14

Vor langer Zeit, Bill, loderte Oak Ridge vor Genialität und Vitalität, und Leonard Novak und ich brannten im Herzen der Flamme.

Es war nicht nur die Arbeit, denn für die meisten von uns war die Arbeit der langweilige, monotone Teil, die Schichten waren lang und die Arbeit entweder körperlich anstrengend oder verblödend. Heute kommt einem das alles aufregend und glamourös vor, aber damals wusste nur eine Handvoll Menschen, welche Rolle wir im großen Ganzen spielten. Die militärische Leitung, wie General Groves und Colonel Nichols, sah das größere Bild, genau wie die leitenden Wissenschaftler wie Oppenheimer, Fermi und Lawrence, obwohl die drei nie hier gelebt haben, sie sind nur ab und zu mal über Oak Ridge hereingebrochen wie Staatsoberhäupter auf Besuch. Von den hunderten von Wissenschaftlern in Oak Ridge war Novak einer der wenigen, die begriffen, was das Ganze für ein riesiges, wahnwitziges Unternehmen war.

Die anderen achttausend von uns waren Arbeitsbienen, die nur ihren eigenen winzig kleinen Arbeitsbereich sahen, ohne eine Vorstellung von dem größeren Zusammenhang zu haben. Also verbrachte ich acht Stunden am Tag, sechs Tage die Woche damit, auf Zeiger zu starren und Schalter zu drehen. Andere haben fünfzig oder sechzig Stunden die Woche Beton gegossen, Erdreich planiert, Rohre verlegt oder Schweißarbeiten ausgeführt. Wenn wir nicht gearbeitet haben, haben wir Schlange gestanden: Es gab Schlangen, um bei Arbeitsantritt zu stempeln, und Schlangen, um bei Schichtende zu stempeln. Schlangen, um Lebensmittel einzukaufen – die dann manchmal ausgingen, bevor man an der Reihe war. Schlangen, um Zigaretten zu kaufen. Die Leute sahen eine Schlange und stellten sich an, auch wenn sie manchmal gar nicht wussten, wofür die Schlange war, denn wenn andere Schlange standen, musste es etwas geben, wofür es sich lohnte, Schlange zu stehen. Es war wie in dem Charlie-Chaplin-Film, wo Chaplin nur noch ein menschliches Zahnrad an einem riesigen Fließband ist.

Man sollte denken, nach so viel Plackerei wären wir erschöpft gewesen und hätten nur noch ins Bett gewollt, doch das waren wir nicht. Bei mir staute sich jeden Tag, an dem ich auf diese beiden Anzeigen starrte, eine Menge Energie auf, wie statische Energie. Die Langeweile brachte mich fast um, doch am Ende der Schicht wachte etwas in mir auf, und dann war ich bereit, die halbe Nacht aufzubleiben. Und tausende von anderen überdrehten jungen Leuten blieben nur allzu gern mit mir auf.

Die Kulturhalle lag in der Mitte des damaligen Townsite – am jetzigen Jackson Square, zwei Blocks unterhalb der Kapelle auf dem Hügel. In unmittelbarer Umgebung der Kulturhalle befanden sich ungefähr ein Dutzend Wohnheime, und in jedem Wohnheim wohnten hunderte von jungen Männern und Frauen, die meisten alleinstehend. Also war die Kulturhalle jeden Abend gerammelt voll, die ganze Nacht. Um Mitternacht herum, wenn den Arbeitern der Frühschicht allmählich die Puste ausging, stempelten die Arbeiter der Spätschicht aus und strömten in die Kulturhalle und blieben bis zur Morgendämmerung, und gerade wenn sie hinaustaumelten, um sich eine Mütze voll Schlaf zu holen, kamen die von der Nachtschicht herein. Am Wochenende war es auf der Tanzfläche meist so voll, dass man sich kaum rühren konnte.

