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Den ganzen nächsten Vormittag und den größten Teil des Nachmittags war ich mit Miranda und Carmen im Krankenhaus. Ein Handchirurg entfernte Garcia an der rechten Hand drei Finger und amputierte die linke Hand ganz, denn unterhalb des Handgelenks war alles abgestorben. Die Chancen stünden gut, versicherte der Chirurg Carmen, dass Garcia eines Tages mit Hilfe ausgeklügelter Prothesen und intensiver Rehabilitation wieder arbeiten konnte. Was der Chirurg nicht sagte, war, dass Garcia auch immer noch an einer unkontrollierten Infektion oder an inneren Blutungen sterben konnte.
Mirandas Fingerspitzen zeigten, Gott sei Dank, erste Anzeichen dafür, dass sie heilten. Sie hatte an der Spitze des Daumens und der ersten beiden Finger Gewebe verloren, doch Sorensen war zuversichtlich, dass sie wenig oder gar keine dauerhaften Narben zurückbehalten würde. Unter den gegebenen Umständen kam sie noch relativ ungeschoren davon. Miranda hatte Carmen zum Krankenhaus gefahren, und sobald Garcia wieder in seinem Isolierraum war, immer noch sediert, brachte Miranda sie nach Hause.
Das Licht schwand, und ein kalter, unbarmherziger Regen hatte eingesetzt, als ich in Oak Ridge vor der Stadtbücherei parkte. Thornton hatte auf meiner Voicemail eine Nachricht hinterlassen, während ich im Krankenhaus gewesen war und das Handy ausgeschaltet hatte. Sie hatten einen Verdächtigen für den Diebstahl des Isotopenarbeitsgeräts identifiziert – einen Einwanderer japanischer Abstammung namens Arakawa –, doch er war gestorben, bevor die FBI-Beamten ihn befragen konnten. Er war, lautete die Nachricht, an Strahlenvergiftung gestorben.
Ich öffnete meine Aktentasche und holte den großen wattierten Umschlag heraus, den Miranda mir gegeben hatte, kurz bevor ich nach Oak Ridge aufgebrochen war, und starrte wieder darauf. Auf einer gelben Haftnotiz, die außen klebte, stand in Mirandas Handschrift: »Die einzige Doktorandin namens Isabella, die je eine Arbeit über Oak Ridge geschrieben hat.« Der Umschlag selbst war vom bibliotheksinternen Fernleihdienst der University of Tennessee, und darin war eine gebundene Kopie einer Magisterarbeit vom historischen Institut der Tulane University. »Die Rolle nationaler Mythen bei der Legitimation von Massenmord« lautete der Titel und »Von Oak Ridge nach Nagasaki« der Untertitel. Die Verfasserin der Arbeit war eine gewisse Isabella Arakawa, M. A.
Die Gedanken in meinem Hirn streunten in Richtungen, die mir sehr unangenehm waren. Eine nach der anderen schienen die Billardkugeln des Schicksals in Eck- und Mitteltaschen zu fallen, die dunkel waren und bodenlos. Doch am hinteren Ende des Parkplatzes entdeckte ich Isabellas Prius, und das gab mir ein wenig Hoffnung. Ich fuhr daneben und parkte.
Ich huschte gerade tropfend unter den schützenden Überstand über der Eingangstür der Bücherei, als jemand vom Personal die Tür abschließen wollte. Es war die grauhaarige Frau, die mich vor einigen Tagen so argwöhnisch gemustert hatte. »Sie haben wohl die Neuigkeit gehört«, sagte sie mit einem mitfühlenden Lächeln. »Sie ist sehr traurig. Sie hat ihrem Vater wohl sehr nahe gestanden.« Die Frau hielt mir die Tür auf und klopfte mir auf die Schulter, als ich eintrat. Die Stadtbücherei, normalerweise hell erleuchtet und voller Menschen, lag still im Halbdunkel, beleuchtet nur von vereinzelten Leuchtstoffröhren.
