebäudes und des Silos darauf denen des Uranbunkers entsprachen. Sicher, die Perspektive war eine andere – die Zeichnung war aus ebenerdiger Perspektive angefertigt worden, während Novaks Foto irgendwo von oben, durch eine Lücke in den Bäumen nach unten blickend, geschossen worden war. Doch die Ähnlichkeit war unverkennbar. Selbst das Dach des Silos – ein seltsamer, achteckiger Hut von einem Dach und keine runde Kuppel, wie sie auf den meisten Silos zu finden war – stimmte exakt überein.

Unser Essen kam, also schlug ich die Zeitschrift mit dem Foto darin zu. Die beiden Servierteller aus Aluminium füllten den ganzen Tisch. Die Pizzasoße dampfte, der Käse war geschmolzen, und die einzelnen Stücke waren riesig. Nachdem er die Tabletts abgestellt hatte, reichte der Kellner uns je eine Plastikgabel, dünne Dinger, wie ich noch nie welche gesehen hatte, und einen winzigen Pappteller – nicht größer als Unterteller, ehrlich – für die riesigen, fetttriefenden Pizzastücke. Big Ed, dachte ich, ist irgendwo da oben und lacht sich schlapp über uns.

Und auch das fand ich in Ordnung.

 

Wir verließen das Restaurant mit zwei Resteschachteln, die sich unter ihrem schweren, fettigen Inhalt schon durchzubiegen drohten, als wir die Straße überquerten und den Parkplatz des angrenzenden Footballfelds betraten. Isabella hatte gesagt, ich könnte die Zeitschrift behalten, und ich hatte sie mit dem Foto zusammengerollt und in eine Gesäßtasche gesteckt. Ich fühlte mich nicht befugt, ihr Einzelheiten zu erzählen, aber ich sagte, es könnte sein, dass in der Nähe der Stelle, von der aus das Foto aufgenommen worden war, jemand begraben lag.

»Hab ich’s doch gewusst«, sagte sie.

»Woher?«

»Tote Menschen sind Ihr Ding«, sagte sie. »Damit befassen Sie sich. Sie liegen Ihnen am Herzen. Wenn Sie sich so viel Mühe geben, kann es nur um einen Toten gehen.« Oberflächlich mochten ihre Worte wie eine Beleidigung oder ein Vorwurf klingen, doch in ihrem Tonfall war nichts, was andeutete, dass sie so gedacht waren. Sie brachte nur zum Ausdruck, wie sie mich sah, und ihre Einschätzung war zwar unsentimental, aber zutreffend.

»Und was ist Ihr Ding? Bücher?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Ich habe einen Magister in Geschichte, ich habe meine Magisterarbeit über das Manhattan-Projekt und Oak Ridge geschrieben.«

»Sind Sie in Oak Ridge aufgewachsen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Louisiana.«

»Und wie kamen Sie darauf, sich für die Geschichte von Oak Ridge zu interessieren?«

»Eine Familienverbindung«, sagte sie. »Mein Vater. Und meine Großmutter.«

»War sie eines der Calutron-Mädchen, die in der Y-12-Anlage Uran angereichert haben?«

»Nein.« Sie zögerte. »Sie hatte mit Plutonium zu tun. Mit der Arbeit im Graphitreaktor.«

»Physikerin? Chemikerin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts so Hochtrabendes«, sagte sie. »Hören Sie, ich muss gehen. Vielen Dank für die Pizza und die nette Gesellschaft.«

»War mir ein Vergnügen«, sagte ich. »Beides. Wo haben Sie geparkt?«

»Gar nicht«, sagte sie. »Ich wohne gleich da den Hügel rauf. Ich gehe zu Fuß.«

»Ich fahre Sie«, bot ich ihr an, doch sie schüttelte den Kopf.

»Es gibt eine Abkürzung über das Footballfeld«, sagte sie. »Es ist nicht weit, und ich gehe gern ein paar Schritte.«

»Dann begleite ich Sie. Und da Sie keine Bücher dabeihaben, trage ich Ihre Pizza.«

»Danke, aber ich komme zurecht«, sagte sie. »Oak Ridge ist sehr sicher. Also, abgesehen von dem einen oder anderen bizarren Mord.«

Ich lachte. »Erlauben Sie mir, Sie wenigstens ein Stück zu begleiten. Bis wir an den dunklen Stellen vorbei sind, wo die Monster lauern.« Ich zog sachte an der Pizzaschachtel.

Sie gab nach, und wir schlenderten gemächlich den gepflasterten Weg zum Footballfeld hinauf. Am hinteren Ende des Footballfelds bog sie auf einen Fußweg ab, der zu einer weiteren großen Rasenfläche hinaufführte. Wie das Footballfeld lag sie in einer natürlichen Senke, doch diese Senke wurde von Bäumen gesäumt statt von Tribünen. Die Lichter der Häuser aus den 1940er-Jahren schienen durch die kahlen Bäume. »Das ist ein Trainingsplatz«, sagte sie. »Hier macht die Footballmannschaft Konditionstraining, und die Fußballer nutzen ihn auch.« Am hinteren Ende des Trainingsplatzes begann dichter Wald. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte sie. »Hier ist ein tiefes Loch. Da fängt ein Regenwasserkanal an. Der läuft unter den Rasenplätzen durch und den Hügel runter zur Turnpike. Wenn Sie da reinfallen, finden wir Sie womöglich erst, wenn der Frühlingsregen Sie in der Nähe der Stadthalle rausschwemmt.«

Ich spähte in die Dunkelheit, konnte aber nicht viel erkennen. »Haben Sie das Ding da unten erforscht? Klingt, als würden Sie sich hier gut auskennen.«

»Nur auf dem Papier«, sagte sie. »Ich habe Karten. Also, im Oak-Ridge-Raum gibt’s Karten – die alten Manhattan-Projekt-Pläne aus der Zeit, als Straßen und Abwasserkanäle verlegt wurden. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf Erden, der die Karte des Abwasserkanalsystems von 1945 interessant findet.«

»Einige von uns mögen Tote, andere Pläne von Abwasserkanälen«, sagte ich. »Es gibt eben solche und solche. Ich finde es interessant, dass Sie so etwas interessant finden.«

Sie zeigte auf eine Öffnung zwischen den Bäumen. »Da ist der Gehweg rauf in meine Straße«, sagte sie. »Vielen Dank noch einmal. Es war sehr nett.«

Bevor ich wusste, wie mir geschah, machte sie eine rasche Bewegung auf mich zu und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann schoss sie durch die Lücke zwischen den Bäumen in die Dunkelheit davon.

»Warten Sie«, rief ich. »Ihre Pizza.«

Ich lauschte auf Schritte, aber alles, was ich hörte, war der Winterwind, der durch die kahlen Äste fuhr. Der Wind war frostig, doch meine Wange war warm.