Eines Abends im Frühling 1944 gingen meine Zimmergenossin Roxanne und ich hin, um auf Glenn Miller ein bisschen Jitterbug zu tanzen, doch stattdessen saß ein Mann am Klavier und sang. Er sah kultiviert aus und älter – fünfundzwanzig, vielleicht sogar schon dreißig, können Sie sich das vorstellen? Heutzutage ist Oak Ridge voller steinalter Fossile wie mir, aber damals waren hier fast alle unter dreißig. Bauarbeiter mussten jung und stark sein, um die harte körperliche Arbeit zu bewältigen, und die Wissenschaftler mussten im Geiste jung und beweglich sein. Ich war zwanzig, die meisten jungen Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete, hatten gerade mal die Highschool abgeschlossen.

Roxanne und ich gingen nach vorne durch, doch das hat eine Weile gedauert, denn wir mussten uns an unendlich vielen Männern vorbeischieben, und die Männer machten es uns nicht gerade leicht, uns an ihnen vorbeizuzwängen. Oak Ridge erinnerte Anfang der 40er-Jahre an eine Goldgräberstadt im neunzehnten Jahrhundert; während des Krieges kamen hier auf eine Frau fünfzehn oder zwanzig Männer, wir hatten also keine Probleme, uns zu verabreden – manche von uns Mädels hatten sogar mehrere Verabredungen an einem Abend, mit dem Ersten um acht, mit dem Nächsten um zehn und dann noch mit einem um Mitternacht. Doch die traurige Wahrheit war die, dass Oak Ridge zwar einiges an Quantität zu bieten hatte, es aber an der Qualität mangelte. Viele Männer waren nichts als dumme Rüpel – ganz in Ordnung, wenn man ein Fundament ausheben, eine Straße planieren oder in einer dunklen Türöffnung schmusen will, doch wenn man mehr wollte, war das Verhältnis von Weizen zu Spreu etwa so niedrig wie das Verhältnis von U-23S zu U-238.

Auch aus der Nähe fand ich den Typ am Klavier ziemlich schick. Er trug Jackett und Krawatte, hatte eine runde Hornbrille und gewelltes, nach hinten gekämmtes Haar. Er sah intelligent aus, und die Musik, die er spielte, entsprach seinem Aussehen – Cole Porter. Porters Texte sind geistreich und mehrdeutig, und so, wie der Sänger die Stimme modulierte und die Augenbrauen hochzog, war klar, dass er wusste, was all die Anspielungen bedeuteten. Doch unter all dem Glanz war Porter zutiefst zynisch – wie eine Cocktailparty, die nach viel Spaß klingt, bis man mal richtig hinhört und merkt, dass unter dem Lachen und dem Eiswürfelgeklingel Zorn und Verzweiflung lauern. Nach einem halben Dutzend Liedern voller sprühendem, geistreichem Zynismus verlor ich allmählich das Interesse, doch dann stimmte er etwas Weiches, Trauriges an. Das Geschnatter der Menge um mich herum war inzwischen ein wenig lauter geworden, und die ersten Klaviertakte wurden übertönt, doch ziemlich bald hielten alle den Mund. Ich übertreibe nicht, man konnte hören, wie Leute hinten im Saal anderen »Pst!« zuzischten, um sie zum Schweigen zu bringen, damit sie das Lied hören konnten, ein wehmütiges Stück über enttäuschte Liebe mit dem Titel »Love for Sale«.

Ich sah Roxanne an, und in ihren Augen lag dasselbe bittersüße Gefühl, das ich während des Gesangs selbst verspürte. Ich richtete den Blick wieder auf den Sänger, und plötzlich begegnete er meinem Blick – noch zwei Augen, die schon für ein ganzes Leben genug Verluste gesehen hatten. »Old Love, new love, every love but true love.« Gegen Ende flüsterte er fast, und er beendete das Lied mit einem weichen Klavierschnörkel, der in die Dachsparren hinaufschwebte wie Zigarettenqualm. Bevor die Töne vollständig verklangen, stand er vom Klavierhocker auf, trat aus dem Scheinwerferlicht und tauchte in der Menschenmenge unter.