Sie war nicht an ihrem Tisch. Ich wandte mich nach links und sah im Oak-Ridge-Raum nach, doch dort war alles dunkel. Wasser tropfte von meinem Mantel und meiner Hose auf den blauen Teppich, während ich verzweifelt bemüht war, die Puzzlestücke irgendwie anders zusammenzusetzen.
Eine leichte Bewegung fiel mir ins Auge. Irgendetwas – irgendjemand – war hinter den Glaswänden in dem dunklen Oak-Ridge-Raum. Es war Isabella, sie fummelte am Tisch an einer Tasche herum. »Isabella«, rief ich. Ich lief zur Tür und zog daran, doch sie war verschlossen. Sie wirbelte herum und sah mich an, und selbst in dem trüben Licht konnte ich die Wildheit in ihrem Blick erkennen.
»Isabella, mach die Tür auf«, sagte ich und klopfte mit einem Fingerknöchel an die Scheibe, dann schlug ich mit der Faust dagegen. Sie sah mich an, doch sie sah auch durch mich hindurch, über mich hinaus. So einen entrückten Blick hatte ich schon in vielen Varianten gesehen. Eine davon in den gehetzten Augen von Robert Oppenheimer, eine andere im leeren Starren von Jonah Jamison. Ohne den Blick von mir zu wenden, griff sie in ihre Tasche und holte eine Waffe heraus. Sie hob sie, richtete sie zuerst auf mich und dann auf sich selbst. »Nein!« Ich riss mit beiden Händen am Türgriff. Die Glastür schepperte und knallte gegen das Schloss, und dann brach der Griff ab, und ich stolperte rückwärts. Sie schloss die Augen und drückte den Lauf gegen ihre Schläfe.
»Nein!«, schrie ich noch einmal. Ich war gegen einen Tisch gestürzt und hatte mich im Sturz mit einer Hand an der Rückenlehne eines kantigen Holzstuhls festgehalten. Ich packte den Stuhl, hob ihn über den Kopf und warf ihn in die Scheibe. Die Luft schien zu explodieren, als der Glasvorhang zersprang und zu Boden fiel. Ich hörte einen Schrei, und ich wusste nicht, ob er von ihr kam, von mir oder von uns beiden. Als der Glasregen versiegte, erwartete ich, sie ebenfalls am Boden vorzufinden – blutige Fetzen auf dem Boden, eine Kugel im Kopf-, doch sie stand noch da, erstarrt, wie betäubt. Sie hatte die Arme vor dem Gesicht verschränkt, Glassplitter glitzerten in ihrem dunklen Haar.
Ich sprang durch eine Wand, die nicht mehr da war. Mit einer Hand packte ich die Waffe, mit der anderen ihr Handgelenk. Sie schrie auf, als ich ihre Finger aufbog und ihr die Waffe entriss. In dem Schrei lag Entsetzen, aber auch Schmerz – der körperliche, primitive Schmerz eines verletzten Tieres. Ich sah auf ihre Hand, und es war, als hätte ich es mit einer viel schlimmeren Version von Mirandas Hand zu tun. Ihre Fingerspitzen waren raue, nässende Wunden. »Oh, mein Gott, Isabella«, stöhnte ich und starrte auf ihre Hände und all die schrecklichen Dinge, die sie mir verrieten. »Was hast du getan?«
Tränen rollten ihr übers Gesicht, als würden zerschlagenes Glas und zerstörte Leben in einem Scherbenregen aus ihr herausquellen. »Ich wollte nicht so viele Menschen verletzen«, sagte sie. »Nicht Dr. Garcia. Nicht Miranda. Am allerwenigsten dich. Bitte, das musst du mir glauben. Nur Novak – sein Leben für das Leben meiner Großmutter. Meine Großmutter und all die anderen Großmütter und Großväter und Eltern und Kinder von Nagasaki. Er war der Einzige, dem ich etwas antun wollte. Ich dachte, ich kriegte es sauber hin.«
»Sauber? Was um alles in der Welt bedeutet dieses Wort dir?« Ich versuchte das, was sie gerade gesagt hatte, mit dem in Einklang zu bringen, was sie getan hatte. Wie konnte die Trauer um eine Großmutter, die sie gar nicht gekannt hatte, sie zur Mörderin eines alten Mannes werden lassen, der einst ein Zahnrad gewesen war – ein entscheidendes Zahnrad zwar, aber trotzdem nur ein Zahnrad – in der Maschinerie des Manhattan-Projekts? Wie konnte der Verlust einer Vorfahrin diese gescheite, sensible Frau so aus dem Gleichgewicht bringen?
»Es war zu gewaltig für mich, es hat sich verselbstständigt«, sagte sie. »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte aus dieser ganzen Geschichte mehr lernen müssen.« Sie griff sich in den Nacken. »Hier«, sagte sie, »ich will, dass du es bekommst.« Sie zuckte zusammen, als sie an der Schließe herumfummelte, und wimmerte, und dieses Wimmern – ganz anders als das Wimmern des Verlangens, das ich einst aus ihrem Mund gehört hatte – war schier unerträglich. Sie zog den silbernen Anhänger unter ihrer Bluse heraus und hielt ihn mir hin, sodass er zwischen uns baumelte. »Es ist das japanische Symbol für ›Erinnerung‹«, sagte sie. »Ich habe ihn vor zehn Jahren anfertigen lassen«, sagte sie, »als ich beschloss, Leonard Novak umzubringen. In zehn Jahren habe ich ihn kein einziges Mal abgelegt, außer in der Nacht mit dir. Jetzt lege ich ihn für immer ab.« Sie weinte jetzt heftiger, und ich spürte auch auf meinem Gesicht Tränen. »Meine Mutter ist vor langer Zeit gestorben. Mein Vater ist jetzt auch tot. Und ich bin ein wandelnder Geist.«
Sie streckte den Arm noch weiter aus, um mir den Anhänger darzubieten. Ich wollte ihn nehmen, doch kurz bevor meine Hand sich darum schloss, fiel er zu Boden. Ich machte einen Satz, um ihn aufzufangen, und in diesem Augenblick schoss sie an mir vorbei und sprang über den Wall aus Scherben in den Hauptlesesaal. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie sie zwischen den dunklen Regalreihen verschwand. Ich folgte ihr, lief von Reihe zu Reihe, von Gang zu Gang, doch nirgends eine Spur von ihr. Dann hörte ich Schritte im Eingangsbereich und aus der Ferne das dumpfe Zuschlagen einer Tür. Ich lief hinter ihr her, hinaus in die Dämmerung, platschte durch die Pfützen und Lachen, die sich auf dem Gehweg und dem Parkplatz gebildet hatten.
Als sie den Prius erreichte, holte ich schon auf. Fünfzig Meter, vierzig, dreißig. Sie fummelte mit dem Schlüssel herum, und ich glaubte, einen weiteren schmerzvollen Schrei zu hören, und sah, dass ihr der Schlüssel herunterfiel. Sie zögerte, dann drehte sie sich um und lief wieder los – vom Parkplatz quer über die nasse Rasenfläche des Parks hinter der Bücherei. Halb hastend, halb rutschend, warf sie sich eine Böschung hinunter in den kleinen Bach, der den Park in zwei Teile teilte.
Ich konnte nur noch staunend zusehen, wie Isabella verschwand; da, wo sie eben noch gewesen war, blieb ein schwarzes, leeres Loch und rauschendes Wasser zurück. Sie war in das Ende eines riesigen Rohrs gekrochen, das nur der Auslass des städtischen Abwasserkanalsystems sein konnte.
Isabella war in einem unterirdischen Labyrinth verschwunden, einem Labyrinth das im Jahr 1943 unter den Grundmauern der Geheimen Stadt errichtet worden war.