Im Saal war es einen Augenblick vollkommen still, dann jubelte und pfiff die Meute und verlangte lautstark nach mehr. Doch er kam nicht wieder, und nach einigen Augenblicken tröstete die PA-Anlage uns mit den Andrew Sisters. Ein strammer junger Mann in Unteroffiziersuniform forderte mich zum Tanz auf, und ich folgte ihm. Er grinste mich anzüglich an, um ganz sicherzugehen, dass ich mitbekam, dass er genau wie die Andrew Sisters in Stimmung war. »Mann, die Mädels können singen«, sagte er.

»Sie sind gut«, sagte ich, »aber der Kerl am Klavier – der war wirklich was Besonderes. Ob er wohl auf Tour bei der Truppe ist?«

»Der?« Der Unteroffizier schaute mich an, als wäre ich beschränkt. »Nein, der Typ arbeitet hier. Einer von den Eierköpfen. Chemiker oder so.«

In diesem Augenblick – zumindest erinnere ich mich gern, dass es in diesem Augenblick war – sah ich einen langen Finger, der dem Unteroffizier auf die Schulter klopfte. »Darf ich?« Er war es, der Sänger, und er hatte seine Worte an den Unteroffizier gerichtet, doch sein Lächeln galt mir. Der Unteroffizier wirkte verärgert, aber auch verlegen, als fürchtete er, der Typ hätte gehört, wie er ihn als Eierkopf bezeichnet hatte, oder als hätte er diese Strafe auf sich herabbeschworen, weil er ein undankbarer Zuhörer gewesen war.

Wir tanzten nur diesen einen Tanz, dann fragte er, ob er mich ins Wohnheim begleiten dürfe. Es waren nur zwei Blocks, doch das reichte mir, um die Sache für mich zu klären. In einem Punkt hatte der Unteroffizier recht gehabt, Novak war Wissenschaftler. Doch in einem anderen Punkt hatte er sich getäuscht – Novak war kein Eierkopf, er war witzig und selbstironisch und eine seltsame Mischung aus Selbstvertrauen und Demut. Er war ein außergewöhnliches Talent und hatte einen Doktortitel in Chemie und in Physik, doch er war überraschend bescheiden. Ich dachte, ich hätte den Jackpot gewonnen, Bill.

Sechs Wochen später wurden wir in der Kapelle auf dem Hügel getraut. Wir heirateten an demselben Ort, wo Sie und ich gestern seine Asche gesehen haben.

Ich zog vom Wohnheim in das Haus auf dem Hügel, das Novak als leitendem Wissenschaftler zustand. »Snob-Hügel« nannten ihn alle, selbst diejenigen von uns, die das Glück hatten, dort zu wohnen, denn wir wussten, dass wir es nicht unbedingt verdient hatten, so viel angenehmer zu leben als die Leute unten im Tal. Der Unterschied zwischen dem Hügel und dem Tal war unglaublich – unten zwischen den Wohnheimen, Trailern und Baracken war kein Baum und kein Strauch und nur hier und da mal ein Stück Rasen. Bei nassem Wetter war der Talboden eine einzige Matschgrube, in der die Autos bis zu den Achsen versanken, und wenn man irgendwohin musste, wo es keine erhöhten Bürgersteige gab, sank man so tief ein, dass einem die Schuhe förmlich von den Füßen gesaugt wurden. In heißen, trockenen Perioden war es, als würde man in der Dust Bowl leben – in jedem Winkel und in jeder Ritze war Staub, und wenn man nicht durch ein Taschentuch atmete, hatte man das Gefühl zu ersticken, und das Gesicht war mit rotem Staub überzogen, durch den der Schweiß seine Streifen zog. Oben auf Snob Hill gab es richtige Straßen und hübsche Gärten, und Kriminalität existierte praktisch nicht.

Glücklich bis ans Ende ihrer Tage, richtig?

Nur dass es bei uns nicht so war.

Aber das ist eine andere Geschichte, Bill. Eine andere Geschichte für einen anderen Tag.